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Оглавление1 – Erwachen
Es mag Zeiten geben, an die sich zurück zu erinnern, jeden mit Schrecken erfüllt. Dennoch können wir nur aus der Erinnerung lernen, wie es zu verhindern gewesen wäre, dass es überhaupt dazu gekommen ist.
Wäre es zu verhindern gewesen? War es unvermeidbar?
So etwas wie eine Vermeidbarkeit gibt es nicht. Selbst das Universum dreht sich unaufhaltsam. Und wenn es sich auch nur um sich selbst dreht. Es aufzuhalten, steht nicht in unserer Macht.
Es sind die Menschen, die mit ihren Handlungen für das verantwortlich sind, was wir als unsere Vergangenheit betrachten müssen.
Aus den Chroniken
Was?
SCHMERZ.
… Schmerz …
…
Was ist …?
SCHMERZ.
… Schmerz.
…
Dunkelheit.
Nur Dunkelheit?
SCHMERZ.
…
Nichts.
Nur Dunkelheit.
Wer bin ich?
… wo bin ich?
Ein schwebender Verstand in der Dunkelheit?
…
So viele Fragen.
Diese Dunkelheit, …
Sie ist undurchdringlich.
Was ist undurchdringlich? Die Dunkelheit?
Was?
Wer?
…
Dunkelheit.
…
Fragen. Nur Fragen.
…
Bedrückende Dunkelheit.
Ich denke, also bin ich. Eine uralte Wahrheit, aber dennoch ein Fakt. Logik? Ja, Logik, aber …
Wer?
…
SCHMERZ.
… Schmerz.
Immerhin. Sammeln wir mal die Fakten: Es gibt Schmerz und Dunkelheit. Wieso sammle ich Fakten? … Ich bin …?
Nur noch mehr Fragen. Fragen und Fragen in Fragen.
Bewegung?
Funktioniert Bewegung?
Was ist Bewegung? Wieso denke ich an Bewegung?
…
Wie kann ich mich bewegen?
Was bin ich?
Wo? … und warum?
…
Nur keine Panik.
…
Hören.
Eine Sinneserfahrung.
Man müsste etwas hören.
Es ist nichts zu hören.
…
Sprechen? …
…
Nein. Sprechen geht nicht.
…
Bewegen?
Atmen. Ja, ich atme.
…
Ein … aus. Das gilt als Bewegung. Bewegung ist möglich. Check.
…
Augen öffnen?
Nein, da passiert nichts.
Dunkelheit und Stille bleiben. Habe ich die Augen geöffnet? Kann sein.
…
SCHMERZ.
Was war das?
Ich bin da. In völliger Dunkelheit und Stille.
…
Körpererfahrung.
Atmung geschieht durch Muskelbewegung. Also müssten auch andere Muskeln reagieren.
Herzschlag? Vermutlich, ist aber nicht spürbar.
Denken und Bewusstsein. Check.
…
Zeit. Vergeht die Zeit?
Vermutlich.
Wir haben Vermutungen und Fakten.
Wie viel Zeit mag vergehen … vergangen sein, seit …?
Seit wann?
Wie lange besteht dieser Zustand bereits?
Wo bin ich?
Neue Fragen, aber keine Antworten.
… Schmerz.
Ich muss mich bewegen. Ich muss meine Umgebung wahrnehmen können, aber wie?
Wo bin ich?
SCHMERZ.
※
Dor‘El war in völliger Hochstimmung.
Noch vor einigen Zyklen, nachdem sie ihre Erste Bildung erhalten hatte, war sie sich unsicher gewesen, ob es richtig war, den Job als Medi-Technikerin anzunehmen. Naja, „anzunehmen“ war der falsche Begriff. Es war eher ein „nicht zurückweisen” als eine Annahme.
Genau genommen war es eine verbindliche Zuweisung. Man wurde zwar gefragt, ob man die Zuweisung annehmen würde, aber noch nie hatte jemand seine Zuweisung abgelehnt. Es war undenkbar, eine Entscheidung der Älteren in Frage zu stellen.
Sie war eine Aspirantin gewesen und durch die Bildung hatte man in ihr die Anlagen für eine MTech gefunden und verstärkt. Danach wurde ihr eine Tätigkeit als MTech zugewiesen.
MTech waren wichtig für die Gemeinschaft.
Man hatte natürlich das Recht, die Zuweisung abzuweisen, aber Dor’El war nicht bekannt, dass dies jemals geschehen war. Außerdem war es eine schöne Zeremonie. Man trat in den Saal der Älteren und alle anderen Aspiranten waren anwesend. Dann wurde die Große Auswahl verkündet.
Man unterzog sich der Prozedur der finalen Bildung und wenn man daraus erwachte, erhielt man eine Schärpe mit dem Muster der zugewiesenen Tätigkeit.
Diese Schärpe hing jetzt bei Dor’El über dem Bett in der Unterkunft. Sie war blau mit einem silbrigen Rand und sie hatte sie seit diesem Tag nie wieder getragen.
Das war weder notwendig noch möglich, denn die Vorschriften besagten, dass Dor’El ihren Dienst in einem weißen Kittel mit blauen Rändern auszuüben hatte, wie ihn jede der MTech trug.
Weiß war die vorherrschende Farbe. Alle Wände waren weiß, die Decken und Böden grau und mit den Leitstreifen zur Orientierung bemalt. Alles in allem wirkte die Klinik sehr steril, aber das sollte sie ja auch sein. „Sauber und ordentlich, wie es sich gehört” - pflegte man den neuen MTech in der Phase der Eingewöhnung nach der Bildung einzuprägen. Das Betrachten der Schärpe bewirkte in ihr immer eine gewisse Hochstimmung und gab ihr die notwendige Sicherheit zurück, wenn sie einmal wieder das Gefühl hatte, die tägliche Routine würde sie überfordern. Sie erinnerte sich dann daran, mit welcher wichtigen Tätigkeit die Älteren sie betraut hatten. Dann ging es ihr wieder besser.
„Die Kaste der MTech garantiert das Überleben der Menschheit” - so stand es in großen Buchstaben über der Eingangstür zur Klinik, aber im Gegensatz zu anderen MTech dachte sie immer noch viel an die anderen Aspirantinnen, die mit ihr im gleichen Durchgang gewesen waren. Sie würde selbst die ATech oder die KTech ihres Durchganges nie verachten, denn ohne Nahrungsanbau oder Techniker … nein, schnell schüttelte Dor’El den Kopf. Solche Gedanken gehörten weder ausgesprochen noch in die Zeit ihrer Tätigkeit, die sie in der Klinik verbrachte.
Einmal hatte sie versucht, ihre Gedanken mit einer anderen MTech zu teilen, aber nur Unverständnis zurückerhalten. Danach hatte sie ihre Ansichten und Fragen stets für sich behalten.
Viel gab es nicht zu tun und Dor’El dachte oft an die ersten Schichten ihrer Eingewöhnung zurück, als sie noch jung und unerfahren war, aber voller Stolz, zu einer Elite zu gehören, von der man in den Unterkünften immer mit einer gewissen Ehrfurcht sprach. Sie hatte sich vorgenommen, dies niemals anderen gegenüber zu zeigen.
Nach nur wenigen Zyklen kam dann ihre große Chance. Sie erhielt eine besondere Zuweisung: Einen eigenen Patienten.
Das brachte ihr bei den anderen MTech bewundernde oder vielleicht auch abschätzende Blicke ein. Dor’El konnte das manchmal nicht genau unterscheiden. Sie konnte ihr Glück jedenfalls kaum fassen und freute sich von da an jeden Tag auf den Schichtbeginn, sodass die anderen MTech sie schon damit aufzogen.
Eine MTech, die nach so kurzer Zeit schon eine Sonderaufgabe erhielt und es kaum erwarten konnte, sie anzutreten, das war außergewöhnlich und brachte ihr einen gewissen Abstand ein.
Ein eigener Patient.
Das war ab jetzt der einzige Zweck ihrer Tätigkeit und Dor’El konnte an nichts anderes denken, als ihre Schicht und die darauffolgende Ruhezeit. Dieser Ablauf würde sich von jetzt an nicht mehr ändern.
Dor’El machte das nichts aus. Sie ging völlig auf in der neuen Rolle, in der sie sich immer sicherer fühlte. Ja, sie war eine MTech und trug nichts anderes mehr als ihren Kittel mit allen ID Clips daran, die sie für diese Tätigkeit benötigte. Sie hatte sogar einen Clip mehr, als die anderen, denn sie hatte ja jetzt eine besondere Zuweisung erhalten.
Zunächst hatte sie sich gewundert: ein „eigener” Patient. Was mochte das bedeuten?
Das kannte sie aus der Bildung so noch nicht: Nur CMTech kümmerten sich um besondere Patienten. Die MTech waren ihnen dabei behilflich. Die Sorge der MTech galt den allgemeinen Aufgaben in der Klinik. Besondere Aufgaben wurden von den CMTech erledigt. Jetzt hatte man allerdings sie – kurz nach Abschluss ihrer Bildung - mit der Aufsicht über einen einzelnen Patienten beauftragt.
Immer noch wurde Dor’El heiß in ihrem Kittel, wenn sie darüber nachdachte, und sie musste sich am Rücken kratzen, als ihr dort der Schweiß herunterlief. Ein eigener Patient. Was für eine anspruchsvolle Aufgabe für eine junge MTech wie sie.
Sie teilte sich den Patienten zwar mit einer Kollegin, aber Bor’sha war das offenbar nicht so wichtig wie ihr.
Bor’sha war ganz ihr Gegenteil: gedrungen, dunkle Haare, immer schlecht gelaunt und niemand mit dem man sich gern lange allein in einem Raum aufhielt. Aber vermutlich beruhte das auf Gegenseitigkeit. Dor’El verbrachte gern den Großteil ihrer Schicht allein. Es machte ihr nichts aus, allein zu sein. Warum auch?
Die Tätigkeit, die man ihr mit dem Patienten zugeteilt hatte, war nur grob umrissen worden: beobachten und Veränderungen melden. Mehr nicht. Vermutlich war das der Grund, warum man sie einer noch unerfahrenen MTech zuweisen konnte. Dor’El war gut darin, Anweisungen auszuführen, also tat sie genau das: beobachten und Meldungen machen. Und es machte ihr Freude, so eine Tätigkeit auszuführen.
Ein eigener Patient.
Immer wieder ging ihr Blick durch das Beobachtungsfenster in den Behandlungsraum. Dort lag „Sie” - oder doch „Es”?
Nein, Dor’El war sich sicher: das Objekt war weiblich. „Objekt” Dor’El schüttelte den Kopf. Niemals würde sie in den Berichten ein „Objekt” erwähnen. Nicht in den Berichten, die sie anfertigen durfte. Warum auch? Immerhin gehört es zur Ausbildung einer MTech, den menschlichen Körper in allen seinen Teilen zu kennen und seine Teile …
Dor’El brach den Gedanken ab und lachte leise.
Ein eigener Patient. Das war die richtige Ausdrucksweise, auch wenn es im Log so nicht stand. „Objekt“. Das klang irgendwie falsch, fand Dor’El.
Sie hatte die Eintragungen ihrer Vorgängerinnen gelesen und sich nicht viel dabei gedacht. Erst jetzt war es ihr aufgefallen: die anderen kümmerten sich um ein Objekt mit einer Vorgangsnummer. Sie hatte einen Patienten. Einen Patienten, allerdings ohne Namen.
Im Log war kein Name eingetragen.
Dor’El setzte sich auf den Hocker vor dem Beobachtungsfenster. Was war mit ihr los? Sie stellte damit bereits die Ziele und Lerninhalte der Bildung einer MTech infrage, wenn sie über das nachdachte, was ihr jetzt gerade in den Sinn kam.
Sie dachte über ihren Auftrag nach. Ihr war das Wohl ihres Patienten ein Anliegen? Ja, sie war wirklich eine geborene MTech, auch, wenn es das eigentlich so gar nicht gab. Dor’El wunderte sich über ihre eigenen Gedanken.
Sie schüttelte den Kopf, stand wieder auf und strich sich den Kittel glatt.
Da lag sie also. Eine stumme Gestalt in einem seltsamen grauen Anzug, der eng am Körper anlag und nur das Gesicht freigab. In einem abgesonderten Raum voller Geräte mit blinkenden Anzeigen. Einen solchen Anzug, wie die Gestalt ihn anhatte, hatte Dor’El noch nie gesehen. Was könnte das für ein Stoff sein? Gern hätte sie ihn einmal berührt, aber die Frau - Dor’El beschloss, sie fortan immer nur so zu benennen - war durch die dicke Scheibe des Beobachtungsfensters von ihr getrennt.
Dor’El war sich sicher, dass das eine Frau war. In den Daten des Log war nur von einem „Objekt“ die Rede, aber auch der CMTech sprach von einem „Patienten“. Bor’sha hatte überhaupt kein Wort für die Frau, aber Bor’sha sprach sowieso nur wenig.
Doch Dor’El konnte nicht anders. Sie war sich vollkommen sicher: Die Patientin im Beobachtungsraum war eine Frau.
Einige Tage lang hatte sie jetzt schon diese Körperformen betrachtet und jede Rundung war ihr so vertraut, dass sich Dor’El fragte, warum diese Frau hier in der Klinik unter ständiger Beobachtung lag. Die Frau, die sich nicht bewegte, zu der man aber auch niemanden in den Raum ließ. Dor’El konnte zwar nur wenig von der liegenden Gestalt erkennen, aber schon das Profil ließ sie oft an die Scheibe treten. Die Frau hatte sehr ausgeprägte Gesichtszüge – jedenfalls von der Seite her, die Dor’El betrachten konnte.
Warum lag sie nur hier?
Dor’El stand so dicht am Beobachtungsfenster, dass ihr Atem an der Scheibe kondensierte.
Sie wischte die Scheibe wieder trocken und trat einen Schritt zurück. Sie überlegte: „Seit wann habe ich diese Aufgabe?“
Obwohl das Chrono ihr nicht antworten würde, blickte sie auf die Anzeige und sprach halblaut vor sich hin: „Warum denke ich gerade heute darüber nach? Was war denn gestern?“
Die Tür wurde aufgeschoben und rastete in die Halterung.
Bor’sha hatte sie aufgerissen, wie es ihre Art war und war in den Raum gestürzt.
Dor’El zuckte zusammen.
Hatte Bor’sha etwas von ihrem Selbstgespräch mitbekommen?
Bor’sha kümmerte sich nicht um sie. Sie hatte sich das Log gegrabscht und ging die letzten Einträge durch.
„Is‘ was?“, Bor’sha blickte kurz auf.
Dor’El wollte gerade ansetzen, den Übergabebericht zu formulieren, aber irgendwas störte sie, heute.
Heute? Ja, heute.
Sie steckte ihre Hände in die Taschen ihres Kittels und blickte Bor’sha an, die noch im Log stöberte.
„Nein, alles in Ordnung.“
„Gut“, brummelte Bor’sha.
Sie schob das Log auf den Tisch und lümmelte sich auf den Hocker.
Dor’El fühlte sich überflüssig, aber im Grunde genommen war sie es auch. Ihre Schicht war beendet, aber irgendetwas war heute anders.
Sie drehte sich um und blickte durch die Scheibe auf die schlafende Frau. Aufgrund der liegenden Position fiel es ihr schwer, die Größe genau zu schätzen, aber sie musste relativ groß sein.
Groß und schlank.
Ganz das Gegenteil von Bor’sha, die damit begonnen hatte, mit den Fingernägeln irgendwelche Reste aus ihren Zähnen zu puhlen.
Dor’El blickte noch einmal zurück, drehte sich dann um und schob die Tür zum Raum von außen zu.