Читать книгу Die Pandemie - Rainer Marten - Страница 16

Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft

Оглавление

Mitleid (die wörtliche Bedeutung von Sympathie) ist ein einseitiges Geschäft. Es lässt die Bemitleideten vielfach kalt, ja nicht selten hassen sie das Mitleid, empfinden es als eine Herabwürdigung.4 Mitmenschlichkeit braucht Wärme, erzeugt Wärme, Wärme, die sich einander mitteilt. Empathie ist hier das Wort für das Empfinden, das wir füreinander haben, für eine Wechselseitigkeit, die konstitutiv für das je eigene Selbstgefühl ist. Aristoteles versteht Empathie im wörtlichen Sinne von in Passion, in Leidenschaft sein: der Furchtsame, der sich fürchtet, der Liebhaber, der liebt.5 Längst ist es das Wort für Einfühlung in den je Anderen und das sich von ihm her selbst neu Verstehen. Philosophen sprechen von der doppelten Alterität: Der Andere ist ein Anderer und er ist anders. Anderheit und Andersheit gehören zusammen, wenn es um Identitätsbildung geht, die sich auf praktizierte Alterität stützt. Empathie ist so nicht eine gelegentliche Möglichkeit, für Andere aufgeschlossen und nett zu ihnen zu sein. Empathie – das ist das Kennzeichen des empfindenden Menschen, der für das menschliche Ensemble geeignet und nötig ist. Empfindung meint dabei freilich das, was Proust eine echte (authentische) Empfindung nennt, die den Künstler braucht, um den rechten Ausdruck für sie zu finden, in diesem Falle den Lebenskünstler, der sich auf das Teilen des Lebens versteht. Die gängige moderne Deutung von Empathie als »Einfühlung« geht von einem solipsistisch gesteuerten Vorgang aus: mit einfühlendem Verstehen in einen fremden Anderen einzudringen, um gegebenenfalls auf einen als Mörder gedingten Kriminellen zu stoßen, für dessen Fühlen und Vollen kein einverständiges Verständnis aufzubringen ist. Empathie jedoch kennt und braucht allein einverständiges Verstehen im Sinne eines miteinander Warmwerdens.

Werden in der Corona-Krise Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft auf die Probe gestellt, dann ist es Lebenskunst als die Kunst, Leben zu teilen, die ihre Existenz und ihr Können unter Beweis zu stellen hat. Lebenskunst ist die für das gelebte und zu lebende Leben erste und nächste aller Künste. Mütter mit ihrer Fürsorge für das Neugeborene stellen Lebenskunst und Empathie unter Beweis, wenn sie durch sie das Kind, das noch ohne entwickeltes Selbst ist, mit Selbstsein belehnen, um so eine echte Zweiheit in ihrer Wechselseitigkeit zu bilden. Sie fühlen im Kind ihr zweites Ich, sich selbst, wie Aristoteles sagt, als ihr anderes Ich (heteros ego).6 Lebenskunst gehört zur Natur des Menschen. Er entwickelt sie durch Erfahrung. Misslingt Lebensteilung, zerbrechen Intim- und Vertrauensverhältnisse, enden Kommunikations–, Arbeits- und Gütergemeinschaften, sind Freundschaft und Beistand aufgekündigt, dann gehört auch das zum menschlichen Leben, ja eben zu seiner lebenspraktischen Wahrheit. Das aber zerstört nicht notwendig die Kunst, Leben gelingend zu teilen, und mit ihr die Bejahung, als Mensch zu leben mit dem Willen, menschlich zu leben. Im Gegenteil, gerade die Corona-Krise entdeckt, wie stark in den Menschen diese Kunst, wenn nicht lebendig, so doch latent vorhanden ist. Ohne damit zu den inflationären Heldennominierungen beizutragen, muss man sagen, dass Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft ihre Probe bestanden haben. Das ist die eigene Erfahrung und gilt, wie zu hören und zu lesen war, für weite Nachbarschaften. Doch die Corona-Krise ist kein Deus ex machina, bewirkt keine allgemeine Wende zur Güte, zum Guten. Der Mensch wäre nicht Mensch, wenn er nicht auch Zeugnisse für krasse Gegenbeispiele erbrächte: neu auflebende Diskriminierung, Marginalisierung, Verachtung. Die Erkrankung an Covid-19 und die Sorge, sie nach Möglichkeit zu verhindern, und, ist sie gegeben, so gut wie möglich zu therapieren, verändert den Menschen nicht, verbessert ihn nicht. Die uralten Rufe zur Umkehr, offensichtlich zur Rückkehr ins Paradies oder in ein reines Geisterreich, werden – zum Glück –weithin im Leeren verhallen und das vielbemühte, in Paris bei einer Kunstbegegnung geprägte Wort »Du musst dein Leben ändern« dürfte kaum eine Chance haben, bei der Corona-Krise in ihrem heute so reich diskutierten Danach lebenspraktisch von Bedeutung zu sein. Die Bestimmung jedes Menschen aber, mit Menschen dazusein und für Menschen dazusein, in deren Erfüllung sich Mitmenschlichkeit als menschliches Gelingen feiert, hat durch die so reich bezeugte Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft der Menschen in der Coronakrise die den Menschen von früh an begleitenden Urteile über seine grundständige Schlechtigkeit einmal mehr widerlegt. Harte, einem Volksgott aus welcher Motivation auch immer angedichtete Urteile über den Menschen, die die geistig-geistliche Kultur Europas mitgeprägt haben, sind einmal mehr Makulatur geworden:

Jede Verwirklichung der Planungen des menschlichen Herzens war durch und durch böse Tag für Tag.7

dass des Menschen Sinnen gerichtet ist, mit allem Eifer Böses zu tun von Jugend an.8

Die Pandemie

Подняться наверх