Читать книгу Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46 - Rainer Huhle - Страница 17
Die Schwierigkeiten mit dem Tatbestand „Angriffskrieg“
ОглавлениеDer Versailler Friedensvertrag mit seinen Bestimmungen über die individuellen Verantwortlichkeiten für den Angriffskrieg und Kriegsverbrechen wurde in Nürnberg als rechtliche Begründung für das Statut des IMT erstaunlich wenig angeführt. Auch Jackson geht nur en passant darauf ein.69 Allerdings war der Anklagepunkt „Verbrechen gegen den Frieden“ in der Arbeitsteilung der Ankläger ja dem britischen Vertreter zugeteilt worden. In seiner Rede geht Jackson dennoch mit einiger Ausführlichkeit auf die Fragen der Legitimität von Kriegen ein. Er blickt auf die Geschichte der Lehre vom gerechten Krieg bei Thomas von Aquin und Hugo Grotius und bedauert deren Verabschiedung durch die „nichtswürdige Doktrin“70 des Völkerrechts im Zeitalter des Imperialismus, das jeden Krieg als Ausdruck legitimen staatlichen Handelns betrachtete. Nachdem er „Schreckensherrschaft und Kriegsvorbereitung“ sowie „Angriffsversuche“71 dargestellt hat, kommt er ausführlicher zum „Angriffskrieg“.72 „Ganz allgemein gesehen, wird unsere Beweisführung ergeben, daß sich die Angeklagten alle zu irgendeiner Zeit gemeinsam mit der Nazi-Partei zu einem Plan zusammengetan hatten, von dem sie wohl wußten, daß er nur durch den Ausbruch eines Krieges in Europa verwirklicht werden konnte.“73 Jackson sieht die Angeklagten als Vertreter einer nationalistischen, militaristischen, von Rassenhass geprägten imperialistischen Politik.74 Hier macht er den Unterschied zu anderen Nationen aus, die ja durchaus auch von imperialistischer Gewalt oder von Rassenhass geprägt seien. Das Spezifische, und Illegale des Krieges (nicht des Unterdrückungs- und Vernichtungsprogramms) der Nazis besteht für ihn in seiner besonderen politisch-militärischen Zielsetzung, nämlich in der Herrschaft über das europäische Festland, um „Lebensraum“ und Ressourcen zu gewinnen, was die direkte Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker bedeutete, einschließlich der Vernichtung der Juden.75
Angesichts Jacksons völkerrechtlicher Generallinie, die „Folgerichtigkeit“ des Angriffskriegs vom Programm der NSDAP bis zum Angriff auf die Sowjetunion nachzuweisen, treten die historischen Fragen nach dem politischen Kontext dieser Expansionspolitik zurück. Rechtlich gesehen sind sie für ihn ohne Relevanz, und so streift er sie nur am Rande. Welche falschen Signalwirkungen gingen zum Beispiel von der zögerlichen Politik der Westmächte angesichts der Rheinland-Besetzung 1936 oder vom Münchner Abkommen von 1938 aus? In Jacksons Argumentationslinie sind solche Ereignisse nur ein weiterer Baustein im langen Plan für den großen Angriffskrieg. Der Überfall auf die Tschechoslowakei im März 1939 ist ihm immerhin den Kommentar wert: „Wieder war der Westen bestürzt, aber er fürchtete den Krieg.“76 Das Fehlen einer umfassenderen Sicht auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs haben Historiker Jackson und überhaupt dem IMT häufig vorgeworfen.77
Solche Einwände übersehen allerdings, dass es am IMT nicht um eine historische Gesamtbewertung ging, sondern um die Feststellung von internationalen Rechtsverstößen. Noch so naive oder fehlgeleitete Versuche, den drohenden Krieg zu vermeiden, gehören dazu nicht. Sie sind auch kein rechtliches Argument zur Entschuldigung eines Angriffskriegs und gehörten insofern auch nicht in Jacksons Beweisführung. Das gilt selbst für den von Jackson kurz angesprochenen,78 und von der Verteidigung und großen Teilen der Öffentlichkeit immer wieder angeführten Nichtangriffspakt Hitler-Deutschlands mit der Sowjetunion von 1939. Zwar machte dieses Geheimabkommen die Sowjetunion objektiv zum Mittäter des Angriffskriegs und ihre Position als Ankläger in Nürnberg unglaubwürdig,79 den deutschen Angriffskrieg damit aber nicht weniger völkerrechtswidrig. Dass das Gericht Fragen nach dem Ribbentrop-Molotow-Pakt nicht zuließ, gehört dennoch zu den fragwürdigsten Details des Prozesses.
Eine zweite letztlich nicht beantwortete Frage war die nach dem Endziel der NS-Eroberungspolitik. Bezog sie sich auf „die Weltherrschaft“ oder auf ein europäisches Imperium? Was das Ziel im Kern ideologisch (Rassenpolitik, Antibolschewismus) oder eher klassisch imperialistisch? Welchen Wandlungen war diese Politik unterworfen? Auch solche Fragen musste sich Jackson als Strafverfolger nicht unbedingt stellen. „Die genauen Grenzen ihres Ehrgeizes brauchen wir nicht zu umschreiben, denn ein Angriffskrieg war und ist gegen Vertrag und Gesetz, gleichgültig ob es um einen großen oder einen kleinen Einsatz geht“, erklärte er.80 Sie werden aber relevant, wenn es ihm darum geht, das Einmalige des NS-Angriffskriegs auch im Vergleich zu anderen Eroberungskriegen herauszuarbeiten, zumal wenn er im Sinne der Verschwörungsanklage die Zielgerichtetheit und das Element einer verbrecherischen Planung im großen, staatlichen Maßstab zeigen will, das, was er als „Verbrechen gegen die Gemeinschaft der Völker“81 bezeichnet. Dies war nicht unproblematisch, denn Nazi-Deutschland war nicht der erste Staat, der zum Großreich werden wollte. Bei ihrer völkerrechtlichen Legitimierung der nationalsozialistischen Expansionspolitik hatten sich Hitler selbst82 und namhafte NS-Juristen wie Carl Schmitt,83 Friedrich Berber84 oder auch der Nürnberger Verteidiger Hermann Jahrreiß85 nicht zuletzt auf die US-amerikanische Monroe-Doktrin bezogen, die sie von der Postulierung einer Einflusssphäre zu einer imperialen Großraumpolitik in Analogie zur NS-Eroberungspolitik umfälschten.
Jackson geht auf diese „Antworten auf Roosevelt“ natürlich nicht ein, ebenso wenig auf die Frage nach der Legitimität kolonialer Eroberungskriege, obwohl hier durchaus ein Dissens zwischen der Roosevelt’schen Vision einer neuen Weltordnung und Frankreichs und Großbritanniens Beharren auf der Rechtmäßigkeit ihrer Kolonialimperien bestand. Wenn Jackson allerdings sein Bedauern über die Entwicklung vom universellen, naturrechtlich begründeten Völkerrecht eines Grotius hin zum imperialistischen Völkerrecht, das eben Kriege gegen „unziviliserte Völker“ grundsätzlich rechtfertigte,86 ernst meinte, wäre hier eine deutlichere Sprache angebracht gewesen, die sich freilich, wie so Manches im Prozess, aus diplomatischen Rücksichten verbot.87 Diese Fragen blieben aber, trotz der Vermeidung durch die Ankläger, im Verfahren auf die eine oder andre Weise präsent.
Jackson konzentrierte sich hier jedenfalls, streng in der Rolle des Juristen, darauf, die Kombination von Planung, verbrecherischen Zielen und gesellschaftlicher wie wirtschaftlicher Wucht herauszuarbeiten, mit der Deutschland den Krieg plante und durchführte. Der Rechtsbegriff, den er dafür in das IMT einführte, ist die „Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges“.