Читать книгу Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46 - Rainer Huhle - Страница 16
Grundsätzliche Einwände: Rückwirkungsverbot und Siegerjustiz
ОглавлениеAber auch einige grundsätzliche Einwände gegen den Prozess nimmt Jackson schon in dieser Eröffnungsrede auf.
Zu diesen zählt, dass die Anklagepunkte gegen das Rechtsprinzip des „nulla poena sine lege praevia“, also gegen das „Rückwirkungsverbot“ verstießen. Er fragt, ob die Täter denn nicht gewusst hätten, dass sie nicht morden dürfen? Haben sie nicht die Unterlagen ihrer Verbrechen vernichtet, um sie zu vertuschen? Warum haben sie Geheimbefehle erlassen?60 Im Übrigen kennt das angelsächsische Recht, das sich weniger auf der Basis von geschriebenen Gesetzen als von Gerichtsentscheidungen (“case law”) entwickelt, kein so formales Verbot, ohne zum Zeitpunkt der Tat geschriebenes Gesetz zu urteilen.61 Beim Völkerrecht – und hier schließt er offensichtlich das Völkerstrafrecht mit ein – gebe es dieses Rückwirkungsverbot ohnehin nicht, denn Völkerrecht sei, so führt Jackson in einer längeren Passage aus, „mehr als eine gelehrte Sammlung abstrakter und unveränderlicher Grundsätze.“ Es bilde sich aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht, und beides entwickle sich aus der Notwendigkeit, auf konkrete Situationen mit den Mitteln des Rechts zu reagieren. Das sei in der Geschichte des Völkerrechts so gewesen und heute nicht anders. Das Völkerrecht, so schließt Jackson sein Argument, „wächst, wie das gemeine Recht (“Common Law”)62 in Entscheidungen, die von Zeit zu Zeit getroffen werden, um festgelegte Grundsätze neuen Lagen anzupassen. Das Völkerrecht muß sich, soll es sich überhaupt entwickeln, wie das gemeine Recht (“Common Law”) von Fall zu Fall entwickeln, und zwar schreitet es immer auf Kosten derer fort, die es verkannt und ihren Irrtum dann zu spät bemerkt haben.“63
Ein zweiter grundsätzlicher Einwand richtet sich gegen die Legitimität des Gerichts selbst. Wie kann ein von den Siegermächten aus eigener Macht eingesetztes Sondergericht beanspruchen, dem Rechtsanspruch auf ein ordentliches Verfahren zu genügen? Dieser unter dem Stichwort „Siegerjustiz“ geläufigen Kritik, die bereits am ersten Tag des Prozesses von der Verteidigung vorgebracht und vom Gericht zurückgewiesen wurde, begegnet Jackson mit der Frage, welche Alternativen es denn gebe? Welche Neutralen seien denn übrig geblieben, um ein solches Verfahren durchzuführen? Und der Versuch, die Deutschen selbst zu Richtern über ihre Kriegshandlungen zu machen, sei schließlich nach dem Ersten Weltkrieg kläglich gescheitert.64 1945 musste nicht ausdrücklich gesagt werden, dass damit die Prozesse vor dem Leipziger Reichsgericht ab 1921 gemeint waren. Nach Artikel 227 und 228 des Versailler Vertrages sollte der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Alleinverantwortlicher vor einem zu bildenden Internationalen Strafgericht verurteilt werden, erhielt aber von den Niederlanden Asyl. Frankreich hatte darüber hinaus eine Liste von deutschen Beschuldigten erstellt, die ebenfalls angeklagt werden sollten. In insgesamt 17 Verfahren kam es zu zehn Verurteilungen und sieben Freisprüchen, Hunderte weiterer Verfahren wurden eingestellt.65 Diese im Friedensvertrag geforderten deutschen Prozesse wurden von den Kriegsgegnern Deutschlands als inadäquat beurteilt.66
Dass staatliche Repräsentanten und Militärs nicht über dem Gesetz stehen, war somit für Deutschland keine neue Erfahrung. Jackson unterstrich das mit der Maxime, dass der Gedanke des Rechts nicht nur das Verhalten kleiner Leute beherrschen dürfe, sondern dass „auch die Mächtigen, die Herrscher selbst ‚Gott und dem Gesetz Untertan sind‘“, die schon ein oberster englischer Richter im 17. Jahrhundert gegen seinen König vertreten hatte67 – ein seltener Ausflug des Juristen in die Geschichte. Aber auf welches Recht und Gesetz kann sich die Anklage in dieser Situation berufen? Jacksons letztbegründende Instanz ist die „Weisheit, das Gerechtigkeitsgefühl“ einer überwältigenden Mehrheit aller zivilisierten Menschen, die sich hier im Willen von 21 Regierungen ausdrücke.68 Der amerikanische Jurist beansprucht damit universelle Legitimität für das Verfahren, jenseits aller rechtstechnischen Einwände.
So wirkungsvoll diese rhetorischen Höhenflüge bis heute sind, sie enthoben Jackson nicht der Notwendigkeit, sein schon im ersten Satz der Rede formuliertes Hauptziel, die Verurteilung der Angeklagten wegen „Verbrechen gegen den Frieden“, mit soliden völkerstrafrechtlichen Argumenten zu untermauern. Das sollte sich als schwieriger herausstellen als es im Frühjahr 1945 aussah.