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2 – Veränderung

Wenn wir die uns vorgegebene Autorität infrage stellen, gefährden wir die Stabilität der Ordnung, die in der Vergangenheit die Ursache für das Versagen der herrschenden Klassen war.

Nur durch das ständige Bestreben der Gemeinschaft nach Einhaltung dieser Ordnung im Gedenken an die Fehler aus der Vergangenheit ist das Überleben der Menschheit gesichert.

Die Ordnung ist im Kodex festgehalten.

Abweichungen von den darin enthaltenen Regeln gefährden die Gemeinschaft und damit das Überleben der Menschheit.

Aus den Chroniken

Zwei Tage lang war nichts passiert, aber heute … Dor’El hatte es mit zittrigen Fingern im Log vermerkt: sie atmet.

Hatte die Frau zuvor denn nicht geatmet?

Was für eine Frage. Aber sie war berechtigt, diese Frage.

Dor’El war sich dessen nicht sicher und hatte sich schon gefragt, ob es gut war, das so ins Log zu schreiben, aber bisher hatte sie alle angezeigten Werte immer ins Log eingetragen.

Sie atmet.

Ein solcher Eintrag war in den älteren Einträgen des Log nicht zu finden gewesen. Egal. Dor’El hatte diese Beobachtung jetzt gemacht und im Log verzeichnet. Alles andere wäre nicht korrekt gewesen. Also war es vollkommen berechtigt, das jetzt einzutragen.

Bei der Visite nahm der CMTech das Log, überflog die Einträge und schaute durch das Beobachtungsfenster, ohne Dor’El nur ein Wort der Aufklärung über diese Frau zu gönnen. Aber das musste der CMTech ja auch nicht. Das tat er nie.

Heute störte sich Dor’El daran. Warum gerade heute? Sollte sie ihn fragen?

Welcher MTech stand es zu, dem CMTech ungefragt selbst eine Frage zu stellen? Das war in den Vorschriften doch ganz klar festgelegt und Dor’El tat immer das, was man ihr in der Bildung beigebracht hatte: so schwieg sie und wartete. Jeden Tag. So auch heute, auch wenn es ihr heute irgendwie schwerfiel.

Der CMTech gab ihr das Log zurück und sie steckte es in die Halterung. Hatte er heute gezögert? Hatte auch er bemerkt, dass die Frau atmete? Hatte er den Eintrag im Log gesehen? Dor’El wunderte sich: Was war denn seit heute anders?

Die Klinik hatte sich nicht geändert. Die Gänge auch nicht. Ihre Schicht nicht. Ihre Pflichten nicht. Die Anzeigen schon, aber das sollte doch auch so sein – oder etwa nicht? Was war der Unterschied zwischen dieser Frau und den anderen Patienten in der Klinik? Ihr fehlte die Möglichkeit eines Vergleichs.

War denn ein Vergleich wirklich notwendig? Das Leben in der Klinik verlief doch genau nach dem Kodex, dessen Inhalte sie mit der Bildung erhalten hatte, wie jede andere MTech in den anderen Stationen der Klinik auch.

In Dor’El kam der Gedanke auf, dass diese Frau vielleicht etwas Besonderes sein könnte, wenngleich sie keine Vorstellung hatte, warum. Sicher, so eine Kleidung hatte sie noch nie gesehen, aber sie war ja auch noch nie aus Komplex C6 herausgekommen. Wer mochte diese fremde, schöne Frau nur sein? Und … warum war sie hier?

Ja, soweit Dor’El es durch das Fenster sehen konnte, war diese Frau eine Schönheit: keine offensichtlichen Verletzungen, eine schlanke Erscheinung mit fein gezeichneter Muskulatur und filigranen Fingern. Der Kopf wurde größtenteils von einer Kapuze bedeckt, die nur das Gesicht frei ließ. Der graue Anzug der Frau ging an den Armen bis an die Handgelenke. Die Füße hingegen wurden vollkommen vom Anzug bedeckt. Dor’El fragte sich, ob die Füße ebenfalls „normal” aussehen würden oder ob die Frau … nein. Abweichende Gedanken waren nicht zulässig. Überhaupt über die Frau nachzudenken, verstieß gegen den Kodex. Schnell beendete sie diese Gedanken.

Sie schüttelte den Kopf und schloss dabei die Augen, als würde sie damit alles löschen, an das sie soeben gedacht hatte.

Dor’El drückte ihre Nase an die Scheibe des Beobachtungsfensters. So konnte sie dem Gesicht der Frau etwas näherkommen.

Immer wieder hatte sie in den letzten Tagen dieses Gesicht bewundert, obwohl sie es nur im Profil erkennen konnte: Diese sanften Augenbrauen, die langen Wimpern, die sanft geschwungene Nase, die Abzeichnung der Wangenknochen, die Lippen, das markante Kinn und der schmale Hals, der in die Wölbungen der Brust überging … und jetzt kam dazu noch eine leichte Bewegung im Brustbereich dazu: die Frau atmete. Sie atmete – und es war ihre Entdeckung gewesen.

Sie hatte es entdeckt.

Ihr Glücksgefühl über die Entdeckung ließ sie mit einem Mal innehalten: Hatte die Frau früher wirklich nicht geatmet? Das wäre doch unmöglich. Erst jetzt kam ihr die Absurdität ihrer Beobachtung in den Sinn und sie dachte intensiver darüber nach.

Das Stundensignal ließ Dor’El aufschrecken. Wie lange mochte sie in die Betrachtung der Frau und ihren Gedanken schon versunken sein? Bald war Wachwechsel und Dor’El musste noch die Daten des heutigen Tages ins Log eintragen. Aber … die Frau atmete. Kein Zweifel.

Dor’El stieß sich die Nase an die Scheibe des Beobachtungsfensters. War da noch eine andere Bewegung gewesen?

Schnell wischte sie den Fettfleck von der Scheibe, damit Bor’sha keinen Grund für eine Rüge hatte. Schon einmal hatte man ihr vorgeworfen, im Dienst eingenickt zu sein, dabei hatte sie nur die Linien auf dem Fußboden betrachtet, weil es sonst gerade nichts anderes zu tun gab.

Doch. Da war es wieder. Dor’El war sich ganz sicher: Der Nasenflügel hatte sich bewegt. War das normal? Angestrengt blickte sie durch die Scheibe auf den Brustkorb. Gab es hier auch eine Bewegung? Gleichzeitig kramte sie in ihrem Gedächtnis. Sie atmet. Warum sollte die Frau auch nicht atmen? Jeder Mensch atmet. Wenn die Frau ein Mensch war, musste sie atmen. Das war doch ganz natürlich.

Die Frau ist war Mensch – oder nicht?

Was sollte sie sonst sein?

Natürlich war sie ein Mensch. Menschen atmen.

Hatte die Frau gestern geatmet? Vorgestern? Die Tage davor?

Gab es zuvor schon andere Bewegungen?

Dor’El überkam ein Anflug von Panik.

Hatte sie das die ganze Zeit übersehen? Warum fiel es ihr jetzt auf? Warum nur ihr? Warum jetzt?

Hastig griff sie nach dem Kontroll-Pad und aktivierte die Übersicht.

Eindeutig blinkte die Anzeige im Feld für die Atmung. Auch „Herzschlag” zeigte einen normal anmutenden Verlauf.

Dor’El wurde seltsam zumute.

Mit zittrigen Fingern überflog sie die Logs der letzten Tage.

Hier war ihr Eintrag.

Es gab davor keine früheren Einträge für „Atmung” oder „Herzschlag”. Sie hatte sich nicht geirrt. Aber ihr war es auch noch nie aufgefallen.

Wie konnte das sein?

War die Frau im Nebenraum eben erst zum Leben erwacht?

Eben erst?

Was war die Tage zuvor? … die letzten Zyklen? die Zeit, bevor …?

Sie hatte das bisher nicht bemerkt? Ihr Magen zog sich zusammen.

Da war nur dieser eine Eintrag von ihr: Atmung. Sonst gab es keine. Warum hatte man das früher nicht eingetragen? Warum hatte sie es jetzt eingetragen?

Der CMTech hatte den Eintrag doch gesehen – oder nicht? Gesagt hatte er nichts. Und Bor’sha?

Dor’El dachte nach.

Kaum vermochte sie sich zu erinnern, seit wie vielen Tagen sie schon die Nachtschicht innehatte. Seit ihrer Zuweisung? Was hatte sie eigentlich davor gemacht? An irgendetwas vor ihrer Bildung konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Sie hatte die Bildung erhalten und kurz darauf die Zuweisung zu dieser Patientin.

Dor’El kam sich vor, als wäre sie zu schnell aus einem Traum erwacht und sortierte jetzt Traum und Realität.

Ihre Finger flogen über das Pad. Sie musste den Übergabebericht schnell auf den aktuellen Stand bringen, ohne dass die nächste Schicht Verdacht schöpfte.

Gerade als sie den letzten Eintrag speichern konnte, krachte die Tür zum Flur in die Halterung und Bor’sha stolperte missmutig herein.

Dor’El zuckte zusammen und konnte das Pad gerade noch vor einem Sturz auf den Boden bewahren.

„Wünsche einen schönen Dienstbeginn …”

„Hmm? Ja, … Isso.” Bor’sha war vermutlich nie guter Laune. Am Morgen schon gar nicht, aber Dor’El hatte sich daran gewöhnt.

„Irgendwas … los gewesen?” Wirkliches Interesse war von Bor’sha nicht zu erwarten, aber die Frage gehörte ansatzweise zum Protokoll.

„Alles gut, keine Veränderungen. Atmung und Puls innerhalb der Norm.” Dor’El hätte sich beinahe an ihren eigenen Worten verschluckt. Nur nichts anmerken lassen.

„Ohkee.” Bor’sha war nicht wirklich interessiert, was die jüngere Kollegin zu melden hatte, seufzte und lümmelte sich auf den Beobachtungssitz.

Sie hatte es nicht bemerkt? Dor’El wurde schwindelig. Sie hielt sich schnell an der Tischkante fest. Bor’sha schien auch das nicht zu bemerken, denn sie hatte sich schon herumgedreht.

„Was ist mit … hier?”

„Was?” Dor’El hatte die Tür zum Gang schon beinahe aufgeschoben und zuckte zurück.

„Na, die Hübsche hier.” Bor’sha wies auf das Fenster.

„Na, das habe ich doch gesagt. Steht doch im Bericht” ,stammelte Dor’El.

„Hmm. Nagut”, brummelte Bor’sha und brachte den Sitz in eine halb liegende Position.

„Dann tummel dich und sei pünktlich wieder da”, ließ sie noch von sich hören und drehte sich wieder um.

Dor’El beeilte sich, den Raum zu verlassen. Fast wäre sie im Flur mit einer anderen MTech zusammengestoßen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung reihte sie sich in den Strom des Schichtwechsels ein und konzentrierte sich darauf, in der Menge nicht weiter aufzufallen.

SCHMERZ.

Sie fühlte sich „zurückgekehrt“.

Zurück, an einen Ort. An diesen Ort.

Zurück aus einem Universum der Dunkelheit. Zurück aus der Dunkelheit. Nur Dunkelheit?

Was mache ich hier? Wo bin ich? … wer bin ich?

Ach ja. Fragen ohne Antworten.

Was war zuletzt?

Richtig: Bewegung.

Check - ich atme.

Sie konzentrierte sich auf die Atmung und spürte, wie ihre Lungen sich immer wieder füllten und leerten.

Ich atme durch die Nase. Check.

Auch das konnte sie nach einigen Atemzügen deutlich spüren. Check.

Atmung als Methode der Zeitmessung?

Es amüsierte sie, trotz dieser sonderbaren Situation.

Zeit schreitet voran. Unter „normalen“ Umständen ist das ganz natürlich. Wie kam sie jetzt darauf, das hier anzuwenden? Egal. Jetzt gab es wichtigere Fragen, die zu klären waren.

Sie zählte einige Atemzüge ab und lauschte dann auf die Geräusche in ihrer Umgebung, dann wandte sie sich wieder anderen Punkten zu:

Kann ich mich an anderer Stelle bewegen? Was geht – was nicht?

Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Stellte sich ihren Körper vor und versuchte, ihre Konzentration auf etwas Kleines - einen Finger - zu fokussieren.

Mehrere Atemzüge lang passierte nichts.

Dann plötzlich - SCHMERZ.

Dor’El schreckte auf.

Sie legte das Log beiseite, in dem sie gerade die Eintragungen der letzten Schicht durchlas. Wie immer, hatte Bor’sha nur wenig über den Verlauf der letzten Schicht berichtet und Dor’El hatte es sich angewöhnt, selbst im Log die automatischen Meldungseinträge zu lesen. Bor’sha schrieb nie viel ins Log, aber immerhin füllte sie alle notwendigen Eintragungen von den Anzeigen aus.

Dor’Els Blick wanderte vom Log zu den Anzeigen.

Sie war sich sicher gewesen, dass sich die Frau bewegt hatte. Im Log fand sie nichts, aber …

Irgendetwas war jetzt anders als noch wenige Cents zuvor.

Sie hielt eine Hand an das Fenster und fokussierte den Blick über den Handrücken hinweg. Tatsächlich: es war deutlich zu erkennen, wie sich der Brustkorb hob und senkte. Keine Frage: Die Frau atmete. Das war ihr gestern schon aufgefallen, aber …

Aber was war es, was Dor’El gerade jetzt aufgefallen war? Ihr Blick ging zwischen den Anzeigen und der Frau hin und her.

„Irgendwas ist anders.” Dor’El ertappte sich bei einem Selbstgespräch.

Einige Cents lang starrte sie durch das Fenster auf den liegenden Körper dieser Frau, dann glaubte sie, etwas gefunden zu haben: Lag die Hand schon immer auf der Handkantenseite?

Sie vermochte den Blick kaum vom Fenster abzuwenden, als sie das Log suchte, öffnete und nach Aufnahmen der liegenden Frau durchblätterte. Deutlich waren sie nicht und viele zeigten nur wenig Details, aber dann fand Dor’El eine Aufnahme von der Seite. Es war genau die Seite, die durch das Fenster zu erkennen war. Und auf dieser Aufnahme lag die Hand mit dem Handrücken auf dem Tisch.

Die Aufnahme war vor zwei Tagen dem Log hinzugefügt worden. Die Hand war klar zu erkennen und es gab keinen Zweifel: Die Hand, die jetzt mit der Handkante auf dem Tisch lag, lag auf der Aufnahme flach auf dem Tisch.

Dor’El überprüfte die Sicherungen und alle Anzeigen des Raumes, in dem die Frau lag. Alles normal. Niemand hätte den Raum unbemerkt betreten und die Hand drehen können. Die Anzeigen bestätigten das: niemand hatte die versiegelte Tür geöffnet, den Raum betreten und die Hand gedreht. Das ließ nur den Schluss zu, dass die Frau das selbst gemacht haben musste, aber allen Berichten nach lag die Frau hier schon sehr lange Zeit in tiefer Stasis und immerhin war dieser Raum nur deshalb so eingerichtet worden, um … ja, warum eigentlich?

Um die Frau zu beobachten.

Dor’El dachte nach: Das war die Erklärung, die sie in der Einweisung vom CMTech erhalten hatte. Sie hatte bisher noch nie in Frage gestellt, welche Aufgabe - außer der lückenlosen Beobachtung der hier liegenden Frau - sie und Bor’sha hier eigentlich hatten.

Sie wusste auch nicht, seit wann genau diese Beobachtungen an der Frau hier in der Klinik durchgeführt wurden. Im Log ging sie die Einträge durch und versuchte, den Anfang zu finden. Das Log begann kurz vor ihrer Zuweisung zu dieser Tätigkeit. Die ersten Einträge ließen Dor’El erkennen, dass sie nicht die erste MTech war, die mit dieser Tätigkeit betraut wurde, aber seit wann die Frau hier wirklich lag, das stand hier nicht. Sie hatte keinen Zugriff auf die Logs vor Beginn ihrer Tätigkeit.

Dor’El sah vom Log auf. Noch nie zuvor hatte sie sich darüber Gedanken gemacht. War das überhaupt zulässig?

Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes Haar. Hatte sie geträumt? War sie gerade erst aufgewacht? Ihr kam plötzlich alles so unwirklich vor.

Deutlich spürte sie, dass ihr warm wurde. Ja, sie schwitzte mit einem Mal regelrecht. Sie spürte die Tropfen, die ihr den Rücken herunter rannen und es juckte zunehmend. Der Juckreiz war unangenehm und Dor’El rieb sich den Rücken an der Stuhllehne.

Was sollte sie nur tun? Sollte sie ihre aktuelle Beobachtung im Log vermerken? Was, wenn sie sich irrte? War das ein Anzeichen von Überarbeitung?

Man hatte sie gewarnt: so etwas könnte vorkommen. Ihre Vorgängerin war nicht ohne Grund nicht mehr in der Tätigkeit. Näheres wusste sie natürlich nicht, aber es musste einfach einen Grund gegeben haben. Alles hatte einen Grund. Bor’sha hatte nie nähere Auskunft gegeben und Dor’El wusste, dass sie nicht weiter nachfragen durfte.

Wieder nahm sie das Log in die Hand, suchte das zuvor schon betrachtete Bild und wieder verglich sie das Bild mit dem, was sie durch das Fenster beobachten konnte. Kein Zweifel: Die Hand der Frau lag jetzt anders als auf der Aufnahme. Das war eine unumstößliche Tatsache.

Sie atmete und sie bewegte sich.

Was würde der CMTech sagen, wenn sie das im Log erwähnte? War das überhaupt etwas, was sie ihm zusätzlich noch sagen sollte? Musste sie jetzt etwas machen? Gab es eine Vorschrift für diesen Vorgang? Gab es eine Meldepflicht, die sie erfüllen musste? Gehörte das ins Log?

Oder besser nicht?

Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen. Was jetzt? Sie wünschte, sie hätte jemanden, mit dem sie darüber sprechen könnte, aber … warum dachte sie jetzt daran?

Was war nur mit ihr los?

Seit einigen Tagen fühlte sie sich seltsam unsicher. Seit ihrer Beobachtung, dass die Frau atmete, war ihr Leben nicht mehr im Gleichgewicht. Sie fürchtete sich und sank auf dem Beobachtungssitz zusammen.

SCHMERZ

Schmerz, … Dunkelheit

Flackernde Lichter?

Sie war sich nicht sicher, ob es etwas zu bedeuten hatte, … natürlich musste es etwas zu bedeuten haben, denn immerhin …

Ja. Ja? Was?

Sie konnte sich erinnern, dass sich etwas verändert hatte.

Sie konnte sich überhaupt an etwas erinnern. Es gab ein „früher“ und ein „jetzt“.

Früher waren da nur Dunkelheit und Schmerz, jetzt gab es eine Veränderung: regelmäßige und unregelmäßige Impulse. Fast, als gäbe es ein Blinken in der Dunkelheit.

Was war mit ihrem Gedächtnis los? Da war: … nichts. Wirklich nichts?

Nicht viel.

Sie ging noch einmal durch, an was sie sich erinnern konnte: Bewegung. Also versuchte sie, sich in irgendeiner Weise zu bewegen. Langsam.

Sie konnte atmen. Ganz bewusst atmen. Das war gut.

Dennoch - keine Verbesserung des aktuellen Gesamtzustandes, aber … sie besann sich. Vermutlich war jede kleine Veränderung eine Verbesserung.

Sie begann damit, ihre Umgebung zu „ertasten”.

Was geht, was geht nicht?

Atmung. Ja, sie konnte sich bewusst darauf konzentrieren. Spontane und unbewusste Atmung. Das war gut.

Herzschlag? Nicht zu spüren. Ohne die Möglichkeit einer Sensorabnahme, … sie besann sich: eine Hand auf die Brust legen. Das könnte helfen. Habe ich eine Hand?

Körperempfinden. Sie versuchte, sich an Muskeln ihres Körpers zu erinnern und einzelne davon anzusprechen.

Das Ergebnis war eher enttäuschend. Sie hatte erwartet, aus einer Reaktion Schlüsse über ihren Körper, ihre Position und ihre Umgebung zu erhalten, aber da war noch keine Veränderung zu früher festzustellen, obwohl, … Mit aller möglichen Konzentration hatte sie zuvor versucht, sich zu strecken, um eine eventuell anzunehmende, liegende Position bestätigt zu bekommen, aber das Experiment war in einer Explosion von Schmerz geendet und sie hatte das Gefühl, als ob zwischen dieser Erfahrung und dem Jetzt einiges an Zeit vergangen wäre.

Gab es eine Zeit der Dunkelheit? Eine messbare Zeit?

War dieser Schmerz, der sie überkam, vielleicht der Grund, warum sie das Gefühl hatte, dass sie immer wieder von vorn begann? Der Schmerz. Immerhin ein Körpergefühl. Unangenehm - ja, schmerzhaft, aber sie hatte das Gefühl, ihn als Bestätigung zu registrieren, überhaupt am Leben zu sein.

Das gab ihr den Ansporn, nicht zu verzweifeln, sondern sich weiterhin dem Schmerz zu stellen.

Der Schmerz. Unausweichlich, aber derzeit offenbar das einzige Zeichen von Leben. Sie musste weiterhin versuchen, mehr als nur erste Anzeichen von Leben in sich zu entdecken. Obwohl jeder Versuch, mehr über sich und ihre Umgebung zu erfahren, bisher in einer Schmerzwelle geendet hatte.

Ja, der Schmerz. Das war ein Problem. Sie dachte kurz darüber nach, ob der Schmerz immer auch in eine längere Zeit der Dunkelheit mündete, oder davon unabhängig war.

So kam sie zu dem Entschluss, diese großen Schmerzwellen lieber zu vermeiden, damit sie mit ihrem Experiment weiter machen konnte. Dieses „Experiment“ durch das sie festzustellen versuchte, wo sie war und wie es um sie stand.

Nun, immerhin ließ das Ganze bisher den Schluss zu, dass das Experiment zumindest das eine Ergebnis erbrachte: Bewegung ist möglich, aber etwas hinderte sie. Was genau war das?

Sollte sie einen weiteren Versuch wagen? Sie war sich zunächst unsicher, fasste aber neuen Mut, denn eine Betrachtung ihrer bisher bekannten Situation – insbesondere die Tatsache, dass sie zu wenig über ihre aktuelle Situation wusste, gab ihr den Antrieb, weiter zu machen. Besser so, als gar nicht.

Schäden - bis auf den starken Schmerz und die vollkommene Dunkelheit - konnte sie noch nicht feststellen. Das war schon mal eine gute Beobachtung, die sie mit Dankbarkeit verzeichnete.

Langsam erforschte sie ihre Muskulatur. Sie konzentrierte sich wieder auf die Atmung und bemerkte eine Reaktion durch die Bewegung des Brustkorbes: Spürte sie da eine harte Unterlage?

Dann war es durchaus denkbar, dass sie sich in einer liegenden Position befand. Außerhalb des Brustkorbes war nichts. Bevor sich eine Panik in ihr ausbreiten konnte, befahl sie sich, nicht darüber nachzudenken, was mit dem Rest ihres Körpers geschehen sein konnte, sondern zwang ihre Gedanken dazu, weiter nach Reaktionen zu suchen.

Sie wollte schon aufgeben und sich der nahenden Dunkelheit ergeben, da verspürte sie plötzlich ein Kribbeln und zwar auf beiden Seiten ihres Brustkorbes.

„Ich habe Arme” - durchfuhr es sie. „Das ist gut.“

So schlimm konnte es also um den Gesamtzustand nicht stehen. Vermutlich hatte sie zu den anderen Regionen ihres Körpers nur noch keine Verbindung, aber genau das galt es ja herauszufinden.

Weiter - immer weiter. Sie gewann neuen Mut und noch gab es keinen neuen Schmerzanfall, sondern nur ein allgemeines Unwohlsein.

Das Kribbeln wurde zu einem Brennen, aber trotzdem vermochte sie den Bereich ihrer Wahrnehmung weiter auszudehnen und hatte mit einem Mal den Eindruck, als ob sie beide Arme komplett, wenn auch stark brennend wahrnehmen konnte und somit das entstehende Bild einer liegenden Position - liegend, auf einer harten Oberfläche - bestätigen könnte.

Arme. Sie entsann sich: Arme und Hände. Finger.

… Faust.

Der Gedanke war da, aber sie brauchte viele Anläufe, bis sie daraus einen Befehl für ihre Hände zustande bekam.

Faust … ballen.

Brennende Finger schlossen sich zu einer Faust.

SCHMERZ.

Eine erneute Explosion von Schmerz beendete jegliche Gedanken an ein geglücktes Experiment.

Die Welt tauchte ab in eine tiefe Dunkelheit.

KAOTATU

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