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Rainer Huhle Einleitung

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Als Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts der UN-Sicherheitsrat zwei internationale Sondergerichtshöfe zur Untersuchung und Verurteilung von Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda einsetzte, und erst recht, als 1998 in Rom beschlossen wurde, einen Internationalen Strafgerichtshof einzusetzen, da erinnerte man sich in aller Welt auch wieder an das Internationale Militärtribunal (IMT) von Nürnberg, in dem über 22 hochrangige Nationalsozialisten Recht gesprochen wurde. Die „Nürnberger Prinzipien“, von der UNO nach Ende des IMT beschlossen1 und dann über Jahrzehnte nahezu vergessen, wurden wiederentdeckt. „Nürnberg“ wurde zum Ausgangs- und Bezugspunkt dieser neuen internationalen Strafgerichtshöfe erklärt, zum „Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts“,2 zum „Wegweiser zu einer weltweiten Gesellschaft […], die sich auf Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gründet.“3

Diese Rückblicke auf Nürnberg als Meilenstein, Ursprung, Geburtsstätte oder andere Gründungsmetaphern für das Völkerstrafrecht sind zweifellos berechtigt. Indem sie aber eine Entwicklungslinie „Von Nürnberg nach Den Haag“ unterstellen, den Nürnberger Prozess also vor allen als Vorläufer für das heutige Völkerstrafrecht sehen, geraten die spezifischen historischen Umstände der Nürnberger Verfahren samt ihrer Errungenschaften und Fehler leicht aus dem Blick. Wenn heute fast einhellig positiv auf „Nürnberg“ Bezug genommen wird, geht unter, wie sehr jeder einzelne Aspekt des Internationalen Tribunals seinerzeit umkämpft war, wie viele Rechtsauffassungen nicht nur zwischen Anklägern und Verteidigern, sondern auch innerhalb der „Vier siegreichen Nationen“ in Nürnberg und in den jeweiligen Staaten aufeinander stießen. Und damit geht eine Quelle rechtspolitischer Debatten verloren, die bis heute bedeutsam sind und produktiv sein können.

Verloren geht auch das Verständnis dafür, dass ein internationales Strafverfahren wegen politischer Verbrechen notwendigerweise ein politischer Prozess ist, der immer auch politisch motiviert ist,4 dass dies aber kein Makel ist, wenn er gleichzeitig ein Versuch ist, diese politischen Absichten innerhalb der Schranken des Rechts zu verwirklichen. Der Nürnberger Prozess war nicht alternativlos, er war in der Tat, wie der amerikanische Ankläger Robert H. Jackson es formulierte, „eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.“5 Von den in ganz Europa in weit größerem Umfang bei Kriegsende durchgeführten Hinrichtungen ohne oder mit „kurzem Prozess“ redet heute kaum noch jemand. Das Wagnis, mit einem großen politischen Prozess nicht nur ein Urteil über die NS-Täter zu sprechen, sondern sich gleichzeitig dem Urteil der Weltöffentlichkeit und der Geschichte zu stellen, macht „Nürnberg“ zu dem lieu de mémoire, jenem Erinnerungsort auch der Rechtsgeschichte, der es ohne Zweifel geworden ist.6

Die Zeitgenossen, nicht zuletzt die Akteure selbst, waren sich dieser historischen Bedeutung des Prozesses bewusst, ebenso der damit verbundenen Herausforderung an ihr Handeln. Zwar sprachen am Ende die acht Richter das historische Nürnberger Urteil, den sichtbarsten Part in dem Prozess hatten jedoch, entsprechend der Dramaturgie eines im Wesentlichen von angelsächsischem Recht geprägten Verfahrens, die Ankläger. Es waren auch die Ankläger, die schon bei der Ausarbeitung der Rechtsprinzipien des Prozesses auf der Londoner Konferenz die Hauptrolle spielten. Jede der „Vier siegreichen Mächte“ war mit einem Anklagestab in Nürnberg vertreten, und jeder der vier Hauptankläger hielt eine große Eröffnungsrede und ein umfassendes Schlussplädoyer.

In diesen Reden mussten sie sich nicht nur in der Kunst des rhetorisch geschliffenen Plädierens beweisen. Sie mussten vor allem die rechtspolitischen, ja philosophischen Grundlagen ihrer Anklage deutlich machen. Und sie taten das nicht nur mit Blick auf das Verfahren, auf die Notwendigkeit, die Richter zu überzeugen, sondern auch im Bewusstsein ihrer historischen Mission und Rolle. Die Reden der Ankläger enthalten alle juristischen und politischen Probleme des Prozesses, die Widersprüche und Defizite ebenso wie die großen rechtspolitischen Durchbrüche in diesem Verfahren. Darüber hinaus spiegeln sich in ihnen auch ihre jeweilige Sicht auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre Zukunftsvisionen auf ein internationales Strafrecht für Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschheit. In den Reden der Ankläger kristallisiert sich das, was „Nürnberg“ ausmacht, am konzentriertesten und deutlichsten. Jeder der vier Hauptankläger trug seine Argumente – bzw. die seines Landes – für die Schuld der Angeklagten zu Beginn des Verfahrens gebündelt vor, während anschließend ihre Mitarbeiter die zahlreichen detaillierten Vorwürfe darlegten. Gegen Schluss des Verfahrens hielten die Hauptankläger erneut ein zusammenfassendes Plädoyer.

Von diesen Reden ist diejenige des amerikanischen Anklägers Robert H. Jackson als einzige ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Ohne Zweifel war Jackson die prägende Figur des Verfahrens. Er war der Architekt des Tribunals, und seine Eröffnungsrede gilt zu Recht als eine der großen Reden des 20. Jahrhunderts. Sein Name und seine Rede prägen das historische Gedächtnis des Prozesses. Die Reden der drei weiteren Chefankläger, des Briten Hartley Shawcross, des Franzosen François de Menthon sowie des sowjetischen Anklägers Roman Rudenko, sind hingegen so gut wie unbekannt geblieben. Zu Unrecht, denn in ihnen finden sich ebenfalls Gedankengänge, die für den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den jeweiligen Ländern und darüber hinaus bedeutsam waren. Sie alle waren zukunftsweisend für die nationale und internationale juristische Behandlung von Staatsverbrechen.

Liest man die verschiedenen Reden, wird deutlich, dass es zwischen ihnen ebenso viele Gemeinsamkeiten wie Unterschiede gab. Gemeinsam war ihnen die absolute Verurteilung der NS-Verbrechen und die Überzeugung, dass alle in Nürnberg vor Gericht gestellten Angeklagten auch schuldig waren. Schließlich hatten sich die vier Ankläger ja auf den Anklagetext gegen diese Beschuldigten geeinigt und in den vorbereitenden Verhandlungen in London im Sommer 1945 auch die Verfahrensregeln und die materiellen Anklagepunkte gemeinsam im sogenannten Londoner Statut verabschiedet. Gemeinsam war ihnen auch die Überzeugung, dass die angeklagten Verbrechen so ungeheuerlich waren, dass bestimmte Entschuldigungsgründe von vornherein nicht zum Tragen kommen konnten. Das gilt zum Beispiel für die Feststellung, dass die Berufung auf Befehlsgehorsam keine Entschuldigung für hochrangige Funktionsträger sein könne. Es gilt auch für die Interpretation des sogenannten „Rückwirkungsverbots“, also des Rechtsprinzips, wonach niemand wegen einer Tat verurteilt werden kann, die zur Zeit ihrer Begehung gegen kein geschriebenes Gesetz verstieß. Doch schon hier lassen sich auch unterschiedliche Haltungen in den Reden der verschiedenen Ankläger feststellen. Das Rückwirkungsverbot hat im kontinentaleuropäischen, wesentlich durch geschriebenes Gesetz geprägten Rechtssystem mehr Gewicht als im angelsächsischen, das stärker ein Richterrecht ist, das sich von Fall zu Fall fortentwickelt. In der französischen Anklage und Prozessführung findet man diesem Punkt gegenüber entsprechend mehr Aufmerksamkeit als bei Shawcross und Jackson. Während die Franzosen bei der Bewertung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit hier mit Amerikanern und Briten übereinstimmten, legten sie beim Verbrechen des Angriffskriegs strengere Maßstäbe an.

Gerade bei der Akzentuierung der einzelnen Anklagepunkte zeigten sich schon in den Eröffnungsreden teils deutliche Unterschiede zwischen den vier Rednern. Auch im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde immer wieder sichtbar, dass die bei der Londoner Vorbereitungskonferenz in der Formulierung der Anklage mühsam überwundenen Differenzen weiter bestanden. Zwar muss bei der Lektüre der Reden berücksichtigt werden, dass die Ankläger eine Arbeitsteilung für den Vortrag der verschiedenen Anklagepunkte vereinbart hatten. Doch alle Ankläger nutzten ihre großen Auftritte zu Beginn und Ende des Prozesses dafür, auch ihre Gesamtsicht auf die Anklage deutlich zu machen. Die unterschiedlichen Gewichtungen sind daher, trotz Berücksichtigung der vereinbarten Schwerpunkte, aufschlussreich.

Vor allem den Franzosen, mit anderer Argumentation aber auch den sowjetischen Anklägern, war nicht nur der Anklagepunkt des Angriffskriegs im Grund fremd. Insbesondere das amerikanische Konzept der „Verschwörung“ lehnten sie erkennbar ab. Das Rechtsprinzip des „fair trial“, der Garantien einer fairen Verteidigung, wurde wiederum von den Amerikanern besonders hochgehalten, während es für die sowjetischen Vertreter kein Thema war. Solche Unterschiede ziehen sich bis in die Urteilsfindung, bei der Sowjets und Franzosen für alle Angeklagten die Todesstrafe verlangten, während Briten und vor allem Amerikaner für differenzierte Urteile stimmten.

Über die Formulierung der Anklagepunkte und die juristischen Begrifflichkeiten hinaus werden in den Reden aber auch die unterschiedlichen Erfahrungen deutlich, aus denen heraus die vier Ankläger argumentierten. So war etwa das französische Anklägerteam aus prominenten Vertretern der Résistance gegen die deutsche Besatzung zusammengesetzt. Ihre Anklage gegen die NS-Verbrecher verstand sich zugleich als eine Verteidigung Frankreichs gegen den Vorwurf der Kollaboration. Aus der Besatzungserfahrung und aus der langjährigen Nachbarschaft zu Deutschland mag sich auch erklären, dass die französische Anklage, anders als vor allem Jackson, die Deutschen für kollektiv mitschuldig ansah und schon von daher, abgesehen von der fehlenden Rechtstradition, mit der Verschwörungsthese der Amerikaner wenig anfangen konnte, implizierte diese doch die Begrenzung der Verantwortlichkeit auf eine begrenzte Zahl von „Verschwörern“.7

Die amerikanische Anklage setzte die Akzente genau umgekehrt. Innerhalb der US-Regierung war Robert H. Jackson ein entschiedener Gegner der durchaus vorhandenen Vertreter einer Kollektivschuldthese und der daraus folgenden politischen Strategien gewesen. Seine Betonung einer umfassenden „Verschwörung“ der Angeklagten zur Begehung ihrer Verbrechen machte politisch Sinn im Zusammenhang der sehr bald auf Wiederaufbau und Wiedereingliederung eines von Nazis bereinigten Deutschlands gerichteten amerikanischen Besatzungspolitik. Sie entsprang aber auch einer genuin amerikanischen Rechtsfigur in der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und organisiertem Verbrechen, an der Jackson in seiner Zeit im Justizministerium beteiligt gewesen war.

Für die Amerikaner wiederum war der Angriffskrieg das wesentliche Ziel dieses verschwörerischen „Nazi-Plans“. Die Sowjets hingegen klagten nicht, wie Amerikaner und Briten, den Angriffskrieg als grundsätzlichen Völkerrechtsverstoß an, sondern den konkreten Angriffskrieg gegen ihr Land. Für Frankreich wiederum stand weniger der Angriffskrieg als die Verbrechen gegen die Menschheit bzw. das „Verbrechen gegen den menschlichen Geist“ im Mittelpunkt.

Es sind gerade auch solche Unterschiede, die es lohnen, die Anklagereden genau zu lesen. Die einführenden Essays dieses Bandes sollen dabei Hintergrundinformation liefern, Botschaften auch zwischen den Zeilen der Reden beleuchten und insgesamt helfen, sie im zeitgeschichtlichen politischen und juristischen Kontext zu lesen. Auch die durchaus ungewöhnlichen Biografien der Ankläger verdienen Interesse, denn keiner der Ankläger war durch seine bisherige berufliche Laufbahn auf ein solches Verfahren auf der Basis „revolutionärer Grundlagen“ – so der britische Ankläger Shawcross – vorbereitet. Gleichwohl, auch das wird in den Essays herausgearbeitet, repräsentieren die Reden nicht nur die individuellen Ansichten der vier Ankläger, sondern das Ergebnis intensiver und oft kontroverser Diskussionen in den einzelnen Ländern. Hinter ihrer oft geschliffenen Rhetorik verbirgt sich ein nüchternes Fazit dieser Diskussionen.

Doch die hier wieder vorgelegten Texte waren ja gesprochene Reden, rhetorisch eindrucksvolle Reden, und müssen als solche gelesen und gewürdigt werden. Von den vier Eröffnungsreden und den vier Schlussplädoyers wird hier je eine Rede der vier Mächte nachgedruckt und mit kommentierenden Essays begleitet. Bei den Anklägern der USA, Frankreichs und der Sowjetunion haben wir uns für die Eröffnungsrede entschieden, weil in ihnen die grundlegenden Ideen der jeweiligen Anklage am deutlichsten formuliert sind. Beim britischen Ankläger bringen wir dagegen die Schlussrede, weil sie die substantiellere der beiden großen Reden ist und weil in ihr, in Absprache mit den übrigen Anklägern, noch einmal eine Gesamtsicht auf die Anklage und eine gebündelte juristische Antwort auf die Einwände der Verteidiger zum Tragen kommen sollte.

Die Textgrundlage für die hier neu gedruckten und kommentierten Anklagereden ist die Fassung, wie sie in den Bänden 2 (Jackson), 5 (de Menthon), 7 (Rudenko) und 19 (Shawcross) der deutschen Ausgabe der Protokolle des IMT veröffentlicht wurden.8 Die 24 Protokollbände (plus weitere 18 Dokumentenbände) wurden, wie im Impressum vermerkt ist, vom Sekretariat des Gerichtshofes mit Genehmigung der Alliierten Kontrollbehörde publiziert.9 Diese auch als „Blaue Bände“ bekannte Ausgabe enthält somit die offizielle Fassung der Reden, die von den Verantwortlichen des Gerichts für die Veröffentlichung als korrekt befunden und freigegeben wurde. Da unsere Neuausgabe nicht den Anspruch einer kritischen Textedition erheben will, stützen auch wir uns hier auf diese in der Wissenschaft allgemein benutzte Ausgabe.

Der offizielle Charakter der Texte bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass keine Fragen an diese Fassung zu stellen wären. Die von den Anklägern im Verfahren vorgetragenen Reden und die gedruckten Fassungen sind nicht in allen Details identisch, wie schon ein Vergleich zwischen den erhaltenen Film- und Audiomitschnitten der Reden und den protokollierten Niederschriften ergibt, und wie es auch schon Zeitzeugen festgehalten haben. Diese in aller Regel nicht gravierenden Unterschiede erklären sich, wenn man sich die Produktionsbedingungen der Protokolle vergegenwärtigt.

Die gedruckten Protokolle gehen – soweit es sich nicht einfach um die Reproduktion von vorgelesenen oder bei Gericht hinterlegten Dokumenten handelt – auf eine Kette von Versionen zurück. Im Fall der Reden standen den Protokollanten die Skripte der Redner zur Verfügung, die meist schon während des Vortrags auch den übrigen Prozessteilnehmern vorlagen. Abweichungen der mündlichen Rede vom Skript kamen natürlich auch in Nürnberg vor. Es liegt nahe, und ein bekanntes Beispiel von Jacksons Eröffnungsrede belegt es,10 dass dann eher die schriftlichen Fassungen in das Protokoll eingingen.

Komplexer war es beim gesprochenen Wort ohne Vorlage, also z.B. den Kreuzverhören, Verfahrensanträgen und Ähnlichem. Bekanntlich wurden sämtliche Verhandlungen des Prozesses simultan in die drei übrigen Verhandlungssprachen übersetzt, was eine unerhörte intellektuelle und logistische Leistung darstellte. Auf der Basis dieser Simultanübersetzungen erstellten Stenografen und Stenografinnen während der Sitzungen Mitschriften, die noch am gleichen Tag von den Dolmetschern auf sachliche Fehler und sprachliches „Gestammel“11 durchgesehen wurden, ohne dass Zeit für eine gründliche redaktionelle Bearbeitung war. Einwände gegen Übersetzungen wurden aber gelegentlich schon während der Verhandlung vorgebracht12 und führten zu Korrekturen. Sogar ganze Passagen konnten gestrichen werden.13

Nach Sitzungsende mussten dann die Dolmetscher und Dolmetscherinnen die Abschriften noch einmal durchsehen und korrigieren. So standen am gleichen Abend dann den Prozessbeteiligten die kompletten schriftlichen Protokolle des Tages in den vier Prozesssprachen zur Verfügung.14 Oder aber sie wurden am folgenden Tag noch einmal von einem weiteren Team mit den Tonaufnahmen verglichen, sodass eine schon weitestgehend bereinigte Version für das Protokoll entstand.15 Diese war auch die erste Quelle für die Gesamtausgabe der Protokolle, die allerdings für die Druckausgabe noch einmal von einem bis zu hundertköpfigen Stab von Übersetzerinnen und Übersetzern mit den Tonaufnahmen abgeglichen wurden.16 Die großen Reden wurden vermutlich separat übersetzt, mussten aber gleichwohl kurzfristig auch für die Medien zur Verfügung stehen. Eine vertiefte Beschäftigung mit den vielen, teils neuartigen juristischen Termini während des Prozesses war unter diesen Umständen unmöglich. Auch für Schlüsselbegriffe wie „Crimes against Humanity“ oder „Genocide“ wurden daher im Verfahren und auch noch bei der späteren Endredaktion von den zahlreichen Dolmetschern und Dolmetscherinnen unterschiedliche Übersetzungen gebraucht, die auch in den gedruckten Bänden, die ja bereits ab 1947, also wenige Monate nach Prozessende erschienen,17 nicht vereinheitlicht wurden.

Eine Analyse vor allem der juristischen Fragestellungen und Ideen des Nürnberger Prozesses muss diese großen sprachlichen Varianten immer im Blick haben, die nicht nur auf Übersetzungsprobleme zurückzuführen sind, sondern auch die Tatsache spiegeln, dass das völkerrechtliche und völkerstrafrechtliche Vokabular, das im Nürnberger Prozess und den daraus sich entwickelnden Nürnberger Prinzipien gebraucht wurde, sich noch im Fluss befand. Das gilt für die englische und französische Ausgabe der Protokolle, für die deutsche Edition mussten die Übersetzerinnen und Übersetzer das völker- und menschenrechtliche Grundvokabular teils erst erfinden. Sie kamen dabei oft zu interessanten Lösungen, die auch heute noch zu denken geben. Eine Neuübersetzung würde heute dennoch in vielen Details anders aussehen.

Für die vorliegende Ausgabe haben wir daher nicht nur aus pragmatischen Gründen die originale Ausgabe von 1947 zugrunde gelegt. Sie ist ein Zeitdokument, das uns auch und gerade durch gewisse sprachliche Unebenheiten darauf hinweist, dass sich darunter auch juristische Stolpersteine verbergen können. Die Sprache der vier hier neu gedruckten Reden in deutscher Übersetzung wurde also vollständig respektiert, auch die seinerzeitige Rechtschreibung wurde beibehalten, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden bereinigt. Wo nötig und sinnvoll, wird in den einleitenden Essays auf die Originalsprache der jeweiligen Rede Bezug genommen, und es werden Übersetzungsvarianten mit einbezogen, die oft sehr aufschlussreich sein können. Konsequenterweise hat der Herausgeber auch nicht versucht, die terminologische Vielfalt der Originaltexte durch eine einheitliche Sprache in den vier einführenden Essays zu glätten. Alle Zitate aus fremdsprachigen Quellen wurden von den Verfassern ins Deutsche übersetzt, es sei denn es wird ausdrücklich auf eine andere Übersetzung verwiesen.

Eine genaue Lektüre der Anklägerreden stößt also immer wieder auf terminologische Fragen, die tiefreichende inhaltliche Fragen bis heute aufwerfen, die wichtigsten werden in den einzelnen Essays angesprochen. Herausgegriffen sei hier stellvertretend eines, das besonders in der deutschen Version der Prozessprotokolle zu Missverständnissen führen kann: Der letzte und in mancher Hinsicht schwierigste Anklagepunkt in Nürnberg waren die im Englischen als „Crimes against Humanity“ bezeichneten Taten. In der deutschen Ausgabe der Prozessprotokolle wird der Ausdruck überwiegend mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ übersetzt. So wird er auch heute in praktisch allen offiziellen deutschsprachigen Texten verwandt, wie z.B. im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. In den Prozessprotokollen finden sich jedoch auch alternative Übersetzungen, z.B. „Verbrechen gegen die Humanität“. Während es in Jacksons Rede „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ heißt, findet man in der Eröffnungsrede des britischen Anklägers Shawcross und gelegentlich auch im Urteil die Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschheit“.18 Gleiches gilt für die Übersetzung des Begriffs ins Russische.19

Was war mit „humanity“ gemeint? Aus dem Gebrauch des Begriffs „crimes against humanity“ bzw. „crimes contre l’humanité“ in den Nürnberger Verfahren selbst wie auch in der weiteren Entwicklung dieses Tatbestands im Völkerstrafrecht geht hervor, dass sich „humanity“ hier nicht auf einen Mangel an Menschlichkeit bezieht, sondern darauf, dass diese Verbrechen sich gegen die Menschheit bzw. „das Gewissen der Menschheit“ als Ganzes richteten.20 Für Shawcross waren „Crimes against Humanity“ solche, durch die „das Gefühl der Menschheit zutiefst verletzt“ wird.21 Der große rumänische Völkerrechtler Vespasien Pella formulierte den Sinn des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschheit“ einige Jahre später prägnant: „Was diese Taten zu Verbrechen gegen die Menschheit macht, ist die Tatsache, dass sie ihrem Wesen nach gegen das Menschengeschlecht [le genre humain] gerichtet sind.“22 Auch der französische Richter am IMT, Donnedieu de Vabres, betonte, dass von den beiden Bedeutungen von „humanité“ bzw. „humanity“ als „Menschheit“ und „Menschlichkeit“ die erstere die angemessene sei.23 Dieser Sinn war in Nürnberg durchaus klar. Was ein Problem bereitete, war die Frage, ob diese Verbrechen als eigenständiger Tatbestand nach internationalem Recht gelten konnten. Das IMT blieb hier sehr zurückhaltend, vor allem im Urteil, und zog es vor, diese Verbrechen, einschließlich der Vernichtung der Juden, im Kontext der Kriegsverbrechen zu sehen.24

So zeigt sich, dass eine gründliche und kritische Lektüre dieser historischen Texte nicht nur einen Einblick gewissermaßen in die Werkstatt dieses „Meilensteins“ des Völkerrechts geben kann, sondern auch zu Fragen führt, die bis heute kontrovers diskutiert werden. Der Blick zurück auf „Nürnberg“ bringt für diese Fragen keine Lösungen, aber er hilft, sie besser zu verstehen, und zu erkennen, dass auch die Fragen historisch geprägt sind und immer neu formuliert werden müssen.

Der vorliegende Band entstand im Rahmen der langjährigen Arbeit im Nürnberger Menschenrechtszentrum zu den Nürnberger Prozessen und seinen Nachwirkungen.25 Unser besonderer Dank gilt Andreas Gehring, Jonas Nußbaumer, Olga Lévesque und Henrike Claussen für die Unterstützung bei Recherche und Korrektur, sowie Helmut Altrichter, John Barrett, Gerd Hankel, Natal’ja Lebedeva, Kerstin von Lingen und Alfons Söllner für ihre konstruktiven Kommentare.

1 UN-Resolution 95 (I), 11. Dezember 1946.

2 Schon der britische Ankläger Hartley Shawcross bezeichnete das IMT als „Markstein [im Original „milestone“] in der Geschichte der Zivilisation“ (in diesem Band S. 472), die Metapher vom Meilenstein durchzieht die Literatur zum Nürnberger Prozess bis heute, vgl. z.B. Tomuschat, Legacy.

3 van Boven, Jeder Mensch, S. 116.

4 Vgl. Kirchheimer, Politische Justiz, Kap- VIII, S. 447 ff.

5 In diesem Band S. 61.

6 Vgl. Kosfeld, Nürnberg.

7 S. dazu die Beiträge zu Jackson und de Menthon.

8 NP.

9 NP Bd. 1: „Dieser Band ist gemäß den Weisungen des Internationalen Militärgerichtshofes vom Sekretariat des Gerichtshofes unter der Autorität des Obersten Kontrollrats für Deutschland veröffentlicht.“

10 S. den Essay zu Jackson in diesem Band, S. 58, Fußnote 139.

11 „Nachts mussten wir das Gestammel („gibberish“) korrigieren, das am Tag mitgeschrieben worden war.“ So formulierte es der IMT-Dolmetscher Peter Less (Gesse, Legend).

12 Der gut englisch sprechende Angeklagte Rosenberg machte von solchen Einwänden besonders ausgiebig Gebrauch, s. Kalverkämper, Erstbewährung, S. 110ff.

13 Die IMT-Dolmetscherin Marie-France Skuncke berichtet, dass z.B. die groben Beleidigungen Julius Streichers nicht ins Protokoll aufgenommen wurden (Skuncke, Tout a commencé). Oder auf Verlangen der sowjetischen Delegation wurden bestimmte Passagen gestrichen, s. dazu den Essay zu Rudenko in diesem Band.

14 Ramler, Prozesse, S. 81f.

15 So der Dolmetscher Peter Uiberall, zitiert in Baigorri-Jalón, From Paris, S. 226.

16 Gaiba, Origins, S. 51f.

17 Im Deckblatt des ersten Bandes der Protokolle heißt es: „Veröffentlicht in Nürnberg, Deutschland, 1947“. Der letzte Protokollband (Band 22) erschien im Jahr darauf, die restlichen 20 Bände mit Indices und Dokumenten dann 1949. Dies gilt für die deutsche und englische Ausgabe der Protokolle und Dokumente. Dieser enorme editorische Kraftakt zeugt von dem Wert, den die US-Militärregierung der Verbreitung des Prozesses im Kontext ihres Re-education-Programms zuschrieb. Zum Herausgeberstab gehörte auch Jacksons Sohn William.

18 Auch die erste, inoffizielle deutsche Übersetzung von Shawcross’ Eröffnungsrede hat das richtig erfasst und „Crimes against Humanity“, anders als in den Protokollen, durchgängig mit „Verbrechen gegen die Menschheit“ übersetzt (Shawcross, Rede).

19 S. den Beitrag zu Rudenko in diesem Band.

20 Huhle, Umgang.

21 NP Bd. 3, S. 108. In der englischen Fassung steht an dieser Stelle „shocking the sense of mankind“, eine weit klarere Formulierung als die gefühlige deutsche Übersetzung.

22 Pella, Memorandum, S. 348.

23 Donnedieu de Vabres, Modern Principles, S. 238, Fußnote 66.

24 S. den Beitrag zu Shawcross in diesem Band.

25 Vgl. Nürnberger Menschenrechtszentrum, Von Nürnberg nach Den Haag.

Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46

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