Читать книгу Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46 - Rainer Huhle - Страница 21
Der Nazi Master Plan
ОглавлениеDie Vorstellung von einer umfassenden Verschwörung zur Begehung der NS-Verbrechen war ein zentrales Anliegen von Jacksons Anklage. Wie ein roter Faden durchzieht Jacksons Anklage die Rede von einem gemeinsamen Plan und überhaupt von Plan und Plänen:
„Es ist nicht meine Aufgabe in diesem Prozeß, mich mit den einzelnen Verbrechen zu beschäftigen. Ich habe mich mit dem gemeinsamen Plan oder der Absicht des Verbrechens zu befassen und will mich nicht bei einzelnen Verstößen aufhalten. Ich habe nur zu zeigen, in welchem Umfange sich diese Verbrechen zugetragen haben; und ferner, daß diese Männer hier in den verantwortlichen Stellen waren, daß sie die Pläne und die Entwürfe erdacht haben, für die sie daher verantwortlich sind, wenn die tatsächliche Ausführung auch anderen überlassen blieb.“
Dieser gemeinsame Plan war die Verschwörung, an deren Nachweis den Amerikanern vor allem gelegen war, um die Anklage in den eigentlichen substantiellen Anklagepunkten zu untermauern. Aber die ständige Rede vom Plan war nicht nur prozesstaktisch. Dass die Nazis ihre Verbrechen planmäßig begingen, hat Jackson geradezu obsessiv beschäftigt und empört. Die Grundidee dafür ist, wie so Vieles, schon in den Dokumenten, die das OSS vorbereiten ließ, zu finden. Es war Herbert Marcuse, der mit Datum vom 7. August 1945 ein für OSS-Erfordernisse außergewöhnlich umfangreiches Dokument unter dem Titel “Nazi Plans for Dominating Germany and Europe: The Nazi Master Plan” vorlegte.96
Während des IMT wurden mehrmals filmische Dokumente als Beweismittel eingebracht. Zur Feststellung der individuellen Schuld der Angeklagten trugen sie wenig bei, sie sollten vor allem die Gesamtsicht der Ankläger auf das verbrecherische System der Nationalsozialisten sichtbar und auch psychologisch wirkungsvoller als die ermüdende Verlesung der Dokumente machen. Die Grundlage dafür bildete Art. 19 des Londoner Statuts, der ausdrücklich bestimmte, dass das Gericht nicht an die üblichen Beweisregeln gebunden sei, sondern „jedes Beweismaterial, das ihm Beweiswert zu haben scheint,“ zulassen konnte. Neben dem bekannten Film “Nazi Concentration Camps”, den Jackson schon am 29. November 1945 vorführen ließ, und dessen Bilder noch heute prägend für die Grausamkeiten des NS-Terrors sind, war dies vor allem der vierstündige Film “The Nazi Plan”, den die amerikanische Anklage am 11. Dezember 1945 präsentierte. Auch diese Filme wurden von einem Team des OSS produziert, das dazu renommierte Regisseure beizog.97
Jackson nahm in seiner Rede auf beide Filme Bezug. Von dem in aller Eile zusammengeschnittenen KZ-Film sagte er voraus, dass er den Zuschauern den Schlaf rauben werde. Aber die „Beweisstücke, die wir vorlegen, werden überwältigend sein“, fuhr er fort, und schloss sich dabei ein: „Ich gehöre zu denen, die während des Krieges die meisten Greuelgeschichten mißtrauisch und mit Zweifel aufgenommen haben.“98
Der Film über den “Nazi Plan” sollte im Gegensatz dazu auch die konkrete Verantwortlichkeit einzelner Angeklagter untermauern. Dank ihrer Eitelkeit hätten sich die Angeklagten gerne selbst ins Bild gesetzt, erklärte Jackson. „Wir werden Ihnen ihre eigenen Filme zeigen. Sie werden ihr eigenes Gehaben beobachten und ihre eigene Stimme hören, wenn die Angeklagten Ihnen von der Leinwand her noch einmal einige Ereignisse aus dem Verlauf der Verschwörung vorführen werden.“ Nach den Eindrücken des Gefängnispsychologen waren die Angeklagten von sich selbst bei der Vorführung von “The Nazi Plan” begeistert.99 Doch bei diesem Film ging es weniger um den psychologischen Effekt als um die visuelle Untermauerung der Verschwörungsanklage. Tatsächlich folgt der Film in seinem Aufbau, den der Hilfsankläger James Donovan (nicht zu verwechseln mit dem OSS-Chef William Donovan, der bereits abgereist war) vor der Vorführung erläuterte,100 in etwa der Gliederung des langen Dokuments von Marcuse mit dem fast identischen Titel. Ob Marcuses Text dabei direkt das Drehbuch des Films beeinflusste, ist bisher nicht dokumentiert, im Vor- und Abspann gibt es keinen Hinweis. Da diese Texte der R&A-Abteilung aber direkt mit Blick auf die Prozessvorbereitung geschrieben wurden, liegt es nahe, dass sich die Autoren, darunter Budd Schulberg, an Marcuses Gliederung orientierten, auch wenn die Struktur des Films natürlich wesentlich von dem verfügbaren Filmmaterial abhing. Wie Budd Schulbergs Nichte Sandra berichtet, wurde der Film am Ende “Hand in Hand” von den Regisseuren und dem Anklägerteam zusammengestellt.101 Jedenfalls entsprach er in mehrerer Hinsicht Jacksons Prozessstrategie: Er ließ die Nazis für sich selbst sprechen, selbst auf das erwähnte Risiko hin, dass sie sich daran ergötzten, und verzichtete auf Kommentar. Er erzählte die Geschichte des Nationalsozialismus als Geschichte einer großen Verschwörung, eben des Nazi Plans, und er führte in Gestalt von Roland Freisler das Bild eines Richters vor, gegenüber dem sich das Nürnberger Gericht als vollkommenes Gegenbild verstand und gesehen werden wollte.
Der Film macht noch ein Weiteres deutlich: Wenn Jackson ihn ausdrücklich einsetzt, um die Verschwörer bei ihren eigenen verschwörerischen Taten zu „zeigen“, wird klar, dass der Begriff der “Conspiracy” in der deutschen Übersetzung als „Verschwörung“ zu semantischen Missverständnissen führen musste, die die Plausibilität dieses Anklagepunkts weiter minderten. Denn an dieser Verschwörung war ja offenbar nichts Heimliches, sie fand vor Aller Augen statt. Insofern war die Rede vom “Plan” oder “Nazi Master Plan” zweifellos treffender für das, was Jackson im Sinn hatte und was mit dem juristischen Begriff der Conspiracy im Kern gemeint ist.