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BALANCE UND BARBAREN

MARC AUREL

Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst“: Karl Kraus, Wiens zuverlässiger Bonmot-Produzent, hat das in seiner Fackel formuliert, dem ein wenig unregelmäßig erscheinenden Periodikum, mit dem er seiner Stadt und ihrer von Geld und Gelangweiltheit zerstreuten Gesellschaft heimleuchtete. Der Satz, in dem er sein Augenmerk auf die technische Seite der urbanen Existenz legt, stammt aus dem Jahr 1911. Drei Jahre vor Beginn des Weltkriegs hat er seiner Stadt auch noch die beherrschende Mentalität benannt und sich gleich mit gemeint: Gemütlichkeit. Womöglich lag darin schon eine Drohung.

Es lebt sich, so beschwört es Kraus, leichter, wenn Miete, Strom, Gas funktionieren. Zivilisation bedeutet Komfort, man könnte sagen, das war schon immer so. Auch Dionysios von Halikarnassos, der Grieche, der im ersten Jahrhundert v. u. Z. nach Rom gekommen war, um den Kaiser Augustus zu besingen, hatte darin den Fortschritt erkannt – nicht im Marmor, nicht in der Literatur und nicht einmal in der berühmten Pax Romana; sondern, ganz lapidar: in den Aquädukten, in den gepflasterten Straßen, in den Abwasserkanälen. Karl Kraus, der Vielbelesene, wird gewusst haben, in welcher Tradition seine spezielle Stadtplanung steht.

Wien als Stadt geht auf die Römer zurück. Natürlich lebten auch früher schon Menschen in der Gegend – man sollte es diesbezüglich eher nicht wie der geborene Wiener Stefan Zweig halten, der in seiner längst Schullektüre gewordenen historischen Miniaturensammlung Sternstunden der Menschheit über den Entdecker Núñez de Balboa schrieb: „Er verbietet mitten in dieser von Menschen noch nie betretenen Wildnis den Soldaten, von den Eingeborenen Gold zu erhandeln.“

Quaden, Markomannen, Jazygen, Vandalen und Sarmaten sind die Stammesnamen, die den Römern aktenkundig wurden, germanische oder noch weiter östlich beheimatete Völker, die sich nicht so verhielten, wie sie sollten. Erst vom buchstäblichen Imperialismus des Imperiums überzogen, dann links liegen gelassen, weil sich eine Eroberung ökonomisch nicht rentierte, und schließlich von periodisch wiederkehrenden Strafaktionen in der Gefügigkeit gehalten, sahen sie sich gefordert, den Römern Paroli zu bieten. Sie waren einer Art Selektionsdruck ausgesetzt, einem eigenen Zwang zum Fortschritt, und sie hielten ihn aus, bis sie schließlich an Größe, Organisationsform und Führungskraft mithalten konnten. In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts war es soweit. Die Kampagne, derer es bedurfte, sie ruhig zu stellen, zog sich 14 Jahre lang hin. Einzig der Krieg gegen Hannibal, Äonen davor, hatte noch länger gedauert. Der Kaiser, der hier einen Gegner bekämpfte, dem man das Prädikat hostis, also „Feind“, versagte und der unter dem Begriff Barbaren firmierte, war Marc Aurel. Er regiert 161 bis 180. Ein Gutteil dieser Jahre verbringt er an der Donau. Er ist der Imperator mit dem höchsten Anteil an Abwesenheit von seiner Hauptstadt, der Urbs, dem Zentrum der Welt.

Mit ihm verbindet man keinen Gründungsakt. Vindobona war ein Legionslager, eine Fortifikation unter dreißig anderen, die an der Grenze, dem Limes, für Sicherheit zu sorgen hatten. Die Grenze war porös, vor allem im Winter, wenn die Donau zugefroren war und die Barbaren, die wahlweise auch als Latrones, als „Räuber“, galten, ins Reich brandeten, um das Wohlstandsgefälle zu überbrücken. Vindobona ist als Name keltisch und heißt so viel wie „weiße Stadt“ auf Deutsch oder Belgrad auf Serbisch. Marc Aurel hat Vindobona immerhin prominent gemacht, denn nach aller Wahrscheinlichkeit ist es der Ort seines Sterbens – es gibt einen Gegenkandidaten, Sirmium, heute Sremska Mitrovica an der Save, 70 Kilometer östlich von Belgrad. Doch die Biografie des Berliner Althistorikers Alexander Demandt legt sich fest: Wien. Am 17. März des Jahres 180 ist der Kaiser tot. Es lebe der Kaiser, Commodus heißt er, es ist Marc Aurels leiblicher Sohn. Damit endet das Prinzip der Adoptionen, das seit Trajan und damit ein Jahrhundert lang sehr erfolgreich eine Kette von guten Herrschern geknüpft hatte. Edward Gibbon, der Begründer der neuzeitlichen seriösen Geschichtsschreibung, meinte um 1780, der Zeitraum der Adoptivkaiser sei „the most happy and prosperous“ von allen gewesen, die es jemals gegeben habe. Mit Marc Aurel hat er sich erledigt.

Anders als Gladiator, Ridley Scotts Monumentalfilm von 2000, es darstellt, findet Marc Aurel sein Ende nicht in einem Zelt in germanischer Wüstenei, und es ist auch nicht ein missratener, schon vorab dem Cäsarenwahn verfallener Nachfolger, der bei diesem Ende nachhilft. Mit Marc Aurels Jahren verbindet man die erste bekannte Pandemie, eine Pest, wie auch immer ihre Symptome waren, und eine Erklärung für seinen Tod läge in Spätfolgen der Seuche. Und er stirbt im Legionslager, unter soweit wie möglich splendiden Umständen im Gebäude des Legionskommandanten, dem Legatenpalast. Noch heute lässt sich die Topografie dieses Lagers in der Wiener Innenstadt nachverfolgen. Annähernd rechteckig zogen sich seine Mauern über Naglergasse und Graben zu Stephansplatz und Rotenturmstraße über Schwedenplatz und Gonzagagasse den Tiefen Graben entlang. Das zentrale Straßenkreuz im Innern, auf Lateinisch Cardo und Decumanus, hätten die Achsen Tuchlauben/Marc-Aurel-Straße bzw. Hoher Markt/Wipplingerstraße markiert. Marc Aurels Sterben hätte sich dann im Bereich des heutigen Judenplatzes abgespielt.


Relikt aus dem römischen Wien: der Bronzefuß einer überlebensgroßen Statue, entdeckt um 1800 beim Bau des Wiener Neustädter Kanals. Die Statue stand vermutlich auf dem Forum der Zivilstadt von Vindobona.

Doch war Marc Aurel nicht nur Kaiser. Er war Denker. Als solcher hat er ein epochemachendes Stück philosophischen Räsonnierens hinterlassen. In Griechisch, nach wie vor der Gelehrtensprache, verfasst, sind die zwölf Bücher gerichtet „an sich selbst“, ton eis heauton, heute entsprechend bekannt als Selbstbetrachtungen, eine Sammlung von 487 kurzen Texten, Aphorismen gleich. Notgedrungen sind viele von ihnen unterwegs entstanden, gleichsam zur Vergewisserung, wenn draußen, im Feldzug, alles drunter und drüber geht. Zwei Vermerke im Text verweisen auf Orte ihres Entstehens, und dies sind die einschlägigen: Am Ende des ersten Buchs findet sich die Eintragung „Geschrieben bei den Quaden an der Gran“, einem Donau-Nebenfluss (Hron) in der heutigen Slowakei; und über dem dritten Buch steht die Ortsangabe „Geschrieben in Carnuntum“, dem Vindobona benachbarten Legionslager donauabwärts, das bis heute Österreichs Erinnerung an die Römer konserviert. Auch im Fall dieser philosophischen Kostbarkeit, die erst im 16. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, ist Demandt sicher: „Das Handexemplar wurde beim Tode des Kaisers in Wien gefunden. Vielleicht hat es bereits Commodus, der es gewiss nicht gelesen hat, kopieren und publizieren lassen.“

Vielleicht also hat Marc Aurel mit seiner Philosophie der Stadt, die ihn sterben sah, noch ein Vermächtnis hinterlassen. Die sprichwörtliche und ganz spezielle Wiener Gemütlichkeit legte so ihre stoische Wurzel frei.

Der Nachfolger hat es nicht gelesen. Was hätte er mit den buchstäblich stoischen Weisheiten, die Marc Aurel anruft, anfangen sollen: mit den Qualitäten der Apatheia, der Autarkeia oder der Ataraxia, die allesamt Maximen meinen, dank deren man sich zurücknimmt aus der Welt, die Unerschütterlichkeit bedeuten, Konzentration auf sich selbst, ein gewisses Geht-mich-nichts-an oder Was-will-man-machen. Doch passt die Lehre von der Gelassenheit durchaus in einen Fürstenspiegel. So übt der Imperator, der als vorbildhaft in die Geschichte eingegangen ist, sich doch auch im Spagat zwischen Zurückhalten und Zurückschlagen – ein Imperator, der genauso Feldherr war, der den Christen die härtesten Verfolgungen seit Nero bescherte (so hat es Justin der Märtyrer, der Patron der Philosophen, dank Marc Aurel zu Ruhm gebracht) und der dem Reich eben auch einen Commodus hinterließ.

Entsprechend bringt Marc Aurel in Carnuntum Folgendes aufs Pergament: „Es ist also eine winzige Zeitspanne, die jeder lebt, und winzig ist auch das Fleckchen Erde, wo er lebt. Winzig ist auch selbst der längste Nachruhm, und dieser beruht nur auf der Erinnerung armseliger Menschen, die sehr bald sterben werden und nicht einmal sich selbst kennen.“ (III,10). Ein solches Memento Mori ist in der Gegend, wo es formuliert wurde, womöglich irgendwann ein stehender Begriff, und das Alles ist hin liegt schon auf der Zunge. Oder diese Sentenz: „Eine Spinne ist stolz, wenn sie eine Fliege gefangen hat, ein anderer, wenn er einen Hasen … ein anderer, wenn er Bären, wieder einen anderer, wenn er Sarmaten gefangen hat. Sind die nicht alle Räuber, wenn du ihre Absichten prüfst?“ (X,10). Vielleicht also hat Marc Aurel mit seiner Philosophie der Stadt, die ihn sterben sah, noch ein Vermächtnis hinterlassen. Die sprichwörtliche und ganz spezielle Wiener Gemütlichkeit legte so ihre stoische Wurzel frei.

Diese Gemütlichkeit meint es ja nicht nur gemütlich. Sie fühlt sich wohl beim Heurigen, aber sie schätzt auch sehr, wenn sie dabei zusehen kann, wie jemand aufs Maul fällt – zusehen, um derlei Scheitern dann im nächsten Akt in eine eigene Philosophie umzumünzen. Stoizismus und Stupidität. Niemand legt es in seiner Mischung aus Abgründig- und Ahnungslosigkeit besser an den Tag als Helmut Qualtingers Herr Karl: „Aber bitte – es geht mi nix an. Ich mache meine Arbeit, ich kümmere mich nicht um Politik, ich schaue nur zu und behalte es für mich.“ Peter Melichar, der Historiker, hat es mit dem Blick des Vorarlbergers auf die Haupt- und Hauptstadtallüren Wiens so beschrieben: „Eine merkwürdige Blindheit, Kälte oder Unerschütterlichkeit des Gemütes, die auch immer wieder als Gemütsruhe bezeichnet wird, ermöglicht erst den Übergang zur Gemütlichkeit. Es ist eine spezifische Abstraktionsleistung, die von allen anderen, die für die eigene Befindlichkeit gerade nicht von Bedeutung sind, absieht und sie ohne böse Absicht, sondern schlicht aus Eigennutz oder Egoismus gewissermaßen ignoriert.“

Karl Kraus hat das römische Erbe im Eingangssatz auf seine Art komprimiert. Technische Großartigkeiten gehen mit jenen der Mentalität einher und so sind Straßenspülung und Gemütlichkeit dann doch Begleiterscheinungen. Das allerletzte Wort, das Kraus in der Fackel zu Papier brachte, es war im Jahr 1935, ist „Trottel“. Das letzte Wort in den Selbstbetrachtungen Marc Aurels ist „heiter“. In der Kombination von beiden hat die Wiener Seele ihr Refugium.

ENTDECKEN

Römermuseum

Hoher Markt 3

1010 Wien


Der Beginn: Das Legionslager Vindobona, Außenposten des Imperium Romanum an der Donau.

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