Читать книгу Die Pandemie - Rainer Marten - Страница 7
»Alle Völker«
ОглавлениеDem wörtlichen Sinne nach bedroht eine Pandemie das ganze Volk, alles Volk, alle Völker. Das aber heißt, dass das Virus Sars-CoV-2, das die Erkrankung Covid-19 verursacht, »vulgär« (vulgus: das gemeine Volk) ist: Es treibt sich überall herum, macht bei den Menschen keinen Unterschied, sondern verhält sich vulgivagus, die lateinische Übersetzung von griechisch pandemisch. Platon unterscheidet die pandemische Aphrodite von der uranischen, der himmlischen. Die pandemische ist die gemeine, die sinnliche Liebe, die uranische hingegen die geistige, zu der allein der geistige Mensch, der nicht alltägliche, fähig ist. In der pandemischen Bedrohung sind alle Menschen gleich, sofern sie Menschsein auf seinen allgemeinsten Nenner bringt: auf das Lebewesen sein. Wenn die Pandemie die Menschen, die jetzt die Erde bewohnen, vereint, dann einzig insofern, als jedes Exemplar ein lebendiger Organismus ist. Die den Menschen gleiche Bedrohung, an Covid-19 zu erkranken, trifft nicht das Selbstbewusstsein des Menschen, Mensch zu sein. Zu sehr dominieren die das gesellschaftliche Leben fundierenden Ungleichheiten, als dass die physiologische Gleichheit ein menschliches Einheitsgefühl erzeugen könnte. Alle Länder, alle Staaten, alle Ethnien, alle Kulturen, alle Zivilisationen, die Menschen jeder Hautfarbe – das alles unter dem Aspekt organismischer Lebendigkeit vereinigt zu sehen, nein, dazu hat diese neuartige, in ihrer Gewalt noch immer unabsehbare gegenwärtige Bedrohung keine Macht. Wer dagegen hält, dass aber doch im Tode alle gleich sind, weil er das Ende des – allen gemeinen – organischen Lebens bedeutet, hat vermutlich noch kein keltisches Fürstengrab gesehen.