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Kollektive und individuelle Schuld, Schuld verbrecherischer Organisationen

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Die Nazi-Verschwörung richtete sich als Angriffskrieg gegen andere Staaten, als Summe von Kriegsverbrechen gegen die Völker in Europa und als Terror und Gewalt gegen die Würde des eigenen Volkes, gegen die natürlichen und unveräußerlichen Rechte auch der Deutschen. So zumindest versteht Jackson das Verhältnis der Nazis zum deutschen Volk.116 “Conspiracy” also auch gegen das eigene Volk – damit richtet sich Jacksons Rede auch gegen die These von einer Kollektivschuld der Deutschen, wie sie damals von manchen Politikern der Alliierten teils in großer Schärfe vorgetragen wurde.117 Der individuelle Schuld- und Verantwortungsbegriff ist in Jacksons Verständnis von Strafgerichtsbarkeit unabdingbar, er widmet ihm sogar einen eigenen, „Die Einzelverantwortlichkeit“ überschriebenen Abschnitt, in dem er unterstreicht, was später in den „Nürnberger Prinzipien“ festgeschrieben werden sollte: Weder Berufung auf Immunität und „Staatsakte“ noch die auf „höheren Befehl“ kann nach dem Londoner Statut vor Strafverfolgung festgelegten Verbrechen schützen.118

Aber die Kehrseite des Verschwörungsbegriffes liegt darin, dass damit nicht die breite und vielfach freiwillige Beteiligung an den Kriegsverbrechen und den Verbrechen gegen die Menschheit völkerrechtlich erfasst werden kann. Die viel kritisierte Anklage nicht nur von Personen, sondern auch von „verbrecherischen Organisationen“ erklärt sich von daher als der Versuch, neben der Feststellung der Schuld von Individuen auch die kollektive Dimension zu erfassen, in der diese Verbrechen erst möglich wurden. Wenn die vor Gericht sitzenden Angeklagten die Verschwörer waren, dann bildeten die angeklagten Organisationen den Rahmen, in dem diese Verschwörung realisiert wurde.

Der Ankläger will dem Gericht in Bezug auf die politischen, polizeilichen und militärischen Organisationen beweisen, „daß sie den inneren Zusammenhang hergestellt haben zwischen der Planung und der Ausführung der Verbrechen.“119 Die Organisationsanklage öffnet somit den Blick auf die vielen an den Verbrechen Beteiligten, deren Taten zumindest im Nürnberger Hauptverfahren nicht untersucht werden konnten.

Die rechtliche Problematik, die in dieser Konstruktion von formeller Zugehörigkeit einerseits und konkreter Verantwortlichkeit andrerseits steckt („kriminelle Vereinigung“), löst Jackson mit dem Hinweis, dass in allen Staaten, die den Gerichtshof tragen, Verurteilungen wegen Zugehörigkeit zu illegalen Vereinigungen möglich sind.120 Das war vor allem mit Blick auf die Sowjetunion nicht unbedingt eine vertrauensbildende Aussage. Er ist andererseits Pragmatiker genug, um darauf hinzuweisen, dass die Umstände, unter denen jemand Mitglied in einer verbrecherischen Organisation wird und sich an deren Taten beteiligt, natürlich zu berücksichtigen seien. Weitaus genauer als in seiner Eröffnungsrede geht er auf diese Fragen in seiner zweiten Rede am 28. Februar 1946,121 die hier nicht abgedruckt ist.

Aus der US-amerikanischen Perspektive von 1945 gehört die Frage nach der kriminellen Schuld der vielen Einzelpersonen in den NS-­Organisationen zum Gesamtprojekt der Überwindung der NS-­Herrschaft und des politischen, geistig-moralischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Die Feststellung des verbrecherischen Charakters der angeklagten Organisationen war dazu aus Jacksons Sicht ein wesentlicher Beitrag des Hauptkriegsverbrecherprozesses. Damit war nicht automatisch jeder einzelne Angehörige strafrechtlich verurteilt. Er war aber „einer Bestrafung ausgesetzt, die später durch besondere Gerichte bestimmt wird und vor denen er Entlastungsgründe vorbringen kann.“122 Diese besonderen Gerichte waren dann die Spruchkammern der Entnazifizierungsverfahren. So sehr im Rückblick diese Verfahren sowohl unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit wie der Wirksamkeit kritisierbar sind, das von Jackson vorgetragene Konzept einer Verschränkung von begrenzter kollektiver und von individueller Verantwortlichkeit zeigt in seiner Differenziertheit großes Bemühen um eine Form, die dem Anspruch auf Gerechtigkeit nahekommt. Dieses Konzept vermeidet eine Pauschalverurteilung des deutschen Volkes als Kollektiv, will aber auch dem Anspruch gerecht werden, dass die strafrechtliche Schuld der vielen Aktivisten und Unterstützer des Nationalsozialismus individuell untersucht werden muss123“.

Auch wenn Jackson die Anklage wegen Verschwörung wie kein anderer mit Emphase in Nürnberg vorgetragen hat, mag ihn dabei schon der Zweifel beschlichen haben, den er wenige Jahre später, wieder zurück am Obersten Gerichtshof, so formulierte: „Der moderne Straftatbestand der Verschwörung ist so vage, dass er sich fast jedweder Definition entzieht.“124

Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46

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