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Die Auswahl der Angeklagten

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In der Mitte seiner Rede, kurz ehe er auf das zu präsentierende Filmmaterial eingeht, macht Jackson seiner Empörung über die „Verkommenheit der Nazis“ einmal mehr mit Beispielen Luft:

„Neben allem Grausamen in diesen Versuchen stand das schmutzig Widerwärtige, nicht aus der Verkommenheit Untergeordneter entstanden, sondern ersonnen von führenden Köpfen der Nazi-Verschwörung. Am 20. Mai 1942 ermächtigte Generalfeldmarschall Milch den SS-Obergruppenführer Wolff, im Lager Dachau mit sogenannten „Kälteversuchen“ zu beginnen.“ 44

Es ist das einzige Mal, das Jackson Karl Wolff in seiner Rede erwähnt. Im Prozess selbst taucht sein Name jedoch viele Male auf, vor allem, wenn die von Jackson angesprochenen medizinischen Experimente zur Sprache kamen, z.B. auch im Verhör Görings. SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff war 1. Adjutant Himmlers und sein Verbindungsmann zu Hitler, später der oberste SS-Kommandant und teilweiser Kommandierender der Reichswehr in Italien. Im Rahmen der “Operation Sunrise”,45 der Teilkapitulation der Wehrmacht in Italien, hatte er sich den Amerikanern übergeben. Vielen hatte er als der zweite Mann hinter Himmler in der SS gegolten. Warum stand dieser höchstrangige SS-Mann nicht in Nürnberg vor Gericht, sondern „nur“ Kaltenbrunner?

Die übliche Erklärung für die Auswahl der im IMT Angeklagten ist, dass sie die gesamte Elite der Naziherrschaft abbilden sollten, möglichst in ihren obersten Rängen. Auch dieses Prinzip geht letztlich auf Franz Neumann zurück, der im “Behemoth” vier Machtgruppen identifizierte, die aus seiner Sicht im Nationalsozialismus an die Stelle des Staates traten: Die Partei samt ihren Sonderorganisationen und dem Sicherheitsapparat; die Wehrmacht; die Bürokratie; und die Industrie.46 Gerade letzterer galt die Aufmerksamkeit des langjährigen Gewerkschaftsanwalts Neumann besonders, und das viel kritisierte Insistieren Jacksons auf der Anklage gegen Gustav Krupp im IMT, und notfalls ersatzweise dessen Sohn Alfried,47 lässt unschwer Neumanns Konzept erkennen,48 das in diesem Punkt ja auch Jacksons eigenen Erfahrungen als Leiter der amerikanischen Anti-Trust-Behörde entsprach.

Mit dieser Ausnahme spiegelte die Anklagebank allerdings durchaus das Konzept der Elitenrepräsentanz, obgleich sich auf der Anklagebank ein Göring sicher nicht auf einer Stufe mit Streicher gesehen hat. General Milchs Auftritt beim IMT als Zeuge statt als Angeklagter erklärt sich, wie die Zeugenauftritte anderer hochbelasteter Täter, durch die Anwesenheit der höherrangigen Keitel und Jodl, und immerhin wurde Milch im zweiten Nachfolgeprozess zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Wolff aber stand weder im IMT noch im Ärzteprozess auch nur als Zeuge vor Gericht, lediglich im Verfahren gegen das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (als Pohl-Prozess bekannt) rief man ihn als Zeugen. 1948 wurde er schließlich in einem Entnazifizierungsverfahren zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt. Doch gehörte er später zu den wenigen hochrangigen NS-Tätern, die vor einem deutschen Gericht verurteilt wurden. Wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Juden erhielt er vom Münchner Landgericht 15 Jahren Haft, von denen er vier verbüßte.49

Warum also wurde dieser hochrangige SS-Mann, der sich in amerikanischem Gewahrsam befand, in den Nürnberger Prozessen nicht angeklagt? Neuere Forschungen haben dazu eine schlüssige Antwort. Die OSS-Chefs, insbesondere Allen Dulles, der die Kapitulationsverhandlungen mit Wolff geführt hatte, und General Donovan wollten vermeiden, dass Wolff Gelegenheit erhielt, öffentlich über Details der Kapitulationsverhandlungen zu sprechen, die hinter dem Rücken der Sowjetunion stattgefunden hatten.50 Ob Jackson selbst von den Gründen, warum Wolff nicht auf der Anklagebank sitzen sollte, informiert war, geht aus den veröffentlichten Akten nicht hervor. Die Episode wirft jedoch aufschlussreiches Licht darauf, dass die wichtigen Zuarbeiten des OSS und seines R&A Teams an das IMT auch einen Preis haben konnten.

Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46

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