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Franz Neumanns „Speerspitzentheorie“ der Judenverfolgung
ОглавлениеFranz Leopold Neumann, geboren 1900 als Sohn eines jüdischen Kleinhändlers in Kattowitz, studierte Jura, Ökonomie und Philosophie, nahm an der Revolution 1918 teil, wurde in der Weimarer Republik ein wichtiger Rechtsberater der SPD und Arbeitsrechtler der Gewerkschaften, musste schließlich 1933 fliehen, zunächst nach London, wo er eine zweite juristische Promotion erwarb, 1936 dann in die USA, wo er ohne feste Anstellung mit dem Institut für Sozialforschung arbeitete. Seine umfassenden Analysen des NS-Staates veröffentlichte er 1942 in dem Buch “Behemoth”, das bis heute zu den Standardwerken über den Nationalsozialismus zählt und 1944 in einer erweiterten Neuauflage erschien.31 Aufgrund dieser Arbeiten wurde er 1942 vom OSS angeheuert.
In einem seiner ersten Dokumente für das R&A bezeichnete Neumann den Antisemitismus (bzw. die Judenvernichtung) als „Speerspitze des universellen Terrors“ der Nationalsozialisten. In einer längeren Passage, die sich wortgleich auch in “Behemoth” findet,32 bezeichnete er die Judenvernichtung als lediglich ersten Schritt auf dem Weg der Nazis zur Vernichtung auch anderer Völker und der Zerstörung aller freien Institutionen, Religionen und Gruppen. „Man kann diese Theorie die Speerspitzentheorie des Antisemitismus nennen.“33 Dieser Ansatz stellte zwar keine Verharmlosung der Judenvernichtung dar, wie gelegentlich behauptet wird, denn Neumann arbeitete ihre Dimension klar heraus, aber er stellte sie nicht als etwas unvergleichbar Einzigartiges dar, sondern wies ihr stattdessen einen strategisch herausragenden Platz in der Kette der sonstigen NS-Verbrechen zu. Die Juden, meinte Neumann, seien das Experimentierfeld dafür gewesen, einen Feind aufzubauen und zu zerstören, da sie stark genug seien, dass man sie als Bedrohung darstellen konnte, aber zu schwach, um wirklich eine Gefahr zu bilden.34
Dieser analytische Ansatz, der sich deutlich von der damaligen sowjet-kommunistischen Faschismustheorie, aber genauso von auf die Singularität des Holocaust zielenden neueren Interpretationen unterscheidet, liegt auch Jacksons Anklagerede zugrunde. Ohne Neumann zu nennen, erklärte er, man habe den Antisemitismus „zutreffend als „Lanzenspitze [spearhead] des Schreckens“ bezeichnet“.35 Fast wörtlich übernimmt er auch Neumanns Interpretation der Rolle der Judenverfolgung: „Sie waren wenig genug, um hilflos zu sein, aber zahlreich genug, um als eine Gefahr hingestellt zu werden.“36 Neumanns Grundthese, dass die Judenverfolgung Teil einer umfassenderen Politik sei, in der sie letztlich Mittel zu einem anderen, umfassenderen Zweck37 sei, durchzieht Jacksons Rede, entsprach sie doch perfekt seiner Vorstellung von einer Alles umgreifenden Verschwörung zur Kriegsvorbereitung:
„Die Verfolgung der Juden war eine ununterbrochene und vorsätzliche Politik, die sich gegen andere Völker in gleicher Weise richtete wie gegen die Juden selbst. Der Antisemitismus wurde gefördert, um die demokratischen Völker zu spalten und zu verbittern und ihren Widerstandsgeist gegen den Angriff der Nazis zu schwächen.“38
Doch ebenso wenig wie Neumann hindert ihn diese Sicht, die einmalige Ungeheuerlichkeit des Verbrechens an den Juden herauszustellen. Er führt die Zahl von 5,7 Millionen fehlenden Juden an und erklärt, „die Geschichte berichtet von keinem Verbrechen, das sich jemals gegen so viele Opfer gerichtet hat oder mit solch einer berechnenden Grausamkeit begangen worden ist.“39