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Оглавление3 – Alarm
Neues Wissen entsteht oft aus dem Studium bekannten Wissens. So werden Antworten in den Fragen gefunden, die durch die Beobachtung neuer und unbekannter Phänomene entstehen.
Es ist eine Verpflichtung, zukünftigen Generationen den Zugang zum Wissen der derzeitigen Generation zu ermöglichen und dieses Wissen zu pflegen und zu mehren.
Wissen beinhaltet immer auch Verantwortung. Es wird eine Heilige Aufgabe sein, das Wissen der Vergangenheit zu bewahren.
Aus den Chroniken
Das Schrillen des Alarms und die flackernden Lichter auf den Anzeigen rissen Dor’El aus ihren Gedanken.
Dor’El war zu keiner gezielten Bewegung in der Lage. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Anzeigen. Der Alarm schrillte in ihren Ohren und unterdrückte jede Bewegung und jeden weiteren Gedanken.
Das Aufschlagen der Tür und ihre Bewegung zum Aus-Schalter geschahen beinahe gleichzeitig. Der CMTech stand mit offenem Kittel in der Tür und starrte an ihr vorbei – zum Fenster.
Auch Dor’El drehte den Kopf und sah sofort, dass die Frau die Hand zur Faust geballt hatte.
Alle Anzeigen pulsten in wilden Mustern. Blinkende Lichter, die die Vitalfunktionen anzeigten, überboten sich in einem Feuerwerk, welches Dor’El noch nie gesehen hatte.
Der Raum füllte sich mit Leuten.
Dor’El kannte viele davon nur flüchtig. Aber sogar Bor’sha war darunter. Ihrer Erscheinung nach, war sie geradewegs aus dem Schlaf gerissen worden und trotz des Schrecks belustigte sich Dor’El an der eigenartigen Fußbekleidung von Bor’sha: Sie hatte ihre Kollegin noch nie in solchen alten Sandalen gesehen.
„Ruhe jetzt!“ Der CMTech versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen.
Fast schon mechanisch reichte Dor’El ihm das Log.
„Sie hatte also Recht.“ – hörte Dor’El ihn murmeln. „Woher wusste sie das?“
Dor’El konnte sich keinen Reim darauf machen, wen der CMTech meinte, aber er war der CMTech und Dor’El konnte ihn nicht einfach danach fragen.
Obwohl er ein Mann war, hatte er hier das Kommando und natürlich würde sie noch alles erfahren, was sie wissen müsste. Dor’El bemerkte allerdings, dass es sie irgendwie störte, nicht über alles informiert zu sein.
Dennoch versuchte sie, sich jetzt noch zurück zu halten und drehte sich wieder zum Fenster um.
Die anderen MTech drängten sich am Fenster und Dor’El gelang nur ein kurzer Blick zwischen ihnen hindurch. Doch der kurze Blick reichte ihr für eine überraschende Entdeckung. Die Frau hatte die Hand zur Faust geballt. Kein Zweifel.
Alle Anzeigen pulsten. Sie lebte. Ja selbstverständlich lebte sie. Warum also der Alarm?
Dor’El wunderte sich wieder über ihre eigenen Gedanken.
Man hatte ihr beigebracht, die Anzeigen zu lesen. Sie war jedoch immer davon ausgegangen, dass die Anzeigen bisher nur deshalb so wenige und so geringe Werte anzeigten, da die Frau in Stasis lag und hatte diesen Zustand als Normalität angenommen.
Das hatte sich jetzt wohl geändert: sie war offenbar erwacht. Erwacht?
Wieder strich sich Dor’El über den Kopf und blickte sich um.
Andere MTech drängten in den Raum. Einige betrachteten die Anzeigen, andere drängelten sich zum Fenster durch.
Es wurde langsam unangenehm voll im Raum.
Der CMTech hatte das Log beiseitegelegt und trat neben sie.
„Hmm?“, entfuhr es ihr.
„Was, …?“ Der CMTech schien aus tiefen Gedanken zu erwachen. Er hob den Kopf.
„Äh. Alle raus! Raus, bis auf die diensthabende MTech!“ Eine klare Aussage. „RAUS! Los, alle raus! RAUS!“
Das war eindeutig und klar zu verstehen, trotz des allgemeinen Trubels.
Der Raum leerte sich wieder, aber die Tür blieb halb offen, da der CMTech sie bei seinem Eintreffen so schnell aufgerissen hatte, dass sie aus den Laufschienen gebrochen war.
Dor’El stand verwirrt mitten im Raum und war sich unsicher, was sie tun sollte.
Der CMTech stand, auf das Pult gestützt, vor dem Fenster. Seine Stirn berührte fast die Scheibe.
Einige Clicks lang herrschte absolute Stille im Raum. Nur die rhythmischen Signale der Überwachungseinheiten zirpten ihren Chor.
Dor’Els Blicke wanderten über die Anzeigen, die sich immer mehr denjenigen Werten näherten, die sie auch von anderen Patienten aus der Bildung her kannte. Normalwerte.
Sie begann, die Werte anhand der ihr bekannten Parameter zu vergleichen. Keine Frage: die Frau begann, aufzuwachen, denn die Werte stiegen stetig an.
„Aufwachen“, was für ein Begriff für das, was hier gerade geschehen war. Wieso aufwachen? Die Frau hatte geschlafen? So lange geschlafen?
Wie lange genau?
Egal: Es war aber nicht zu übersehen. Hatte die Frau geschlafen oder sich in Stasis befunden, wachte sie jetzt auf. Alles deutete darauf hin.
Für Dor’El war die Tätigkeit hier zunächst eine Routine, die gemacht werden musste. Sie hatte nie den Drang verspürt, etwas zu hinterfragen. Ihre Aufgabe war es, die Werte zu überwachen und alles im Log einzutragen. Bisher hatte sie angenommen, dass die angezeigten Werte für die hier liegende Frau als „Normalzustand“ anzusehen waren, auch wenn die üblichen Lebenszeichen weit unter denen lagen, die sie in der Bildung als Norm gelernt hatte. Erst kürzlich war in ihr ein besonderes Interesse an der Frau erwacht. Sie war sich sicher, dass das nur ihr so ging und um nicht aufzufallen, verbarg sie ihre Neugier gegenüber allen anderen in der Klinik.
Bor’sha hatte sogar einmal den Verdacht geäußert, dies wäre gar keine lebende Person, sondern nur eine Puppe und nur deshalb hier, damit sie eine Aufgabe hätten. Vielleicht als Teil einer weiteren Bildung.
Dor’El hatte sich seinerzeit nicht dazu geäußert. Etwas infrage zu stellen, war unüblich für eine MTech. Das hatte sich jetzt alles geändert. Der Beweis lag auf der anderen Seite der Scheibe.
Sie wachte auf.
Der CMTech schüttelte den Kopf und sofort wandte Dor’El sich wieder ihm zu. Er war zwar ein Mann, aber dennoch der CMTech in diesem Bereich der Klinik.
„Äh, ja?”
Dor’El blickte ihn erwartungsvoll an.
„Ich, … wir … klären erst einmal, …“ Der CMTech schien sichtlich verwirrt und suchte nach Worten. Dor’El fragte sich plötzlich, ob Männer grundsätzlich mit derartigen Situationen … Nein. Derartige Gedanken waren gefährlich. Zu schnell könnte sie sich daran gewöhnen - und was noch schlimmer wäre - es versehentlich aussprechen.
Verstöße gegen die im Kodex festgelegten Ethnologie-Grundsätze waren ein schwerer Verstoß. Es sollte schon Fälle von Verhaftungen wegen derartiger Äußerungen gegeben haben. Nein, Dor’El verdrängte schnell alle Gedanken an geschlechtsspezifische Unterschiede (wie kam sie jetzt nur dazu, an so etwas zu denken?) und hob nur den Kopf – „Ja?”
„Schon gut. Machen wir weiter.” Der CMTech schien sich jetzt gefasst zu haben. Er legte das Log auf den Tisch und drehte sich um.
Mit einem „Ich melde mich.” - rauschte er aus dem Raum.
Das war aber nicht das, was Dor’El erwartet hatte oder was ihr jetzt half, die Verwirrung zu bewältigen, aber das war alles, was sie vom CMTech als Anweisung erhielt. Also riss sie sich zusammen und ließ sich wieder auf den Beobachtungssitz nieder.
Sie hatte tatsächlich kurz daran gedacht, dass der CMTech seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Ängstlich ging ihr Blick zur Tür, als erwartete sie, für diesen Gedanken sofort bestraft zu werden. Warum dachte sie jetzt so etwas?
Eine Zeit lang saß sie so da, dann nahm sie das Log wieder in die Hand und trug die Messwerte der Anzeigen ein.
Den Rest der Schicht verbrachte Dor’El wieder allein. Bis auf die höhere Aktivität der Anzeigen und die schräg in der Öffnung hängende Tür, fast ein Tag, wie jeder andere. Ein Tag, der jedoch eine Besonderheit aufwies, über die Dor’El immer wieder nachsann.
Sie war erwacht.
Bor’sha übernahm die Schicht. Wie immer ohne große Fragen oder ein wirkliches Interesse am Übergabebericht, trotz des Alarms und des Aufruhrs. Wie immer flog das Log unbeachtet in die Ecke. Wie immer erlosch ihr Interesse an Dor’Els Anwesenheit innerhalb weniger Cents und so machte sich Dor’El auf den Weg zu ihrer Unterkunft, als wäre nichts geschehen.
Sie nahm die anderen MTech auf dem Gang kaum wahr. Es war etwas geschehen. Nicht nur die Fremde, auch Dor’El war erwacht.
※
SCHMERZ.
Er pulste.
Sie stöhnte innerlich, akzeptierte den Schmerz aber als Zeichen, am Leben zu sein. Als Zeichen, dass sie einen Körper hatte, in dieser Dunkelheit. Als Zeichen, dass Zeit verging und als Möglichkeit der Orientierung.
Was war die letzte Aktion?
Körperspannung.
Sie hatte versucht, sich zu bewegen.
Sie musste unbedingt die Augen öffnen, sofern dies der Grund für die Dunkelheit war.
Sie musste sich orientieren.
Nur so konnte sie herausfinden, in welcher Lage sie sich befand und wie sie daraus entkommen könnte.
Entkommen?
Wohin?
Wo bin ich?
Wer bin ich?
Sie kramte in ihrem Gedächtnis, aber da war nicht viel.
Sie konnte sich lediglich an die letzten Aktionen erinnern: Sie begann damit, ihren Körper zu erforschen. Vermutlich war sie unbeschädigt, aber für eine genaue Analyse war es natürlich noch zu früh.
Sie versuchte, den Kopf zu heben.
SCHMERZ.
Dunkelheit.
※
Die Tage wechselten sich ab.
Bor’sha schien sich der Veränderung kaum bewusst zu sein, jedenfalls kam es Dor’El so vor. Vermutlich ignorierte sie auch nur jede Art von Veränderung.
Der CMTech ließ sich auch nur selten blicken und Dor’El hatte den Eindruck, dass er nicht nur ihre Anwesenheit mied, sondern auch die der anderen MTech.
Obwohl es deutlich gegen den Kodex verstieß, führte der CMTech während Dor’Els Schichten keine Visiten mehr durch. Dor’El hütete sich davor, einen möglichen Verstoß gegen den Kodex zu melden, immerhin war er der CMTech. Er würde schon wissen, was er tat und vermutlich hatte er einen anderen Auftrag. Dennoch kam es ihr seltsam vor.
Die Frau schien jetzt zu schlafen. Jedenfalls hatten sich alle Anzeigen etwas beruhigt, wenngleich sie auch noch nicht denen glichen, die Dor’El erwartet hatte. Die Messbereiche hatten sich etwas nach oben verändert. Ab und zu gab es mal einen größeren Ausschlag, aber sonst war alles ruhig.
Dor’El hatte sich außerhalb der Schicht in einen anderen Bereich der Klinik geschlichen und unter dem Vorwand, einen Auftrag für einen notwendigen Datenabgleich zu haben, einen raschen Blick in das Log eines anderen Patienten geworfen.
Die diensthabende MTech hatte weder besonders interessiert, noch argwöhnisch reagiert, aber Dor’El kam sich vor, als würde sie gegen den Kodex der Älteren verstoßen, was vermutlich ja auch der Fall war und sie hoffte, dass es niemandem auffallen würde. Ein seltsames Gefühl.
Das Log unterschied sich jedoch im Aufbau derart von dem bei ihrem Patienten, dass sie so schnell kaum etwas erkennen konnte, was ihr geholfen hätte.
Einen solchen Beobachtungsraum, wie den, in dem sie ihren Dienst versah, gab es offenbar auch in keinem anderen Raum der Klinik. Die anderen Räume waren alle ähnlich, aber zu ihrem vollkommen anders: Immer ein Bett, um das man herum gehen konnte und viel weniger Anzeigen und Kontrollen an den Wänden.
Das allein schon reichte, um Dor’El Angst zu machen. Nie zuvor hätte sie es gewagt, vom direkten Weg zwischen dem Beobachtungsraum und ihrer Unterkunft abzuweichen. Jetzt aber kam sie auf Gedanken, die sie zutiefst erschreckten: Was war der Grund für ihre derzeitigen Gedanken und Aktivitäten? Warum gab es nur bei ihr einen solchen Beobachtungsraum mit einer trennenden Scheibe? War diese Frage überhaupt zulässig? Es war verwirrend und machte ihr große Angst.
Sie nutzte dennoch jede Gelegenheit, um in andere Bereiche der Klinik auch nur flüchtige Blicke zu werfen und erwischte sich immer wieder dabei, dies gleichzeitig als gefährliches Fehlverhalten zu verzeichnen, wodurch sie jeden ihrer Schritte vorsichtig plante, doch es fiel ihr auf, dass niemand außer ihr daran Anstoß nahm. Niemand schien sie zu bemerken, wenn sie ihren Weg zum Schichtwechsel durch die anderen Bereiche der Klinik verlegte.
So stieg ihr Mut von Tag zu Tag.
Sie hatte sich früher auch stundenlang vor das Beobachtungsfenster gesetzt, aber jetzt keimte ein besonderes Interesse in ihr auf, die auf der anderen Seite liegende Frau ganz genau zu beobachten.
Ja, sie interessierte sich auch zunehmend für die sich immer mehr verändernden Anzeigen, trug alles ins Log ein und wunderte sich darüber, dass es Bor’sha vollkommen egal zu sein schien, wie sich alles veränderte.
Ein rotes Licht blinkte auf einem der Anzeigepanels.
Nur ein Licht, kein akustischer Alarm.
Mehr rote Lichter.
Kein Alarm.
Dor’El schwang sich zur Konsole herum.
Vor Überraschung weiteten sich ihre Augen. Viele Anzeigen hatten die Grenze der Maximalwerte beinahe erreicht und einige von ihnen standen sogar auf dem Maximum, aber außer den sich zunehmend vermehrenden roten Lichtern, gab es keine Meldung. Sie verharrte eine Weile in stummer Beobachtung, aber kein akustischer Alarm ertönte und auch der CMTech stürmte nicht in den Raum.
Sie suchte auf der Konsole herum und fand den Grund dafür: in der großen Aufregung vor einigen Tagen, hatte der CMTech den Alarm wohl komplett abgeschaltet, ihn aber nicht wieder aktiviert. Das war niemandem bisher aufgefallen und daher blieb es jetzt ruhig.
Dor’Els Herzklopfen synchronisierte sich mit dem Flackern der Alarmanzeigen, und sie spürte eine Spannung in sich aufsteigen, da sie jetzt allein Zeugin der Ereignisse bleiben würde, wenn niemand der anderen MTech in der Klinik davon erfuhr.
Dann blieb ihr beinahe das Herz stehen. Sie hatte sich wieder zum Fenster gedreht und blickte direkt in das Gesicht der Frau im Nebenraum.
Ja. Die schlafende Frau hatte den Kopf gedreht und es schien, als blickten sie sich beide direkt an. Sie hatte jedoch die Augen geschlossen, aber für Dor’El fühlte es sich dennoch so an, als ginge der Blick der Frau direkt durch sie hindurch.
Einige Herzschläge lang verharrte Dor’El in einer etwas unbequemen Haltung und als sie versuchte, sich wieder normal hinzusetzen, wäre sie beinahe komplett vom Stuhl gefallen.
Die Frau hatte nicht nur den Kopf gedreht, sondern auch die Hand lag wieder flach auf dem Tisch. Das alles war mit Zufall oder Reflexen nicht mehr zu erklären.
Dor’El bestätigte die angezeigten Sensoralarme und bald veränderte sich das rote Lichtermeer in ein Feld aus gelben, orangenen und grünen Lichtern.
„Unerklärliche Reflexe, Fehlalarm, keine weiteren Befunde” hatte der CMTech ins Log eingetragen, als damals der Alarm los gegangen war. Jetzt war sich Dor’El ganz sicher, dass das nicht stimmen konnte: die Frau bewegte sich. Der CMTech hatte keine korrekten Einträge hinterlassen und ließ jetzt sogar die Visiten ausfallen. Hoffte er, dass sie das nicht merken würde?
Bor’sha, da war sich Dor’El sicher, hatte jedenfalls nichts bemerkt. Sie jedoch wurde immer aufmerksamer und alles kam ihr immer merkwürdiger vor.
Was war mit der Frau los? Sie schlief und erwachte? Sie bewegte sich? Das war mehr als nur ein Reflex, das war gezielt. Was käme wohl als nächstes?
※
Schmerz.
Verschwommene Eindrücke.
Sie fühlte eine harte Oberfläche.
Mühsam konzentrierte sie sich darauf, ihrem Körper Befehle zu erteilen. Bewegung. Wahrnehmung. Verarbeiten sensorischer Eindrücke.
Definition und Unterscheidung haptischer, akustischer und optischer Reize.
Sie war sich sicher, ein Oben und Unten unterscheiden zu können und verband dies mit dem Eindruck, flach auf einer harten Oberfläche zu liegen. Damit erhielt sie eine erste Orientierung im Raum und begann damit, ihre Beobachtung über ihre Körperwahrnehmung zu erweitern.
Über einen Oberkörper war sie sich sicher und sie konnte vermehrt spüren, dass ihr Rücken in einen Unterkörper münden musste.
Warum auch nicht?
Sie spannte ihren Rücken an und genoss einen bestätigenden Schmerz, der ihr signalisierte, dass sie noch lebte und die Kontrolle über ihre Körperfunktionen zurückerlangte.
Selbstbewusst öffnete sie die noch immer zur Faust geballten Finger und senkte die Hand, um sie auf der Oberfläche, auf der sie offenbar flach lag, abzustützen.
Mit großer Konzentration und Anstrengung stellte sie sich ihre Position im Raum vor und versuchte, sensorische Informationen zu erhalten, doch da war nichts – nur diese Dunkelheit.
Sie kämpfte mit ihren Muskeln und Nerven und zwang sich dazu, den Kopf auf die Seite zu drehen.
Mit einem Mal spürte sie, dass sich eine Übelkeit in ihr auszubreiten begann. Dennoch empfand sie es dankbar als Bestätigung, dass die von ihr beabsichtigte Bewegung ein Erfolg gewesen war, denn sie hatte auf der einen Kopfseite plötzlich einen anderen Eindruck.
Hörte sie etwas in der Dunkelheit?
Dunkelheit. Stille.
Die Dunkelheit war jetzt nicht mehr ganz so undurchdringlich, wie zuvor.
Sie konzentrierte sich.
Es kam ihr vor, als wäre die Dunkelheit einem schemenhaften Grau gewichen. Auf der einen Seite heller, als auf der anderen.
Sie fühlte sich erschöpft und kämpfte gegen das Gefühl, wieder in diese Dunkelheit abzudriften.
Nein, sie wollte mehr von ihrer Umgebung erfahren. Jetzt musste sie aber erst einmal wieder etwas Kraft sammeln, und einen nächsten Schritt planen: Die Augen öffnen. Versuchen, mehr über die Umgebung zu erfahren, in der sie sich befand.
Die Dunkelheit umfing sie wieder. Sie ließ sich hineinsinken, dankbar, diesmal keinen stechenden Schmerz zu spüren.
※
Dor’El befreite sich aus der Schockstarre. Zum ersten Mal konnte sie das Gesicht der Frau genauer betrachten. Sanft geschwungene Augenbrauen, eine kleine Nase, sanft betonte Wangenknochen, einen wohlproportionierten Mund mit leicht geröteten Lippen in einem halbrunden Gesicht. Kurz gesagt: eine sehr angenehme Erscheinung. Fast schon eine Schönheit.
„Eine Schönheit?“ Woher hatte sie diesen Begriff? Dor’El musste sich auf den Beobachtungssitz fallen lassen. Seit wann beurteilten MTech ihre Patienten in diesen Begriffen? Seit wann empfand sie so etwas wie Schönheit? Der Begriff war ihr seltsam fremd, aber er traf zu. Schönheit und Freude. Ja, das war es, was ihr in den Sinn kam, wenn sie die Frau betrachtete.
„Hübsche“ hatte Bor’sha gesagt, aber da hatte Dor’El noch nichts dabei empfunden. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr sicher, was sie darüber denken sollte.
So etwas hatte sie so noch nie verspürt. Was war los? War sie krank? Sie fühlte sich nicht krank. Sie fühlte sich gut. Dor’El beschloss, darüber doch mit dem CMTech zu sprechen. Vielleicht war sie doch zu lange allein mit der Frau gewesen?
Jetzt jedenfalls versuchte sie, sich wieder zu entspannen und nahm sich ausgiebig Zeit für eine intensive Betrachtung der Frau, denn es gab für sie im Moment sonst nichts anderes zu tun und es gefiel ihr, das zu tun: Die Frau genau beobachten. Das war ja ihre Tätigkeit.
Unter den Bedingungen der vorherrschenden Beleuchtung fiel es Dor’El schwer, die Hautfarbe der Frau näher zu bestimmen. Sie hatte keine Zweifel mehr, dass es sich um eine Frau handelte. Und die Hautfarbe? War sie ein wenig dunkler, als ihre?
Dor’El stutzte. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht. Warum gerade jetzt?
Warum die Frau hier allerdings seit vielen Zyklen schlafend - da war Dor’El sich dann doch nicht ganz so sicher - gelegen hatte, entzog sich ihrer Kenntnis. Sie sann darüber nach, wie lange die Frau hier wohl schon lag. Die Logs waren dabei leider keine Hilfe.
Dor’El gefiel es, am Fenster zu stehen und die Frau zu betrachten. Ihr wurde ganz angenehm warm dabei.
„Was mit dir los?” Bor’sha stürmte in den Raum.
Dor’El schrak hoch. Wie lange hatte sie schon, die Arme auf die Fensterbrüstung gestützt? Wie lange war sie in die Betrachtung der Frau versunken? Sie hätte es nicht sagen können.
„Alles in Ordnung. Keine Vorkommnisse.” Dor’El rappelte sich hoch und versuchte, sich zu fangen. Sie suchte nach dem Log, um es korrekt zu übergeben.
„Lass ma‘. Mach ich schon.” Bor’sha war wieder mal im Normalzustand. Dor’El hingegen schlug das Herz bis in den Hals.
„Gut.” Dor’El beeilte sich, aus dem Raum heraus zu kommen und fragte sich, warum sich anscheinend niemand - außer ihr - Gedanken um diese Frau machte. Die Frau, die hier schon seit so langer Zeit lag. Als Beobachtungs-… Objekt?
Warum und wie lange diese Frau hier lag, darüber schien nur sie sich Gedanken zu machen.
In Dor’El keimte mehr als nur Mitleid auf. War es Wut? War das nicht schon wieder ein Verstoß gegen den Kodex der Älteren? Sie wusste es nicht und genau das verunsicherte sie immer mehr.
Sie nahm heute wieder einen Umweg zur Unterkunft, aber der CMTech war nicht in seinem Raum. Enttäuscht schlich sie voller betrübter, fragender Gedanken durch die Gänge in ihre Unterkunft. Doch sie fand keine Ruhe vor diesen bohrenden Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen.
Einerseits war da ihre Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber, dem Kodex der Älteren, andererseits empfand sie jetzt eine tiefe Bindung zu dieser Frau, die ja - genau betrachtet - den Mittelpunkt ihres Lebens ausmachte.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr stieg eine Verzweiflung in ihr auf. Sie fühlte sich plötzlich eingeengt und rezitierte die Lehren des Kodex, wie sie es schon in der ersten Phase ihrer Bildung gelernt hatte:
Wir sind hier.
Hier ist Sicherheit.
Nichts kann uns bedrohen.
Wir sind Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft schützt uns.
Niemand bedroht die Gemeinschaft.
Außen ist Dunkelheit.
Außen ist Unsicherheit.
Außen ist kein Leben.
Das Wissen der Älteren bewahrt uns.
Die Älteren hüten die Geheimnisse.
Jeder hat einen Platz in der Gemeinschaft.
Jeder trägt seinen Teil zur Gemeinschaft bei.
Sei Teil der Gemeinschaft.
Sei ohne Sorge.
Das hatte ihr immer sehr geholfen, wenn sie sich gefürchtet hatte. Jeder hatte irgendwann Ängste - insbesondere diejenigen, die durch ihre Bildung oder ihre Tätigkeit bis zu den Außenbezirken kamen. Es hieß, dort sei es nicht so hell, wie weiter im Inneren und lange Schatten sollte es dort geben.
Lange Schatten waren jetzt auch ihr Begleiter auf dem Weg zur Klinik und zurück. Und jeder wusste: In den Schatten war es nicht sicher.
Heute hatte Dor’El das Gefühl, als ob die Schatten sie bis in ihre Unterkunft verfolgten. Das war natürlich Einbildung und im morgendlichen oder abendlichen Gewühl in den Gängen gab es keine Schatten, aber Dor’El verspürte einen inneren Druck, den sie sich nicht anders erklären konnte. Erst mit dem Schließen der Tür zu ihrer Unterkunft fühlte sie sich etwas davon befreit.