Читать книгу KAOTATU - Rainer Gellrich - Страница 13
Оглавление6 – Wissen
Es wird immer im Gedächtnis der Gemeinschaft verbleiben: Der Exodus war eine unvermeidliche Folge des Schreckens. Der immense Schrecken, der durch das Chaos ausgelöst wurde und das Ende der bis dahin existierenden Zivilisation eingeläutet hatte.
Die Prüfungen, die der Exodus den Überlebenden auferlegt hat, werden dazu führen, dass nur diejenigen eine Zukunft gestalten können, die sich erfolgreich diesen Prüfungen stellen.
Der Verlust des Himmels ist eine davon.
Aus den Chroniken
Der Alarm riss sie aus einem tiefen Schlaf.
Sie hatte sich diesen Alarm gestellt, um vor der üblichen Zeit wach zu werden, aber es fiel ihr extrem schwer, aufzustehen. Kaum war sie halbwegs wach, da erinnerte ihr knurrender Magen sie daran, dass sie gestern Abend nicht viel gegessen hatte und ihre Kopfschmerzen daran, dass auch der Flüssigkeitspegel ihres Körpers zu niedrig war.
Nun immerhin konnte sie diesen Übeln abhelfen und während sie an einem Nährwürfel kaute und fast den gesamten Wasserzylinder leerte, kam sie zu dem Schluss, dass es auch der Frau im Beobachtungsraum ähnlich ergehen musste.
Die Ärmste.
Das Bild ihres Gesichts kam ihr wieder in den Sinn und sie dachte an die Augen: diese tiefblauen, traurigen Augen.
Dor’El wuschelte sich durch ihre kurzen Haare.
Es war noch viel Zeit, bevor sie sich in der Klinik melden musste. Dor’El wurde sich immer sicherer: Es musste einfach einen Grund geben, warum sie sich jetzt überhaupt derartige Gedanken machte - und warum früher nicht.
Diese Gedanken über den Kodex, die ihr vermutlich gar nicht zustanden. Die Gedanken über ihre Tätigkeit. Die Gedanken über die Frau und über den CMTech.
Diese Gedanken verstießen alle gegen den Kodex. Dennoch konnte sie sich diesen Gedanken nicht verwehren.
Sie war kein Mitglied der Älteren, also war es ihre Pflicht, dem Kodex zu folgen. Nicht, ihn in Frage zu stellen oder überhaupt Fragen zu stellen. Sich gegen den Kodex zu verhalten, war strafbar. Das wusste sie, aber dennoch stellte sie sich seit einigen Tagen immer wieder diese Fragen.
Das war absolut seltsam.
Schnell kleidete sie sich vollständig an und machte sich auf den Weg zur Lib.
Sie erinnerte sich kaum an den Weg. War sie hier wirklich schon einmal gewesen?
Sicher, irgendwo hier fand ihre erste Bildung statt und das war viele Zyklen her, aber die spärliche Beschilderung im Hauptgang wies den Weg dennoch deutlich aus. Es war notwendig, eine Ebene nach weiter oben zu gelangen.
Eine Ebene nach oben.
Das war ein Weg in eine andere Welt. Normalerweise spielte sich das gesamte Leben auf der Hauptebene ab. Die Wohnquartiere, die Räume der weiteren Bildung, alles lag auf der Hauptebene, aber die Lib lag eine Ebene darüber.
Sie konnte es kaum vermeiden, die in ihr aufkeimende Frage zu formulieren, warum ausgerechnet die Lib eine Ebene höher lag oder welche Bereiche dort noch liegen könnten. Nein, das stand ihr nicht zu. Sie hatte die Tatsache zu akzeptieren, wie es sich als Mitglied der Gemeinschaft geziemte.
So folgte sie der Ausschilderung und fand bald den richtigen Korridor, der zur Lib hinaufführte.
Es war kälter in diesen Gängen und sie spürte eine unangenehme Feuchtigkeit, die sich in Form eines schmierigen Schleims auf den Stufen niedergeschlagen hatte. Vorsichtig setzte sie einen Schritt nach dem anderen.
Die Luft wurde so kühl und feucht, dass Dor’El zu frieren begann. Vielleicht hätte sie sich doch noch einen Umhang mitnehmen sollen, den sie bei ihren Sachen in der Unterkunft hatte, aber sie war schon so viele Zyklen als MTech tätig, dass der übliche Kittel alles war, was sie als „Kleidung“ betrachtete.
Nun, es war jetzt auch egal – sie war jetzt auf dem Weg nach oben. Das allein war schon grenzwertig genug in ihren Augen. Sich jetzt noch Gedanken um Kleidung zu machen, war ein weiteres Zeichen einer Veränderung, die sie neuerlich an sich wahrnahm. Das erschreckte und faszinierte sie gleichzeitig.
Hier schien sonst kaum jemand zu gehen. Warum auch? Das Leben spielte sich auf der Hauptebene ab und in der oberen Ebene hatte niemand etwas zu suchen, der nicht gerade Studien in der Lib unternahm oder zur ersten Bildung gebracht wurde.
Sie wunderte sich zunächst ein wenig, dass das Licht in dieser Ebene nicht so hell leuchtete, aber auch das erklärte sie sich damit, dass sich hier nur wenige Menschen aufhielten. Energie zu sparen, war auch einer der Grundsätze des Lebens nach dem Kodex.
Der Kodex enthielt alles, was es zu wissen gab – mit allen Vorschriften und allem, was man über das Leben wissen musste. Und sie war jetzt auf dem Weg, mehr über dieses Leben herauszufinden? War das nicht schon seltsam genug, um als Beweis gegen ihre Untreue gegen den Kodex vorgelegt zu werden.
Beinahe wäre sie auf einer glitschigen Stufe ausgerutscht und sie griff schnell nach dem klammen Handlauf, den es hier gab.
Es gab vereinzelt Zwischenstufen in den Gängen. Im Gegensatz zu den schnurgeraden und ebenen Gängen der Hauptebene gab es hier oben viele kleine Anstiege und Abknickungen. Das Licht war dürftig und so konnte man schnell stolpern, wenn man nicht genau auf den Weg achtete.
Der Gang weitete sich und als sie den Kopf hob, sah sie den Eingang der Lib vor sich. Sie nahm all ihren Mut zusammen und öffnete das doppelflügelige Portal zur Eingangshalle der Lib.
Sie fühlte sich plötzlich klein und blickte voller Ehrfurcht von der Halle aus zu den Fensterreihen hinauf, die sich innen um die Halle nach oben zogen. Weiter nach oben, als sie erkennen konnte. Was mochte da alles sein? Die Fenster waren alle dunkel. Die Halle erstreckte sich über viele Ebenen nach oben. Fasziniert schaute sie sich um.
„Ja?“ Eine schneidende Stimme hallte in der Eingangshalle.
Dor’El wirbelte herum.
Ganz am anderen Ende – dem Eingangsportal gegenüber – saß eine kleine Gestalt hinter einem dunklen Pult. Eine dunkel gekleidete Gestalt hinter einem dunklen Pult im Dämmerlicht der Eingangshalle. Dor’El kniff die Augen zusammen, um sie näher zu fokussieren.
„Was möchtest du?“, die Gestalt klang ungeduldig. „Tritt näher.“
Dor’El riss sich zusammen und versuchte gleichmäßigen Schritts bis zum Pult vorzugehen, ohne dabei die Luft anzuhalten. Ihre Schritte hallten durch die Stille.
„Meine Grüße sende ich dir zu“, sie versuchte es mit ausgesuchter Höflichkeit, da sie die Gestalt immer noch nicht viel besser zu erkennen vermochte. War das eine Frau oder ein Mann?
„Grüße.“ Die Gestalt hob den Kopf. Dor’El erkannte eine ziemlich alte Frau. Langes, graues Haar wallte unter einer dunklen Kapuze hervor. Gekleidet war die Frau in eine lange, dunkelgraue Robe mit Kapuze. Um ihren Hals trug sie ein Amulett. Darauf abgebildet war ein Symbol: ein Kreis mit einem Stil daran und ein durchbrochenes Quadrat am anderen Ende. Dor’El erkannte dieses Symbol: Die Gestalt war die Oberste Lib. Die Hüterin des Wissens.
„O Hüterin. Ich bin gekommen, …“, begann Dor’El, doch die Hüterin unterbrach sie: „Hast du einen Auftrag? Du scheinst mir zu alt für eine Aspirantin der Bildung zu sein.“
„Nein, Hüterin, ich habe keinen Auftrag.“ Dor’El formulierte mühsam: „Ich suche nach Wissen.“
Es entstand eine kurze Pause.
„Da bist du hier ganz richtig, meine Liebe.“ Die Stimme der Hüterin klang jetzt weniger streng. „Welches Wissen suchst du?“
„Jetzt nur keinen Fehler machen!“, dachte Dor’El und sagte laut: „Ich möchte mein Wissen der MTech vertiefen. Ich soll bald eine neue Aufgabe erhalten.“ Das war gelogen und Dor’El hoffte, dass die Hüterin dies nicht in ihrer Stimme oder im Ausdruck ihres Gesichts bemerkte.
Zu lügen war ein Verstoß gegen den Kodex. Würde die Hüterin es bemerken?
Aber entweder war das Licht im Raum wirklich sehr schlecht oder die Hüterin war nicht so aufmerksam, wie Dor’El es befürchtet hatte, denn diese antwortete: „Das ist gut. Da bist du hier richtig. Ich werde dir den Zugang zu deinem Fachgebiet einrichten.“
Dor’El hatte den Atem angehalten und atmete jetzt vorsichtig aus. Sie war zutiefst erleichtert und bemühte sich, die Cards, die ihr die Hüterin hinhielt, nicht zu hastig aus ihrer Hand zu nehmen.
Zuletzt reichte ihr die Hüterin noch eine blaue und eine gelbe Karte.
„Das ist das Hauptverzeichnis. Du solltest hiermit alles finden können, was du brauchst.“ Sie deutete dabei auf die gelbe Card.
„Und nun geh. Nimm dir die Zeit, alles zu studieren.“ Die Hüterin lächelte sie an. „Solltest du dennoch Fragen haben – hier findest du mich. Fast immer.“
„Danke.“ Dor’El war überwältigt. Was hätte sie noch fragen können? Das war alles?
Doch die Hüterin hatte schon wieder den Kopf gesenkt und war mit dem Inhalt eines Pads beschäftigt. Dor’El sah, wie die aufleuchtenden Symbole das Gesicht der Hüterin erhellten und zog sich zurück.
Sie suchte nach einer Lesenische, schlüpfte in den Alkoven und aktivierte das Terminal.
Als das Symbol der Bildung auf dem Display erschien, nahm sie sich das Headset und aktivierte es.
Sie wusste genau, wie das Headset zu handhaben war, aber blinzelte doch, als vor ihren Augen die ersten Informationen erschienen.
Zunächst durchsuchte sie die gelbe Karte und erkannte schnell, dass alle Informationspfade über MTechs hell markiert waren. Dennoch war ihr der Zugang zu den anderen Themengebieten nicht versperrt. Sie waren in dunkleren Farben gekennzeichnet, aber in ihren Augen leuchteten sie noch heller und schienen sie förmlich aufzufordern, von ihr geöffnet zu werden.
Die meisten Cards, die die Hüterin ihr gegeben hatte, beschäftigten sich natürlich alle mit Grundlagen über die Tätigkeit einer MTech. Dor’El konnte sie relativ schnell durchblättern, denn über diese Inhalte hatte sie ihre Bildung zur MTech absolviert. Sie brauchte die Therorie nicht zu wiederholen, da sie ja bereits als MTech arbeitete und viele der auf den Cards beschriebenen Themen in der Praxis beherrschte. Sie hatte sich die Cards ja eigentlich nur geben lassen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr wahres Interesse galt anderen Themen.
So stopfte sie die Cards in die Taschen ihres Kittels. Eine nach der anderen. Übrig blieben nur die blaue und die gelbe mit dem Hauptverzeichnis.
Die blaue Karte enthielt Dinge, die Dor’El doch noch nicht wusste: Aufzeichnungen über die räumliche Struktur der Klinik auf der Hauptebene, die Geschichte der Entwicklung der medizinischen Geräte, die Dor’El zwar bedienen konnte, über deren Funktionen sie jedoch relativ wenig wusste. Sie erhielt auch Hinweise zu den diensthabenden CMTechs, besonderen Patienten und Vorkommnissen. Das war nicht Teil ihrer Bildung gewesen. Neugierig durchstöberte sie die Card.
Waren diese Informationen so einfach zu erhalten? Müsste sie die Hüterin nur danach fragen? Würde sie hier alle Antworten auf ihre vielen Fragen finden? Es schien ihr plötzlich zu einfach.
Es war bestimmt ein Zufall, dass sie gerade jetzt diese Card erhalten hatte. Vielleicht, weil sie der Hüterin gesagt hatte, sie würde sich auf eine neue Tätigkeit als MTech vorbereiten? Oder wollte man sie prüfen, ob sie gegen den Kodex verstoßen würde?
Sie würde sehr vorsichtig sein müssen, beschloss sie. Wenn dieser Besuch ohne Folge bliebe, dann könnte sie sich glücklich schätzen.
Plötzlich fiel ihr Blick auf das eingeblendete Chrono in ihrem Terminal: sie hatte nur noch wenig Zeit bis sie ihren Dienst antreten musste. Sie musste unbedingt mehr Zeit einplanen, um alles genau durchzuarbeiten. Beim nächsten Besuch. Wenn es einen nächsten Besuch geben würde.
Schnell schaltete sie alles ab, holte alle Cards aus den Taschen und legte sie - bis auf die gelbe und die blaue Card in die Rückgabe. Von der Hüterin konnte sie sich nicht verabschieden, denn das Pult schien verlassen zu sein und so ging sie mit schnellen Schritten durch die Halle und durch das Portal.
Beinahe wäre sie die Treppe zur Hauptebene heruntergerutscht, wenn sie sich nicht gerade noch hätte festhalten können. Zum Glück hatte sie sich mit dem grünen Schleim auf der Treppe nicht beschmiert. Wie hätte sie diese Verunreinigung bei einer Kontrolle erklären können?
Schnell überzeugte sie sich noch einmal, dass sie sich weder verletzt, noch beschmiert hatte, klopfte den anhaftenden Schleim von den Schuhen und beeilte sich, den Hauptkorridor noch rechtzeitig zu erreichen, um in der Menge unterzutauchen, die sich jetzt - zu Schichtwechsel - durch die Gänge schob.
Etwas außer Atem übernahm sie die Schicht von Rag’ne und ging schnell die Einstellungen und das Log durch: alles innerhalb der gegebenen Parameter. Den restlichen Tag über gab es auch keine Veränderungen bei der Fremden, so sehr Dor’El es sich auch gewünscht hätte. Sie schien wieder zu schlafen.
In den nächsten Tagen ging es immer so weiter: Dor’El schob quasi eine dritte Tagesschicht ein, in der sie in der Lib weiter ihren Studien nachging. Es gab noch so viel zu wissen und sie fühlte sich wie ein trockener Schwamm, der alles aufsaugen würde, was ihr angeboten wurde.
Nach einigen Tagen hatte sie auch den Inhalt der blauen Card vollständig durchgesehen. Am Ende fand sie einen Verweis auf einen codierten Schlüssel. Mit dem Code konnte sie im Hauptverzeichnis tatsächlich einen weiteren Zweig eröffnen, aber der Inhalt blieb ihr verwehrt. Es öffneten sich zwar weitere Verzeichnisse, aber es wurde ein Code von ihr verlangt, den sie noch nicht kannte.
Die Hüterin hatte es ihr ja angeboten und so ging Dor’El am folgenden Tag direkt zu ihr ans Pult.
„Hüterin?“, begann sie vorsichtig.
„Ja, mein Kind?“
„Hüterin, ich komme bei meinen Studien nicht weiter.“
„Warum nicht, mein Kind? Was hindert dich?“ Die Hüterin schaute von ihrem Pad auf und Dor’El bemerkte, dass die Hüterin kleine, lustige Augen hatte, die so gar nicht zu ihrem Alter zu passen schienen.
„Ich benötige einen Zugangscode zu einem wichtigen Thema“, erklärte Dor’El.
„Ach so. Lass mal sehen.” Dor’El bemühte sich, ihre Überraschung nicht offen zu zeigen. Das war wieder so einfach?
Die Hüterin streckte die Hand aus und Dor’El gab ihr die blaue Card.
Nachdem die Hüterin die Card in ihrem Pad aktiviert hatte, begann sie, deren Inhalt aufzurufen.
„An welcher Stelle?“ Die Frage der Hüterin war knapp und präzise, wie immer.
„Kapitel 16.8, Absatz E.“ Dor’El hatte sich die Stelle gut gemerkt.
„Ah. Ich sehe es. Hmm.“ Die Hüterin aktivierte die Tastatur, die zwischen Dor’El und ihr erschien und tippte einige Dinge ein. Dor’El konnte die Eingaben nicht erkennen.
„Du brauchst Zugang zu den Fortsetzungen und Vertiefungen?”, nuschelte die Hüterin und sah kurz auf.
„Öh. Ja, vielleicht”, brachte Dor’El heraus.
„Kein Problem“, sprach die Hüterin, ohne erneut aufzusehen. „Ich muss deinen Zugang nur etwas erweitern.“ Sie tippte weiter. „So, jetzt sollte es gehen.“
Sie warf die Card aus und schob sie Dor’El über das Pult wieder zu.
Die konnte es kaum glauben. „Danke“, stammelte sie, nahm die Card und hätte sich beinahe nicht von der Hüterin verabschiedet. Doch die alte Frau war längst schon wieder mit dem Inhalt eines anderen Pad beschäftigt und so machte sich Dor’El schnell wieder auf den Weg in die Klinik, denn sie hatte auf einem Schema der Hauptebene, das sie in der gelben Card gefunden hatte, Räume der Klinik entdeckt, die ihr vorher so nie aufgefallen waren.
Heute wollte sie ihre Zeit nicht mit dem Studium von Cards verbringen, sondern dies unbedingt direkt überprüfen. Wenn erst die Zeit des Wachwechsels angebrochen war, wäre das – wegen der vielen MTechs in den Gängen – nicht mehr möglich. Immerhin wollte sie ja kein Aufsehen erregen und sie sorgte sich um die Wachen in den Gängen.
Den Weg über die Treppe überwand sie jetzt auch besser und sie wusste, sich an den schwierigen Stellen festzuhalten. Deutlich war die von ihr getretene Spur in dem schleimigen Moos zu erkennen, welches die Treppe fast gänzlich überzogen hatte und auch Teile der Wand bedeckte. Mittlerweile zog sich eine dünne Spur über alle Stufen, da sie die Treppe für ihre täglichen Besuche nutzte.
Sie hoffte, das würde niemandem auffallen, aber immerhin war es ja grundsätzlich nicht verboten, die Lib zu besuchen. Die Spur war auch nur auf dem Rückweg so deutlich zu erkennen, denn auf dem Hinweg mussten sich die Augen immer erst an die dämmrige Beleuchtung gewöhnen.
Die grundsätzliche Frage war eher so zu formulieren: warum benutzten so wenige Menschen diese Treppe zur Lib, dass ausgerechnet sie eine Spur hinterließ?
Noch mehr Fragen, dachte Dor’El. Nein, sie hatte keine Lust auf noch mehr Fragen. Sie wollte jetzt Antworten und deshalb nahm sie dies alles auf sich. Sie spürte zwar schon die Auswirkungen: eine drückende Müdigkeit, denn sie kam nicht mehr dazu, sich vollständig auszuruhen, aber ihre Unruhe trieb sie immer weiter voran.
Nur wenige Kreuzungen später konnte sie ihr neues Wissen anwenden: Hier gab es einen Gang, dessen Eingang im Dunkeln lag. Mehr als nur einmal war sie an ihm vorbei gegangen, ohne ihn zu bemerken.
Auf den Karten, die sie jetzt in der Lib studiert hatte, waren einige dieser Gänge besonders markiert, da sie wohl nicht mehr in Benutzung waren.
Eine richtige Erklärung hierfür gab es nicht und Dor’El fragte sich, ob es wohl viele Teile am Rand der Klinik gäbe, die normalerweise nicht genutzt wurden.
Ihr Interesse an weiteren Informationen wuchs stetig. Vor einigen Tagen hatte sie etwas entdeckt, was als „historische Aufzeichnungen“ bezeichnet wurde. Das reizte sie sehr. In der Klinik gab es kaum Veränderungen und so freute sie sich über die Gelegenheit, mehr zu erfahren, als ihre Bildung enthielt.
Die Fremde erwachte zwar immer wieder kurz, aber sonst gab es nicht viel Abwechslung im Lauf der Tage.
Dor’El hatte im Log die Bestätigung gefunden, dass sie selbst seit vielen Zyklen immer nur relativ wenig getan hatte. Sie wechselte sich jeden Tag mit einer Kollegin ab, um die fremde Frau zu beobachten und ein paar Werte von den Anzeigen aufzuzeichnen. Mehr nicht. Ihr war bisher nie in den Sinn gekommen, dass dies eine relativ eintönige Tätigkeit wäre oder eventuell nichts, was sie ihr ganzes Leben hindurch machen möchte.
Das war die Tätigkeit als MTech, die ihr zugewiesen worden war. Der Auftrag der Älteren für das Wohl der Gemeinschaft. War das alles?
Schon diese Hinterfragung war ihr nie in den Sinn gekommen, was natürlich neue Fragen aufbrachte. Irgendjemand musste das ja machen und es war ihre Tätigkeit. Was war daran falsch?
Gedankenverloren schüttelte Dor’El den Kopf und kratzte sich den Hinterkopf. Da war ein Juckreiz, der sie schon seit einigen Tagen störte. Nichts Ernstes.
Immer mehr Fragen kamen ihr in den Sinn, aber sie hatte auch schon viele Antworten gefunden. Sie musste sich in Geduld üben, was ihr sehr schwerfiel. Das ganze Leben – so hatte sie den Eindruck – verlief jetzt viel schneller.
Nun, immerhin musste sie dadurch noch mehr aufpassen, ihre Pflicht nicht zu vernachlässigen, denn würde sie nicht rechtzeitig zur Ablösung erscheinen, hätte das mit Sicherheit ernste Konsequenzen. Bor’sha war von der Tätigkeit entbunden worden, weil sie gegen die Anordnungen des CMTech verstoßen hatte. Sie hatte sie seitdem nicht wieder gesehen. Ohne Grund hatte man auch die Prätoren nicht postiert. Hier passierte etwas sehr Wichtiges und sie war ein Teil davon.
Aber genau das mit der Geduld war so eine Sache. Jeden Tag forschte sie nach weiteren Informationen in der Lib. Die Hüterin lächelte sie schon von Weitem an, wenn sie die Türen zur Eingangshalle aufstieß und seit einigen Tagen hatte sie begonnen, neue Cards für sie heraus zu suchen, ohne dass Dor’El danach fragen musste.
Dor’El konnte es immer kaum abwarten, welches Thema oder welche Fortsetzung sie erwartete, und so langsam verdichtete sich ihr Wissen immer mehr. Die Hüterin legte ihr Cards mit allgemeinem Wissen heraus und immer wieder welche mit geschichtlichen Aufzeichnungen.
Und es war nicht nur die Geschichte der Klinik, die ihr Interesse weckte: Geschichte generell. Historische Aufzeichnungen aller Art und dazu passende Pläne.
Mit den Fragen, die sich aus den neuen Informationen ergaben, konnte sie nach neuen Antworten suchen, die oft wieder zu neuen Fragen führten. Es hatte schon Tage gegeben, da war sie über den Lesegeräten eingeschlafen und war nur mit großer Mühe rechtzeitig zu ihren Pflichten erschienen, aber es erschien es ihr wert zu sein, das auf sich zu nehmen. Zum Glück war es nicht aufgefallen.
Sie begann, die gewonnenen Informationen in Teilbereiche zu gliedern, um die Übersicht nicht zu verlieren:
Geschichte der Klinik – Aufzeichnungen über besondere Fälle.
„Besondere Fälle“ – Zählte die geheimnisvolle Frau auch dazu?
Geschichte der Menschheit – Der Exodus.
Sie musste zunächst nach der Bedeutung des Wortes „Exodus“ forschen und erschrak, als sie die Bedeutung begriff. Was für ein Exodus? Was war geschehen?
Das Leben im Untergrund – Auswirkungen.
Im Untergrund? Auch das musste sie sich zuerst erklären lassen.
Als sie sich durch die Erläuterungen durchgearbeitet hatte, rüttelte dieses neue Wissen gewaltig an ihrem Weltbild.
War das der Grund, warum es Gänge und Hallen gab? Dor’El war nie in den Sinn gekommen, dass es ein Oben geben könnte und sie sich in einem Unten – unter der Oberfläche? – befinden könnte.
Sie lebten in einem Gangsystem. Die Gänge lagen in Ebenen. Da ging es nach oben und vielleicht auch nach unten, aber von welcher „Oberfläche“ war die Rede. Sie waren unter der Oberfläche von was? Hier lebte doch die Gemeinschaft. Wo denn sonst? War das nicht schon immer so? Gab es denn eine Zeit, in der das nicht so war? Wo sollte die Gemeinschaft denn sonst leben? Hier war doch alles, was man brauchte.
Die Menschen lebten - nach einem „Exodus“ unter der Oberfläche. Wo lebten Menschen denn früher? Die Gemeinschaft der Menschen lebte … hier. Das wusste doch jeder – und das war auch gut so.
Oder nicht?
Das alles war sehr verwirrend und sehr erschreckend.
Was sie hier erfuhr waren jedoch zusammenhängende und schlüssige Fakten. Es gab klare Beweise für die dargelegten Fakten.
Dor’El war in ihrem tiefsten Inneren erschüttert, dennoch gab sie nicht auf, sondern folgte den dargestellten Pfaden zu neuem Wissen. Einem Wissen, welches nicht zu ihrer Bildung gehörte. Wissen, welches sie aus den Cards aufsaugte.
So bildete sich eine Grundlage, auf der sie nun weiter forschte. Es gab viele Informationen, die sie in ihrer Bildung so noch nie erhalten hatte und sie bezweifelte, dass irgendjemand sonst über dieses Wissen verfügte.
Die Gemeinschaft der Menschen lebte in einer Ansammlung von Hallen, Räumen und Gängen unter der Oberfläche … eines Planeten.
Was für ein Weltbild.
Schnell suchte sie nach diesem Wort und ließ sich die Bedeutung anzeigen: ein Planet.
Ein Planet, ein Sonnensystem. Eine Sonne.
Eine Stadt. Ein Planet.
Es überwältigte sie. So viele neue Begriffe. So viele Aspekte. Eine Stadt im Untergrund eines Planeten … unter der Oberfläche eines Planeten?
Nach dem Exodus: Menschen lebten seit dem Exodus in Gängen, Tunneln und Hallen unter der Oberfläche des Planeten.
Sie grübelte darüber nach, was das alles zu bedeuten hatte, bis ihr plötzlich ein Gedanke kam und sie ein Schema des menschlichen Körpers aufrief.
MTech-Wissen. Damit kam sie leicht klar. Sie drehte das Schema so, dass eine liegende Position des Körpers angezeigt wurde. Das erinnerte sie an die Fremde, aber sie verdrängte diese Gedanken schnell und rief die Darstellung der Blutversorgung im menschlichen Körper auf und zog den Fokus auf einen Arm der angezeigten Schematik.
Die sich auf dem Display entwickelnde Struktur zeigte das, was sie erwartet hatte, denn natürlich gehörte die menschliche Anatomie zu den Grundlagen ihrer Bildung als MTech, aber heute ergab sich dabei noch ein ganz anderer Zusammenhang für Dor‘El: Sie sah die Verzweigungen der Blutbahnen unter einem anderen Hintergrund und verglich sie mit den Gängen, die sie kannte.
Die Gänge zwischen ihrer Unterkunft, der Klinik, den Laboren und Materialräumen. Die Gänge, in denen das Leben ablief. Die Gänge, in denen die Gemeinschaft der Menschen lebte, wie sie es kannte. Auch sie verzweigten sich von einem Hauptstrang her. Auch im menschlichen Körper verliefen die Adern nicht alle in einer Ebene, sondern verzweigten auch vertikal so, dass sich Ebenen darstellen ließen. Zwar nicht geometrisch korrekt, aber die Adern verliefen nicht nur in einer Ebene. Das war die grundsätzliche Beobachtung. Dor’El verstand diesen Zusammenhang jetzt.
Vermutlich war es mit den Gängen hier „unten” genauso. Nicht nur die Tatsache, dass sich die Lib „eine Ebene über der Hauptebene” befand, war von ihr akzeptiert worden, sondern über dieses Schema wurde sie jetzt mit der Idee eines grundsätzlich neu zu formulierenden Weltbildes des gesamten Gangsystems konfrontiert.
Die sich daraus ergebende Frage war: Wie viele Ebenen mochte es geben - und: warum war ihr das bis heute nicht bekannt oder bewusst gewesen? Ganz klar: es hatte sie nicht interessiert und niemand hatte es ihr gesagt. Neue Frage: warum interessierte sie es jetzt? Sie schüttelte den Kopf. Das Leben wurde immer komplizierter. Je mehr sie wusste, desto mehr verwirrte es sie.
Dennoch: Es gab noch so viele Informationen. Noch so viel zu lernen.
Sie musste einen ganzen Tag aussetzen. Nicht nur, um sich erst einmal wieder richtig zu erholen, sondern auch, um darüber nachzudenken, was sie durch ihre Besuche der Lib für neues Wissen erhalten hatte.
Mit dem Gefühl, dass sie jetzt zwar mehr über „das Leben” wusste, sich aber daraus immer mehr Fragen ergaben, für die sie noch weitere Antworten suchte, begab sie sich in ihre Unterkunft.
Morgen würde sie nur in der Klinik arbeiten und sich ausgiebig regenerieren, beschloss sie. Vielleicht konnte sie sich später wieder mit den Informationen in der Lib beschäftigen. Die Cards steckte sie vorsichtshalber ein. Sie wollte zu gern wissen, was darin noch zu finden war.
Am nächsten Morgen wurde sie bereits vom CMTech erwartet.
„Dor’El. Wie gefällt dir deine Aufgabe?“ Sie wunderte sich. So eine Frage entsprach nicht den üblichen Fragen, die der CMTech zu Dienstbeginn stellte. Wo war Rag’ne?
Sie schaute sich schnell um. Nur der CMTech. Keine Rag’ne.
„Ich grüße dich …“, begann sie, doch sie wurde sofort unterbrochen.
„Dor’El. Ist alles in Ordnung mit dir?“
Sie blickte sich erneut um, konnte aber nichts entdecken, was sich von dem unterschied, was sie hier sonst so erwartet hätte.
„Ja, sicher“ Sie schluckte. Was mochte jetzt kommen.
„Dor’El.“ Der CMTech sprach sehr betont und steckte beide Hände in die Taschen seines Kittels.
„Dor’El, ich muss dir etwas mitteilen.“ Jetzt wirkte er etwas verunsichert. Er blickte auf den Boden, als er weitersprach.
„Dor’El, …“, wiederholte er. Sie blickte ihn an und studierte sein Gesicht. Sie kannte doch ihren Namen. Warum wiederholte er ihn ständig. Sah sie in seinem Gesicht eine Spur von Besorgnis? Das wäre eine neue Erkenntnis.
„.. ich …“, kam es zögernd von ihm. Ihre Ungeduld meldete sich. Sie hatte sich in den letzten Tagen daran gewöhnt, viele Informationen schnell aufzunehmen und nun stotterte der CMTech hier so herum und kam nicht damit heraus, was er von ihr wollte. Sie atmete tief ein und aus.
Geduld.
„… also, … nun …“, er räusperte sich. Es schien ihm schwer zu fallen, Dor’El das zu sagen, was er sagen sollte. „Es ist so.“ Er drehte sich halb herum und deutete mit dem Kopf auf das Fenster.
Das Fenster.
Sie blickte ebenfalls hin und auf die dort liegende Frau in ihren Fesseln. Wieder stieg eine Welle aus Mitleid und Wut in ihr hoch.
„Ja?“ Sie wollte ihn auffordern, endlich auf den Punkt zu kommen.
Dort lag die Fremde. Dor’El mochte den CMTech nicht anschauen. Voller Angst betrachtete sie die Fremde. Sie ahnte, was kommen würde.
„Dor’El, wir werden dich … Ich werde dich von dieser Tätigkeit entbinden müssen.“ Jetzt war es heraus. Er wirkte gleichzeitig erleichtert und besorgt.
„Was?” Sie blickte jetzt wieder den CMTech an, aber die Situation hatte sich verändert. Sie war es jetzt, die ihn fest anblickte und er wirkte unsicher. Er vermied einen direkten Blick. Das fiel ihr sofort auf. Irgendwie hatte sie sich enorm verändert.
Ihr Verhältnis hatte sich auf einmal komplett gedreht. War es ihre Veränderung, die sich so tiefgreifend auswirkte? Nun, sie wollte sich keine weitere Frage stellen, sondern Antworten bekommen. Überall. Auch hier. Sie hatte sich wirklich verändert.
Warum? Früher hätte sie es sich nie getraut, so eine Frage zu stellen. Jetzt aber kam es ihr vollkommen normal vor, es zu tun. Der CMTech hingegen wirkte noch verwirrter, als sie es tat. In ihr wuchs ein Gefühl von Erleichterung. Früher hatte sie den CMTech beinahe ein wenig gefürchtet – jetzt aber fühlte sie sich gleichwertig. War das eine Folge ihrer Studien? Wieder eine Frage.
Sie beschloss, das nicht in Frage zu stellen, sondern es als neue Tatsache anzunehmen. Und so blickte sie ihm direkt ins Gesicht, als sie die Frage wiederholte: „Warum das jetzt? Was habe ich getan?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Das ist eine höhere Entscheidung.“ Der CMTech hatte sich ein wenig gefangen. Er sprach hastig. Sein Blick wanderte kurz zur Tür.
„Deine Aufgabe wird Rag’ne übernehmen. Gib mir bitte deine ID.“ Langsam streckte er eine Hand aus.
Dor’El griff mechanisch an ihren Kittel und entfernte einen Teil ihrer dort befestigten Clips. „Gut“, sagte sie beinahe beiläufig. Sie wollte es nicht hinterfragen, sondern abwarten, was als nächstes geschehen würde.
Sie reichte ihm den kleinen Clip, den er sofort in einer Tasche seines Kittels verschwinden ließ. „Wer übernimmt die zweite Schicht?“ Es reizte sie plötzlich, seine Unsicherheit noch etwas auszunutzen. Vielleicht erfuhr sie ja doch noch mehr, als der CMTech zunächst preisgeben wollte.
„Das ist noch nicht entschieden.“ Der CMTech suchte nach dem Log. „Bitte schließe deinen Bericht hier ab.“ Er reichte ihr das Log und sie drückte ihren rechten Daumen auf das dafür vorgesehene Feld.
„Du darfst dich in deine Unterkunft zurückziehen.“ Der CMTech verfiel wieder in seine bestimmende Rolle. „Den Kittel darfst du erst einmal behalten. Das wird sich alles in den nächsten Tagen regeln.“ Er trat ein wenig von der Tür zurück.
„Bitte verlasse jetzt diesen Teil der Klinik, danke“, sprach er jetzt in einem ruhigen Tonfall. Er deutete auf die Tür und senkte den Blick.
War es ihm unangenehm?
Dor’El murmelte noch einen Abschiedsgruß und folgte seiner Anweisung. Auf dem Gang drehte sie sich noch einmal um und sah, wie der CMTech mit den Prätoren sprach. Als sie in ihre Richtung blickten, wandte sie sich schnell wieder auf den Weg zum Hauptkorridor und folgte diesem bis zu ihrer Unterkunft. Das Erforschen der Räume, die ihr aufgefallen waren, würde warten müssen. Jetzt musste sie erst einmal diese neue Situation für sich klar bekommen.
Mit dem Schließen der Tür zu ihrer Unterkunft fiel eine große Last von ihr ab.