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4 – Entwicklung

I n der Vergangenheit herrschte das Chaos. Die Menschheit stand am Rand der Vernichtung. Nur mit großer Anstrengung, vielen Mühen und Entbehrungen konnte das Überleben letztendlich gesichert werden.

Es ist unser aller Verpflichtung, das Erbe der Vergangenheit abzuweisen und uns mit aller Kraft in den Dienst an der Gemeinschaft zu stellen, wie es nach den Tagen des Exodus im Kodex festgehalten wurde.

In ewiger Dankbarkeit, ein Teil der Gemeinschaft zu sein, streben wir mit unserem ganzen Können und Wissen danach, das Überleben der Gemeinschaft zu erhalten.

Aus den Chroniken

Schmerz.

Nicht so stark, wie sonst, aber es weckte sie aus ihrem Dämmerschlaf.

Sie nahm es dankend an und begann sofort, mit der „Bestandsaufnahme“, wie sie es für sich nannte: Atmung, Wahrnehmung des Raumes, der Position, Muskelkontrolle, Bewegung … check.

Ich gehe eine Checkliste durch, bemerkte sie für sich und registrierte auch dieses als Beobachtung über ihren derzeitigen Zustand.

Sie spürte ihre Zunge und tastete sich nach weiteren Muskeln vor.

Die Zunge ließ sich bewegen und sie bemerkte, dass sich etwas Feuchtigkeit daran sammelte.

Der Schmerz, der sie sonst immer anfallartig überfallen hatte, war diesmal anders. Er hatte sich in einen wahrnehmbaren, aber auszuhaltenden Dauerzustand gewandelt. Ihr war, als ob sie in ein ständiges Dröhnen gepackt worden war. Mit aller möglichen Konzentration kämpfte sie gegen dieses Dröhnen an.

Thema heute: Augen.

Ich muss sehen, wo ich bin. Ein hohes Ziel, aber eine Notwendigkeit, um endlich mehr über ihre Situation in Erfahrung zu bringen.

Schmerzhaft meinte sie, die Bewegung ihrer Augen verzeichnen zu können, aber ohne, dass sie etwas erkennen konnte. Immer wieder kämpfte sie gegen Wellen eines aufkommenden Schmerzes an und nach einer ganzen Weile verspürte sie etwas: eine Bewegung zwischen Auge und Nase.

War das eine Träne?

Spürte sie, wie ihre Augen sich mit Tränenflüssigkeit füllten?

Sie ließ sich für einige Zeit in den Schmerz zurückgleiten und hoffte, dass ihre Körperflüssigkeiten langsam dafür sorgen würden, den Zustand zu verbessern.

Geduld.

Ich muss mehr Geduld haben.

Fast schon hätte sie innerlich einen Seufzer ausgestoßen.

Vermutlich liege ich hier schon längere Zeit, da kommt es auf ein wenig mehr Zeit nicht an - versuchte sie sich zu beruhigen, bevor sie wieder eindämmerte und dem Schmerz die Kontrolle über ihr Sein überließ.

Die nächsten Tage verliefen in absoluter Monotonie: Dor’El ging ihren Tätigkeiten nach, wie es von ihr verlangt wurde und niemand schien sich für sie oder die geheimnisvolle Frau zu interessieren.

Der CMTech nahm zwar wieder an den Visiten teil, aber er sprach Dor’El nicht auf die Frau, ihre Beobachtungen oder in sonstiger Weise an. Veränderungen an den Anzeigen schien er nicht zu bemerken oder nicht bemerken zu wollen. Jedenfalls reagierte er nicht darauf. Er kontrollierte sie zwar, aber sonst sagte er nichts.

Dor’El sagte auch nichts.

Sie registrierte, dass er bei einer der Visiten sehr wohl eine Veränderung wahrzunehmen schien: er kontrollierte die Einstellungen der Körperfunktionen-Monitore, verglich sie mit dem Log, nahm einige Veränderungen vor, sagte aber nichts.

Erst beim Gehen drehte er sich kurz noch einmal zum Beobachtungsfenster um und blickte Dor’El kurz prüfend an, dann setzte er seinen Weg fort.

Sie wagte nicht, ihn direkt anzusprechen. Vor anderen MTech schon gar nicht und dabei blieb es dann auch.

Dor’El hatte sich daran gewöhnt, dass alle Beteiligten die Veränderungen an dieser Frau offenbar zu ignorieren schienen. Sie selbst hingegen hatte viele Stunden der intensiven Beobachtung verbracht und den Eindruck, als ob sie mittlerweile jeden sichtbaren Quadratzentimeter der Frau auswendig kannte.

Von Tag zu Tag stiegen die Anzeigen auf den Monitoren in Wertebereiche, wie sie sie in den Zimmern der anderen Patienten in der Klinik ebenfalls sehen konnte, wenn sie sich wieder heimlich in deren Räume schlich. Vor einigen Tagen hatte sie einen Bereich in der Klinik entdeckt, in dem Patienten mit Verletzungen lagen und dort gab es ähnliche Kontrollen und Anzeigen, wie in ihrem Raum. Nicht ganz so viele, aber Anzeigen, aus denen Dor’El Schlüsse ziehen konnte.

Normalzustand.

Ihre Patientin näherte sich einem „Normalzustand“. Viele der beobachteten Werte stiegen immer weiter an. Was würde geschehen, wenn alle Werte auf Maximum stünden? Oft hatte sie sich gefragt, was passieren würde, wenn diese Frau einfach erwachte und herumzugehen versuchte?

Sie hatte darauf noch keine Antwort gefunden, hoffte aber, dass es bald geschehen möge, denn irgendwann käme bestimmt für sie die Zeit für eine Neuzuweisung. Welche Tätigkeit die Älteren ihr dann zuweisen würden, konnte niemand wissen. Das ängstigte sie zunehmend. Ihre Bindung zu dieser Frau wuchs von Tag zu Tag und damit auch ihre Angst, sie wieder zu verlieren.

Ein Summer ertönte und einige Blocks der Kontrollleuchten wechselten von Rot zu Gelb, einige von Gelb zu Grün und sogar zu Blau.

Blau?

Das Licht im Beobachtungsraum flackerte kurz und Dor’El meinte, in den Liquitanks ein Glucksen zu hören.

Wenige Cents später stand der CMTech im Raum.

Er atmete heftig.

War er gerannt?

„Bleib ruhig. Alles kein Problem.” Sprach er zu ihr, oder zu sich? Dor’El wusste es nicht genau.

Sie sagte nichts. Zu sehr war sie verwirrt und versuchte, sich an ihre Bildung zu erinnern. Was hatte sie jetzt genau zu tun?

Der CMTech drückte sich an ihr vorbei und betrachtete die Anzeigen auf der Konsole.

„Ja, es ist eindeutig”, er sprach ziemlich leise.

Dann drehte er sich direkt zu ihr um und packte Dor’El bei den Schultern.

Sie erschrak.

Das war noch nie geschehen.

Was hatte sie falsch gemacht?

Panik überkam sie.

Körperliche Berührung war während der Tätigkeit nicht zulässig.

Zwischen einem Mann und einer Frau schon gar nicht.

Ihre Gedanken wurden vom CMTech unterbrochen – „Hör genau zu und behalt’s für dich!”

Sie spürte, wie sie sich verkrampfte. Seine Hände drückten auf ihre Schultern. Ihr wurde schwindelig.

Unfähig zu einer Reaktion konnte sie nur den Kopf heben. Das Gesicht des CMTech war nur eine Handbreit von dem Ihrigen entfernt. Sie spürte seinen Atem in ihrem Gesicht.

„Was hier passiert, geht niemanden etwas an”, begann er.

„Du erinnerst dich an den Alarm, neulich?” Was für eine Frage. Wie könnte sie das vergessen?

Der CMTech zog die Augenbrauen hoch, nickte und blickte ihr tief in die Augen.

„Schon bemerkt, dass hier jetzt weniger los ist?” Sie konnte gerade so in sein Nicken einstimmen. Seine Worte dröhnten in ihrem Kopf, obwohl er sehr leise sprach.

Der CMTech machte eine Pause. Er ließ sie los und wandte sich wieder der Konsole zu.

Weniger los? Ja, natürlich. Nur Bor’sha … Dor’Els Gedanken wurden unterbrochen.

Er drehte sich wieder zu ihr um: „Das alles hat einen guten Grund.” Seine Stimme klang seltsam in ihren Ohren.

Unfähig zu einer Regung folgte sie jedem seiner Worte. Ihr Blick hing an seinen Lippen.

„Dieser Bereich liegt ab sofort unter dem direkten Protektorat der Älteren.”

„W-wa‘ …?”, stammelte Dor’El und riss die Augen auf.

„Warte!”, fuhr der CMTech fort.

Wieder griff er Dor’El an eine Schulter.

Sie schluckte ihre nächsten Worte herunter und konzentrierte sich ganz auf den CMTech.

„Zu deinem Schutz wird hier ein Prätor postiert.” Seine Worte ließen sie vollends erstarren. Sie wagte kaum, Luft zu holen. Die Angst vor den Prätoren war tief und allgemein verwurzelt. Prätoren ging man aus dem Weg.

„Keine Sorge. Er hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass euch beide, …” - ein kurzes Kopfnicken zum Fenster – „… niemand stört.” Der CMTech machte eine Pause. Er holte tief Luft.

„Äh, …” - zu mehr war Dor’El nicht in der Lage. Ihre Stimme versagte. Zu ihrem Schutz? Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie verstand die Situation nicht.

„Schht!”, was der CMTech jetzt zu sagen hatte, war wohl so vertraulich, dass er ungebetene Zuhörer fürchtete. Er blickte sich kurz zur Tür um.

„Du und Bor’sha, ihr werdet die einzigen sein, die hier weiterhin Zugang erhalten”, fuhr er leise fort.

„Du hast sicher vermutet, dass die da …” - wieder ein Kopfnicken – „… langsam zu den Lebenden zurückkehrt. Das hat oberste Priorität, ist aber nicht für die Allgemeinheit bestimmt.”

Dor’El blinzelte. Das war ein Widerspruch zur allgemeinen Bildung. Die Gemeinschaft war oberstes Gut und ohne Gemeinschaft, … - wieder unterbrach sie der CMTech.

„Das ist verwirrend, aber eine Tatsache. Mache dich damit vertraut, einiges von dem, was du gelernt hast, neu zu bewerten”, er atmete wieder tief ein und aus.

Dor’El hätte beinahe begonnen, einige Kapitel aus der Bildung zu rezitieren, aber der CMTech fuhr fort: „Du wirst noch alles erfahren, was du wissen musst”, und noch langsamer und deutlicher betonte er: „Die Frau, hier nebenan, wird unser Leben komplett verändern. Glaub es mir.”

Erneut schrillte ein Alarm an der Konsole und der CMTech wirbelte herum. Er ließ Dor’El stehen und trat an die Konsole.

Hastig betätigte er einige Einstellungen.

Das Signal verstummte. Dafür wechselte das Blinken des bunten Lichtermeeres in neue Muster.

Seine Hände glitten über die Einstellungen. Er schien genau zu wissen, was er da machte.

Dor’El stand immer noch wie angewurzelt mitten im Raum.

Der CMTech hatte sich mittlerweile den Sitz herangezogen und bearbeitete die Hauptkonsole.

Ein Scharren an der Tür. Dor’El drehte sich vorsichtig um und spähte durch den Spalt, den die defekte Tür bot: Sie erkannte die schwarzen Stiefel eines Prätors und fühlte die damit verbundene Panik in sich aufsteigen.

Der Prätor war schon da.

„Komm rüber!” Der CMTech rief sie in die Gegenwart zurück. Er winkte sie zu sich heran.

„Folgendes.” Der CMTech räusperte sich und senkte seine Stimme. „Ich erkläre es dir.“

Dor’El hoffte, jetzt endlich mehr zu erfahren und setzte sich vorsichtig auf den Behelfssitz neben der Konsole.

„Diese Frau ist etwas Besonderes”, setzte der CMTech an. Er schluckte.

„Sie befindet sich schon seit sehr vielen Zyklen bei uns. Sie war schon hier, bevor du geboren wurdest.” Dor’El wäre fast vom Sitz gerutscht und musste sich an der Konsole festhalten. Seit so vielen Zyklen? Wie alt mochte die Frau sein? Sie sah nicht alt aus. Kaum älter, als sie selbst, hatte sie vermutet, aber … seit vielen, vielen Zyklen? Wie vielen?

„Ja, schon bevor ich geboren wurde, um genau zu sein“, fuhr der CMTech fort und schenkte ihr ein angespannt wirkendes Lächeln.

„Seit wann genau, das weiß selbst ich nicht und auch in den Logs meines alten CMTechs stand nichts Genaues darüber, aber … sehr lange schon.” Der CMTech hob den Kopf und blickte sinnierend durch das Beobachtungsfenster. Dor’Els erstauntes Gesicht bemerkte er nicht.

„Und jetzt ist es soweit“, er machte wieder eine kurze Atempause. „Ja, bald wird sie erwachen.” Seine Stimme veränderte sich merklich. Sie zitterte ein wenig, bemerkte Dor’El.

„Sie erwacht und wir sind hier, um sie dabei zu begleiten. In allerhöchstem Auftrag.” Er hob die Augenbrauen. „Bist du mitgekommen?”

Dor’El ärgerte sich plötzlich ein wenig über diesen Mann und seine Bemerkungen, ließ sich aber nichts anmerken.

„Ja.” Sie musste sich räuspern. „Und was soll …”

Er unterbrach sie: „Hör zu! Oberste Priorität. Alleroberste Priorität hat jetzt diese Frau. Lass dich nicht ablenken und sprich mit niemandem darüber, was du machst.”

Er seufzte. „Du verstehst es natürlich wirklich nicht“, murmelte er. Aber Dor’El verstand sehr wohl und sie drehte den Kopf zum Beobachtungsfenster, damit er ihren verärgerten Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

Der CMTech nahm noch einige Einstellungen an der Konsole vor. Die Diagramme huschten über die Displays, aber dennoch konnte Dor’El einiges davon erkennen: Es ging um die Lebenszeichen der Frau im Beobachtungsraum. Der CMTech änderte die Schwellenwerte für die Anzeigen.

Sie tat so, als hätte sie nichts bemerkt. Er veränderte die Einstellungen, damit die Geräte keinen Alarm mehr auslösten? War das nicht ein Verstoß gegen den Kodex?

Dann stand der CMTech auf und blickte sie wieder direkt an. „Der Prätor wird hier postiert bleiben. Er kennt dich und Bor’sha und wird nur euch beide hier durchlassen. Er wird dir auch nicht in deine Unterkunft folgen.” Die letzten Bemerkungen hatte er in leicht erhöhter Lautstärke gesagt.

Vermutlich, so dachte Dor’El, damit es der Prätor an der Tür mitbekam. Sie musste schmunzeln. Jeder hatte Angst vor den Prätoren, aber auch sie unterlagen dem Kodex der Älteren und hatten die Aufgabe, die Gemeinschaft zu beschützen. Daran zu zweifeln, war durchaus etwas, was sie mit anderen teilte. Das war der einzige Zweifel, der ihnen im Kodex erlaubt war, aber dennoch wagte niemand, den Prätoren kritisch gegenüber zu treten.

„In den nächsten Tagen”, fuhr der CMTech fort, „wird sich hier vieles verändern: Du wirst an den Anzeigen sehen, dass sich viele Vitalfunktionen auf Norm-Maß anheben.”

Das hatte Dor’El bereits bemerkt. Sie nickte zustimmend.

„Gut. Melde dich, wenn etwas Außergewöhnliches passiert.“ Der CMTech riss an der Tür, rauschte aus dem Raum, verharrte kurz, musterte die schwarze Gestalt des Prätors und verschwand nach einem letzten Blick auf Dor‘El.

Dor’El saß am Beobachtungsfenster und blickte ihm nach, aber die Tür schloss sich nicht mehr von allein.

So stand sie auf und schob die Tür so weit zu, wie es ging. Dabei wagte sie nicht, den Prätor anzuschauen, sondern hielt ihren Blick auf den Boden gesenkt. Dann ging sie zurück zur Konsole.

Die blinkenden Muster hatten sich etwas beruhigt. Doch immer wieder flackerten neue Anzeigen auf und verschwanden wieder.

Dor’El fühlte sich allein. Allein und unsicher. Die Situation behagte ihr überhaupt nicht.

Wieder kam es ihr vor, als tauchte sie aus einer tiefen und dunklen Tiefe an die Oberfläche auf. Nicht, dass die undurchdringliche Dunkelheit jetzt vollkommen verschwunden war, aber sie hatte das Gefühl, als ob sie mehr und mehr Kontrolle über ihren Körper erlangte.

Wie immer ging sie die Checkliste durch: Atmung, Lage, Gefühl in Armen und Beinen, … kein Gefühl in den Füßen, aber wenn sie seit längerer Zeit ausgestreckt dalag, kein Wunder.

Sie versuchte mehr über die Umgebung zu erfahren. Ihr kam in den Sinn, dass sie Temperatur spüren können müsste - also sammelte sie alle Informationen, die sie erhalten konnte und stellte fest: keine besondere Empfindung. Die Umgebungstemperatur müsste sich wohl kaum von ihrer Körpertemperatur unterscheiden. Zu warm oder zu kalt fühlte sie sich nicht.

Sie hatte es geschafft, den Kopf zu drehen. Dabei stellte sie fest, dass es am Kopf etwas Widerstand gab. Vermutlich war sie in irgendetwas eingehüllt.

Das beruhigte sie ein wenig. Sie ging davon aus, dass sie nicht unbeobachtet war. Und der Gedanke, irgendwo nackt herum zu liegen, während sie beobachtet wurde, wäre ihr unangenehm gewesen.

Umso drängender war jetzt ihr Bestreben, auch einen optischen Eindruck über ihre Lage zu erhalten. Sie hatte bereits festgestellt, dass sie grundsätzlich etwas hören konnte, aber daraus konnte sie noch keine besonderen Schlüsse ziehen. Es war eine Mischung aus Pfeifen, Brummen, Klicken und Zischen - sogar ein Blubbern war von Zeit zu Zeit zu hören. Nichts, aus dem sie viele Informationen gewinnen konnte. Nein, sie brauchte einen Blick in die Umgebung.

Wieder versuchte sie, die Augen zu öffnen.

Sie brannten.

Immerhin.

Sie rollte innerlich die Augen, um die sich angesammelte Tränenflüssigkeit zu verteilen.

Ihre Augenlider schienen verklebt zu sein.

Wie lange mochte sie schon mit geschlossenen Augen hier gelegen haben?

Der Schmerz war heftig, aber erträglich.

Sie strengte sich an und vermochte die Augen ein wenig zu öffnen.

Ein diffuses Bild erschien.

Grautöne, mehrere helle Flecken, mehr nicht.

Lange konnte sie die Augen nicht offenhalten.

Der Schmerz und die Anstrengung ließen sie keuchen.

Das Ausstoßen der Luft hatte etwas von Befreiung. Sie fühlte sich, als ob sie sich langsam von Fesseln befreien konnte, die schwer auf ihr lasteten.

Fast musste sie husten.

Ihre Lippen klebten aneinander. Getrockneter und frischer Speichel bildeten kleine Fäden und Blasen.

Durch die Nase ein - durch den Mund aus.

Sie versuchte, auch hier die Blockade zu lösen. Mit Erfolg: Tiefe Atemzüge spülten Sauerstoff in ihre Lungen und sie fühlte sich zunehmend kräftiger. Diese Kraft brauchte sie auch dringend für weitere Versuche.

Mit großer Anstrengung drückte sie die Augen zusammen, bis sie wieder die Tränenflüssigkeit spürte. In der Hoffnung, diese Tränen würden die verklebten Lider lösen, versuchte sie es mehrfach, bis ihr die Kraft dafür ausging.

Eine Träne lief über ihre untere Wange, bis zum Ohr.

Sie spürte, wie es kitzelte - eine schöne Erfahrung.

Immer mehr Sinne schlossen sich dem allgemeinen Systemstart an. Was für ein technischer Terminus für rein biologische Funktionen und Reflexe. Sie lächelte innerlich. Das gab ihr Kraft.

Sie musste wohl kurz eingeschlafen sein, denn sie spürte sich entsprechend neu erwacht.

Schnell probierte sie wieder alle Funktionen durch und - tatsächlich: der stechende Schmerz, der sie so manches Mal in die Dunkelheit gerissen hatte, er war einem erträglichen, wenn auch anhaltenden Schmerz gewichen.

Sie fokussierte das graue Bild an:

Dort gab es hellere und dunklere Zonen.

Die helleren waren alle auf der der Unterlage abgewandten Seite - Lichter? Deckenlicht?

Ein helles Deckenlicht wäre für eine Medi-Station völlig normal.

Eine dunklere Zone zeichnete sich am Rand ihres noch nicht sehr klaren Sichtfeld ab - was mochte das sein?

Sie ging ihre Optionen durch:

- ich liege auf einem Tisch

- ich kann mich kaum bewegen

- ich weiß nicht, wie lange ich schon hier liege

- ich liege in einem Raum

- im Hintergrund sind rhythmische Geräusche zu hören

- die Geräusche könnten von Maschinen stammen, denn sie sind sehr gleichmäßig. Medizinische Maschinen?

- Vermutung: ich liege in einer Art von Medi-Station und die Geräusche stammen von lebensüberwachenden Systemen.

- Vermutung: ich bin allein im Raum - und ich werde beobachtet.

- Vermutung: die Beobachtung erfolgt durch einen Nebenraum.

- Vermutung: es gibt ein großes Beobachtungsfenster.

- Vermutung: ich erwache aus einer tiefen Phase der Bewusstlosigkeit.

- Vermutung: ich kann oder soll aufwachen, denn man versucht mir dabei zu helfen.

Wirklich?

War sie gerade wieder eingeschlafen?

Vielleicht zehrte das alles doch sehr an den Kräften. Kräfte, über die sie nach einer längeren Zeit in dieser Lage noch nicht wieder verfügte.

Umso mehr ein Grund, sich jetzt wieder bei den Lebenden zu melden.

Sie verzichtete auf ihren üblichen Check und konzentrierte sich.

Mehr oder weniger bekam sie die Augen auf, vermochte jedoch noch nicht, ein klares Bild zu fokussieren.

SCHMERZ

Der Prätor an der Tür war nicht mehr der einzige in der Klinik, wie Dor’El bald bemerkte.

War es ihr noch nie aufgefallen oder tauchten jetzt vermehrt Prätoren in den Gängen auf? Man sah sonst immer mal wieder eine Patrouille in den großen Gängen zwischen den Sektoren, aber selten eine direkt in der Klinik. Man ging ihnen aus dem Weg, wenn es irgendwie möglich war und nahm ihre Präsenz nur gelegentlich (und mit einigem Unbehagen) wahr.

Jetzt stand einer direkt vor der Tür zu ihrem Beobachtungsraum. Nur mit großer Überwindung drückte sie sich an ihm vorbei und in den Raum hinein. Erst, als sie die defekte Tür wieder zugeschoben hatte, legte sich der Druck auf ihrer Brust ein wenig.

Prätoren gehörten jetzt zum täglichen Bild in der Klinik: sie standen an den Kreuzungen und am Eingang zu den Unterkünften. Und immer, wenn sie an einem der Posten vorbei ging, verspürte sie einen Schauer in sich aufsteigen und ihr Magen zog sich ein wenig zusammen.

Sie schwang sich auf den Sitz, las im Log und ignorierte die Tatsache, dass Bor’sha sich einen Dreck um eine geregelte Schichtübergabe kümmerte. Hatte Bor’sha ihre Schicht überhaut komplett abgeleistet?

Sie blickte zum Chrono, aber das bestätigte nur, dass jetzt die Zeit der Übergabe war. Bor’sha war nicht da.

Den CMTech hatte sie auch länger nicht mehr gesehen. War es das, was er mit „es wird sich einiges ändern” gemeint hatte? Dass er die Visite ausfallen ließ?

Nein. Laut Log war die Visite gelaufen, aber nicht in ihrer Schicht.

Egal.

Sie hatte sich vorgenommen, sich strikt an die Weisungen zu halten und ihren Dienst genauso penibel auszuführen, wie es von ihr verlangt wurde. Zum Wohl der Gemeinschaft.

Sie wiederholte halblaut: „Zum Wohl der Gemeinschaft“, schüttelte kurz den Kopf und wandte sich dem Beobachtungsfenster zu.

Wie immer schob sie ihr Gesicht ganz nah an das Fenster, um viele Einzelheiten des nunmehr direkt vor ihren Augen liegenden Gesichts aufzunehmen.

Da öffnete die Frau die Augen!

Dor’El war erstarrt. Unfähig zu jeglicher Bewegung starrte sie zurück.

Die Fremde hatte tiefblaue Augen.

So eine Farbe kannte Dor’El nicht. Von Augen schon gar nicht.

Dieser Blick.

Er ging durch Dor’El hindurch und durchquerte den Raum.

Die Augen bewegten sich nicht.

Oder doch: Dor’El bemerkte eine kaum sichtbare Bewegung in beiden Augen. Sonst nichts. War das ein Blinzeln? Vermutlich. Dor’El bewegte sich am Fenster zur Seite, aber die Augen folgten ihr nicht. Es war faszinierend, in diese tiefblauen Augen zu schauen.

Als sie sich endlich losreißen konnte, ging ihr Blick zu den Anzeigen: keine signifikanten Veränderungen.

Und ein wenig war da doch: alle Werte waren wieder etwas höher, als gestern, aber - wie hatte der CMTech gesagt - alles innerhalb der Norm?

In der Norm für einen normalen Menschen?

War das ein normaler Mensch? Mit diesen Augen.

Schöne Augen. Die schönsten Augen, die Dor’El jemals gesehen hatte.

Dor’El legte jetzt ebenfalls den Kopf schräg und betrachtete die Schwingungen der Brauen und die Lage der Augen: Die Fremde hatte gleichmäßige, an den Rändern leicht spitz zulaufende Augen und lange, schwarze Wimpern.

Sie wurde ein wenig verlegen und rückte etwas vom Fenster ab.

Mit einem Mal tat ihr die Frau unendlich Leid. Ihr Blick hatte etwas an Traurigkeit, wie sie da lag, in dem hell erleuchteten Beobachtungsraum, auf dem sterilen Tisch. Sehr gern hätte Dor’El die Versiegelungen aufgebrochen, wäre in den Raum gegangen und hätte die Fremde in den Arm genommen.

Sie erschrak: was für Gedanken waren das?

Schnell blickte sie sich um.

Niemand war im Raum. Auch draußen, im Gang war niemand zu hören. Vermutlich lag das an der Anwesenheit des Prätors, die der CMTech angeordnet hatte.

Der Prätor. Manchmal vergaß Dor’El sogar, dass er dort stand und erschrak heftig, wenn sie den Raum verließ. Prätoren waren immer ein Schreckgespenst, vor dem jeder Angst hatte. Warum eigentlich? Sie wusste darauf keine Antwort, verdrängte den Gedanken jedoch und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Die Anzeigen auf der Konsole hatten in neue Bereiche gewechselt: viele standen auf Grün, nur noch wenige rote Lichter zeigten sich, es gab viel Gelb und einige waren sogar Blau.

Blau wie die Augen der Frau.

Blau.

Dor’El schluckte: Blaues Licht = Überfunktion? Hastig prüfte sie einige der Einstellungen, aber die Anzeigen blieben auf diesem neuen Stand.

Die Frau überforderte einige der Anzeigen. Wie war das nur möglich?

War sie doch kein Mensch?

Ihr Blick wanderte wieder zum Beobachtungsfenster und sie konnte ansatzweise erkennen, dass die Frau offenbar einige Muskeln anspannte, denn sie zeichneten sich deutlich an ihrem Hals ab.

Wieder zirpte eine Meldung auf der Konsole und eine Anzeige wechselte von Grün zu Blau. Dor’El kratzte sich unbewusst am Hinterkopf. Dort empfand sie plötzlich einen leichten Juckreiz.

Sie löste sich von den Anzeigen und schwang sich zurück zum Beobachtungsfenster.

Dort lag sie, die Frau, die erwachte. Die Frau, deren Medi-Werte nicht mehr mit denen übereinstimmten, die sie in der Bildung erfahren hatte.

Dor‘El legte den Kopf auf die Seite und schaute direkt in das Gesicht der Fremden. Die schloss die Augen, öffnete sie wieder und da trafen sich ihre Blicke.

Blau.

KAOTATU

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