Читать книгу Die Pandemie - Rainer Marten - Страница 10
Leben wird durch den Tod bedroht
ОглавлениеIn Kriegen zwischen Ethnien und Staaten werden der Befehl zum Töten und die Ausführung des Befehls belohnt. Jeder lebende Gegner ist ein Lebender zu viel. Werden eine Stadt, ein Land von einer Krankheit unbekannter Natur epidemisch überfallen, dann sind sich die Überfallenen darin einig, mit allen Kräften die Krankheit bekämpfen zu müssen. Hat im Kriege das Leben des Gegners keinen Wert, dann hat bei einer gemeinsamen Bedrohung selbstverständlich das Leben eines jeden den gleichen Wert. Als die unbekannte Pest Athen überfiel, waren Ärzte, wie Thukydides berichtet, bis zur Selbstaufopferung bereit, Menschenleben zu retten. Das ist nicht selbstverständlich. Mit einem Klumpfuß Geborene wurden im antiken Griechenland in der Wildnis ausgesetzt. Man überließ es einem Gottesurteil, ob sie überleben oder nicht. Der Freiburger Mediziner Alfred Hoche schlug in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts vor, »unwertes Leben« von Behinderten aus dem gesunden Volkskörper »auszustoßen«. Für gewisse Ethikräte und Politiker ist die Frage wieder aktuell geworden, ob es nicht sinnvoll, ja geboten ist, im Sinne des darwinistischen survival of the fittest dem jungen Leben gegenüber dem alten einen Mehrwert zuzuerkennen. Covid-19 in gesellschaftlicher Perspektive als Sterbehilfe der anderen Art? Das »Problem« mit den Alten, nämlich mit ihrem unnützen, nur Kosten verursachenden Leben, hat vielerlei »Lösungen« gefunden. Eine davon war das »Austragshäusel« im ländlichen Bayern. Es war für die beiden Alten und den schließlich nurmehr einen Alten bestimmt. Enkel trugen das Nötige zum Lebenserhalt hinüber. Es war nicht die Regel, aber auch nicht unüblich, dass die Versorgung knapp bemessen wurde, um das Leben nicht unnötig zu verlängern. Dabei hat das Alter seine ganz eigene Bedeutung für das Leben, wenn es schon alt werden darf. Ist einer nicht von außerordentlicher Vitalität, so dass er noch mit Mitte 90 am Dirigentenpult steht, so ist die Zeit des entinstrumentalisierten Lebens das Geschenk, sie als »Schule der Endlichkeit«1 zu nutzen.