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Die Opfer der Verschwörung: Arbeiter, Christen, Juden

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Begründung und Erläuterung der Anklagepunkte bilden den Hauptteil der Rede. Aber im Unterschied zur Anklageschrift stellt Jackson an den Beginn eine ausführliche Schilderung des Weges der NSDAP an die Macht. Das ist aus Gründen der Chronologie und auch im Sinne der Verschwörungsthese naheliegend. Er will – wiederum mit den Kriterien des Juristen und nicht denen des Historikers – die verbrecherischen Züge herausarbeiten: Nicht dass eine Partei die nationale Selbstbestimmung gegen die Versailler Verträge auf ihre Fahnen schreibt, ist sein Vorwurf, sondern dass von Anfang an klar war, dass sie die Revision von Versailles und die weitergehenden Ziele unbedingt und notfalls mit Aufrüstung und Krieg102 durchsetzen will; dass Juden von Anfang an unter diskriminierende Gesetze fallen und aus öffentlichen Ämtern entfernt werden sollen; dass die Zeitungen von Anfang an als Systempresse angegriffen werden; dass gegen Gemeinschaftsschädlinge gehetzt wird; dass der Glaube an die germanische Rasse als neue Religion durchgesetzt werden soll. Die NSDAP ließ sich nicht auf die Konkurrenz der Parteien in einer pluralistischen Demokratie ein, sie verfolgte ihre Ziele notfalls gewaltsam. Jackson verweist auf die Doppelstrategie von Gewalt und parlamentarischem Weg. Das erste Ziel im Rahmen des Gesamtplanes war der totalitäre Polizeistaat,103 das nächste die Befestigung der Nazi-Macht, dann die Herrschaft über Europa.

Neben dem Parteiprogramm, der Schrift „Mein Kampf“ und den tatsächlichen Stationen von Machtergreifung, Terror und Kriegsvorbereitung identifiziert Jackson den „Vernichtungsplan des Nazi-­Programms“104 am deutlichsten in einem brieflichen Statement des Generaloberst von Fritsch vom 11. Dezember 1938, in dem dieser drei zu gewinnende Hauptschlachten benennt.105 Jackson gliedert seine Analyse analog zu diesen drei vom deutschen General markierten Gruppen.106 Er stützt sich also auf eine eher marginale Äußerung, die sicherlich die NS-Ideologie kennzeichnet, aber kaum beanspruchen kann, die Entwicklung der NS-Politik maßgeblich beeinflusst zu haben und gewiss keine bedeutende historische Quelle darstellt.

Der amerikanische Liberale Jackson scheut sich, direkt die Organisationen der Arbeiterbewegungen in Deutschland zu nennen und spricht lieber etwas zu allgemein von „den Arbeitern“. Auch der Bolschewismus als der von den Nazis deklarierte Hauptfeind kommt in der Rede nicht vor. Aber ohne Zweifel war ein Hauptziel des Nationalsozialismus, die SPD und vor allem die KPD auszuschalten. Auch der indirekte Bezug auf die Organisationen der Arbeiterbewegungen als internationale und damit nicht-nationalistische und nicht-­militaristische, sondern eher pazifistische Strömungen ist plausibel, ebenso wie der auf das Judentum als den „Hauptfeind“ in der ideologischen Schlacht. Das Ziel des Planes, so Jackson, konnten die Nationalsozialisten hier nahezu ganz erreichen, geschätzte 60 Prozent der europäischen Juden seien ermordet worden.107 In der Rede kommen hier auch schon detaillierte Zahlen und Beispiele vor: Vernichtung der Juden in Litauen, nachgewiesen durch den Bericht des Gebietskommissars von Sluzk vom 30. Oktober 1941,108 Vernichtung des Warschauer Ghettos, nachgewiesen durch Stroops Bericht,109 usw.

Schwerer nachvollziehbar ist die herausragende Bedeutung, die Jackson der Verfolgung der christlichen Kirchen, auf einer Ebene mit der Arbeiterbewegung und mit dem Judenmord, beimisst. Die christlichen Kirchen sollten, so das Ziel der Nationalsozialisten, keine Macht über die Deutschen mehr haben. Das Christentum ist vielfach mit Recht als einer der geistigen Hauptgegner beschrieben worden.110 Aber waren die Kirchen damit schon zum Hauptfeind neben Judentum und Arbeiterbewegungen geworden? Jacksons Beispiel aus Baden-Württemberg ist schwach und erscheint eher zufällig.111 Der NS-Staat schloss mit dem Vatikan 1933 ein Konkordat ab, sodass die Katholische Kirche in Deutschland in ihrer institutionellen Funktionalität bestehen bleiben konnte – trotz der oft scharfen Auseinandersetzungen und der Verfolgung einzelner Priester.112 Auch die Evangelischen Landeskirchen blieben als Institutionen unangetastet; das Projekt „Deutsche Christen“ scheiterte letztendlich. Die „Bekennende Kirche“ konnte nicht wirklich ein Machtfaktor werden.113 Was Jackson bewog, den christlichen Kirchen im Rahmen der Darstellung der Entwicklung der Nazi-Verschwörung so großen Platz in seiner Rede einzuräumen, ist nicht nachgewiesen, es sei denn man nähme für bare Münze, dass er der Aufzählung des Generals Fritsch’s folgte. Die von ihm viel herangezogenen R&A Analysen des OSS enthalten Derartiges jedenfalls nicht, sieht man von einer knappen Liste bei Marcuse ab, der unter den verfolgten Gruppen nach den Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern ebenfalls „militante Priester“ beider Kirchen aufzählt.114

Den größten Raum und die größte Emphase reserviert Jackson bei seiner Beschreibung des Nazi Plans jedoch den Juden. Fast ein Sechstel seiner gesamten Rede ist den „Verbrechen gegen die Juden“ gewidmet, mit dem er nach der Pause am Nachmittag des 21. November seine Rede fortführt. Diese besondere Hervorhebung der „meisten und wildesten Verbrechen“ der Nazis, wie Jackson gleich eingangs die Judenverfolgung bezeichnete, ist umso bemerkenswerter, als diese gar nicht in seinen eigentlichen Aufgabenbereich, die Darstellung der Verschwörung, fielen. Entgegen der später im Prozess allgemein akzeptierten Beschränkung des Verschwörungsvorwurfs auf die Kriegsvorbereitung bezieht Jackson hier noch sehr klar die Vernichtung der Juden mit ein:

„Die Verschwörung oder der gemeinsame Plan, die Juden auszurotten, wurde so überlegt und gründlich betrieben, daß dieses Ziel der Nazis trotz der deutschen Niederlage und trotz ihrem Sturze weitgehend erreicht worden ist.“115

Wie kaum an einer anderen Stelle seiner Rede zeigt Jackson hier auch persönliche Gefühle, wenn er sich direkt an die Richter (und indirekt an Alle) wendet und erklärt, es falle ihm schwer, in die Gesichter von Menschen zu blicken, die solcher Taten fähig waren. Doch gerade dieses Zugeständnis an seine eigene emotionale Reaktion und die der Zuhörer ist ihm sogleich Argument für seine prinzipielle Linie, Emotionen aus dem Verfahren soweit als möglich herauszuhalten. „Wenn ich diese Greueltaten mit eigenen Worten wiedergäbe, – sagt er – würden Sie mich für maßlos und unzuverlässig halten.“ Und „glücklicherweise“ brauche man kein anderes Zeugnis als das der Deutschen selbst, um diese Verbrechen nachzuweisen. Und damit ist Jackson zurück im sicheren Geleis der dokumentarischen Beweisführung. Mit für die Zeit beachtlicher Detailkenntnis zeichnet er dabei nicht nur die Geschichte des deutschen Antisemitismus und dessen fortschreitender Radikalisierung nach, sondern nennt auch Zahlen, die erstaunlich nahe an denen liegen, die später die historische Forschung ermittelt hat. Inhaltlich folgt er dabei, wie oben gezeigt, den Analysen Neumanns.

Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46

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