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3. Die Methode des doppelten Abstraktionsverfahrens zur Grundlegung von formaler Logik und Kategorienlehre (18 – 19/FW I, 98 – 99)

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Wenn man in philosophischer Analyse von dem Inhalt der Tathandlung des „Ich = Ich“ abstrahiert, dann sieht man von dem Ich in einer künstlichen Weise ab, denn dieses bildet den Inhalt der Tathandlung. Was nach diesem Absehen noch übrig bleibt, ist bloß die Form des Aktes, die darin besteht, etwas notwendigerweise mit sich selbst gleich zu setzen; was sich als „A = A“ formalisieren lässt. Diese Formalisierung bietet die Möglichkeit einer Einsetzung von allem für die Variable „A“. Wegen dieser Formalisierung, Notwendigkeit und Allgemeinheit ist der Satz der Identität ein formallogisches Gesetz, das keinen spezifischen Inhalt hat. Hier wird das Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Logik bei Fichte deutlich: Die Logik ist eine von den konstitutiven Vollzügen der Subjektivität abstrahierende Disziplin, die jene voraussetzt, wenngleich die Logik als eigene Disziplin diese ihre Voraussetzung nicht selbst hinterfragt. Insofern ist die Logik eine unselbständige und unvollständige Disziplin um die Strukturen des Denkens zu erfassen. Die Logik sieht nach Fichte nur die Formen der noematischen Produkte des Denkens, aber weder die noetische Aktivität noch das Denkende, d.h. das Ich. Dabei erweist sich die Unselbständigkeit und Unvollständigkeit der Logik hinsichtlich einer vollständigen Beschreibung des Denkens besonders dadurch, dass sie vom Ich abstrahiert, wo doch eigentlich gar nicht von ihm abstrahiert werden kann; sofern es unhintergehbar in jedem Denkakt mitgegenwärtig ist. Die Logik ist daher für Fichte eine künstliche Wissenschaft, die ihren Blick hinsichtlich der Form des Denkens verengt, indem sie von wesentlichen Elementen absieht und nur die noematische Strukturform von Denkverbindungen thematisiert.

„A = A“ ist eine logische Grundbestimmung, die jedes Ding erfüllt, sofern es vom Ich gedacht wird. Alles Denkbare muss mit sich selbst identisch sein und diese logische Identität hängt von der Ich-Identität ab; daher kann es nichts Denkbares geben, was nicht der Ich-Identität gemäß ist. Alles, was denkbar ist, muss auch vom Ich vollziehbar sein; dies gilt in dem Sinne, dass nur etwas identisch mit sich sein kann, sofern es auch im Ich setzbar ist. Damit kann es keine Dinge an sich im trivialen Sinn geben. Dinge an sich im trivialen Sinn wären solche, die prinzipiell nicht in eine Relation zum Ich und zur Identität treten könnten; derartige Dinge an sich dürften nicht mit sich selbst identisch sein; denn wären sie mit sich selbst identisch, dann wären sie einem Gesetz des Ich gemäß und wären auch im Ich setzbar; dann wären sie aber nicht mehr absolut an sich, sondern für das Ich. Somit bilden Dinge an sich im trivialen Sinn einen Selbstwiderspruch, der vom Denken des Ich nicht nachvollziehbar ist: „Kein mögliches A im obigen Satze (kein Ding) kann etwas anderes sein, als ein im Ich Gesetztes“ (19/FW I, 99). – Allerdings konzipiert Fichte auf komplexerer Ebene auch ein Ding an sich im nichttrivialen Sinn; an späterer Stelle der Grundlage nimmt dieses, wie noch zu sehen sein wird, sogar eine zentrale Rolle ein. –

Ein zweiter Abstraktionsschritt, der auf diesem ersten aufbaut, kann nun vorgenommen werden. Aus diesem zweiten Abstraktionsschritt ergeben sich die Kategorien.43 In diesem zweiten Abstraktionsschritt wird nach Fichte davon abgesehen, dass das Urteil „A = A“ eine strukturelle Handlungsverknüpfung ist; es wird nur noch im Blick behalten, dass es sich um eine Thesis, eine Setzung handelt, also dass überhaupt etwas gesetzt wird. Das Setzen ist die „Handlungsart“, nicht der Handlungsinhalt, sondern die Art und Weise des Handelns. Etwas hat durch das Setzen des Ich Realität. Setzen ist Realität.

Realität ist also in einem weiten Sinn zu verstehen: Das, was als mit sich identisch im Ich gesetzt ist, hat Realität. In diesem Sinne hat ein Engel ebensoviel Realität, wie eine mathematische Formel oder ein Haus. Alle bilden für das Ich eine Sachhaltigkeit, die es vollziehen kann, ohne die Gegenstandsidentität und ohne die Ichidentität aufzuheben. Wenn also gesagt werden kann, dass das Ich die Realität setzt, ist dies davon zu unterscheiden, dass das Ich den Dingen Wirklichkeit gebe. Dies ist mit Realität offensichtlich nicht gemeint; wirkliche Existenz kommt einem Ding nicht bloß dadurch zu, dass das Ich es setzt. Gleichwohl ist die vom Ich gesetzte Realität die notwendige Voraussetzung dafür, dass etwas auch als wirklich von ihm vollzogen werden kann; wobei aus der bloßen Realität noch nicht die Wirklichkeit folgt; sonst wäre jeder Gedanke des Ich wirklich.

Aus der Kategorie der Realität, d.h. aus dem Gesetztsein, sind alle anderen Kategorien herzuleiten (vgl. 19/FW I, 99). Diese Herleitung leistet Fichte an dieser Stelle nicht; aber man kann sie sich wohl mit dem Argument klar machen, dass sowohl die Kategorie der Negation als auch die Kategorie der Limitation – welche die anderen Kategorien der Relation und der Quantität enthält – jeweils das Gesetztsein voraussetzen und ohne es nicht denkbar sind. Damit erweist sich, dass die Kategorie der Realität eine ursprüngliche und transzendentale Bestimmung ist, denn sie ermöglicht andere Bestimmungen, die wiederum zur Bestimmung und zur Erkenntnis eines Gegenstandes notwendig sind.

An diesem doppelten Abstraktionsverfahren wird deutlich, dass die Kategorien die logischen Urteilsformen voraussetzen; was auch Kant so entwarf. Wobei für das geradehin gerichtete, lebensweltliche Bewusstsein in seiner Welt der Umgang mit Dingen grundsätzlich kategorial bestimmt ist und es sich die logischen Gesetze erst als Abstraktionen aus den Kategorien vorstellt. Das für das lebensweltliche Bewusstsein Bekanntere sind die Dinge selbst und darin eingehüllt die kategorialen Bestimmungen. Die Kategorien werden – mit einer Wendung Heideggers – „zunächst und zumeist“ nicht abgesondert thematisch explizit gemacht, sondern sind für das gewöhnliche, lebensweltliche Bewusstsein unthematische, selbstverständliche Vollzüge, die durchgängig praktiziert werden. Nur der Transzendentalphilosoph der Wissenschaftslehre hebt diese kategorialen Bestimmungen und die darin vorausgesetzten logischen Urteilsformen und die wiederum in den Urteilsformen vorausgesetzten Handlungen des Ich thematisch explizit hervor.

Dieses doppelte Abstraktionsverfahren Fichtes zur Ableitung von Grundbegriffen des Bewusstseins, die ihm dazu dienen, etwas zu bestimmen, unterscheidet sich fundamental von der transzendentalen Deduktion der Kategorien Kants in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Zwar sind auch nach Kant die Kategorien die begrifflichen Bestimmungen, die strukturieren, dass und wie uns Seiendes bzw. Gegenstände begegnen können. Aber dort stehen von vornherein die beiden Erkenntnisstämme: intuitive Anschauung und diskursiver Verstand fest, wie auch die zwölf Kategorien des Verstandes, die dieselben Einheitsfunktionen sind, wie diejenigen der zwölf Urteilsfunktionen, aber mit spezifischer Anwendbarkeit und Beziehung auf sinnliche Anschauungen. Kategorien „sind Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird“.44 Die transzendentale Deduktion der Kategorien hat bei Kant die Aufgabe, zu zeigen, dass trotz der Heterogenität der beiden Erkenntnisstämme die Verstandesbegriffe dennoch rechtmäßigerweise auf die gegebenen Anschauungen anzuwenden sind. Hier handelt es sich also um ein Vermittlungsproblem in der Dualität von Begriff und Anschauung im Rahmen einer gesetzmäßigen und regelhaften Erkenntnis von Gegenständen. In der Erkenntnis von Gegenständen sind nach Kant Begriff und Anschauung miteinander regelhaft verknüpft. Fichte hebt dagegen mit seiner Methode der doppelten Abstraktion hervor, dass die Kategorien ichimmanente Bestimmungen sind; diesem hätte auch Kant zugestimmt, er hätte jedoch eher betont, dass die Kategorien für uns nur dann einen inhaltlich erfüllten Sinn haben, wenn sie auf raum-zeitliche Anschauungen bezogen sind. Eine Anwendung der Kategorien auf die spezifischen menschlichen Anschauungsformen Raum und Zeit leistet Fichte in der Grundlage nicht, wenngleich er es in Aussicht stellt (vgl. 145/FW I, 225). Die Deduktion Kants als Aufweis der Rechtmäßigkeit der Anwendung von Kategorien auf Anschauungen ist für Fichte ein Spezialproblem, das eigentlich erst im Rahmen der „Deduktion der Vorstellung“ auftreten kann, denn dort werden die Vermögen Anschauung und Verstand abgeleitet. So wie Kant die Kategorien als regelhaft-spontane Ordnungsfunktionen für das gegebene Mannigfaltige versteht, kann sie Fichte im Rahmen der drei Grundsätze nicht deuten, da die sinnliche Anschauung an diesem Ort noch gar nicht abgeleitet wurde. Kants Verständnis von Kategorien als Ordnungsfunktionen in der Erfahrung betrifft in Fichtes Sicht nur die interne Struktur des sinnlich-endlichen Nicht-Ich, kann aber aufgrund des sinnlichen Anschauungsbezugs nicht auch auf das reine Ich selbst angewendet werden.

Das wird noch deutlicher, wenn man Kants Lehre vom Schematismus mitberücksichtigt, denn die Kategorien werden, sofern sie für uns sinnvolle Einheitsbezüge in der Erfahrung herstellen, als solche Urteilsfunktionen verwendet, die spezifisch raum-zeitliche Einheitsstrukturen aufweisen. Die spezifischen Raum-Zeit-Ordnungsstrukturen sind die transzendentalen Schemata. Die produktive Einbildungskraft erschafft nach Kant figürliche Synthesen, die einerseits mit den Begriffssynthesen der Kategorien und andererseits mit den Mannigfaltigkeitsstrukturen von Raum und Zeit kompatibel und gleichartig sind.45 Damit erfahren aus Fichtes Sicht die Kategorien eine weitere Spezifikation auf die Anschauungsformen von Raum und Zeit hin.

Fichte kann auch der seit Reinhold gängigen Kant-Kritik zustimmen, dass die Kategorien bei Kant nicht aus dem Ich selbst abgeleitet werden. Genau mit diesem Problemzusammenhang einer genetischen Ableitung von Kategorien aus dem Ich selbst haben es die ersten drei Grundsätze aus Fichtes Grundlage aber zu tun. Kategorien sind nach Fichte nichts anderes als begriffliche Fixierungen von Handlungstypen des Ich, wobei einerseits in einem ersten Abstraktionsschritt vom Ich als dem Akteur abgesehen wird und andererseits in einem zweiten Abstraktionsschritt vom Akt bzw. von der Agilität. Nur das noematische Produkt wird in der Analyse des Philosophen zurückbehalten und dieses ist die Kategorie. Daher folgt als Kategorie aus dem ursprünglichen „Ich = Ich“, der Identitätssetzung des Ich, unter Abstraktion vom Akteur einerseits und vom Akt andererseits nur dass etwas mit sich selbst gleich gesetzt wird. Dass etwas mit sich selbst gleich gesetzt wird, verleiht ihm Realität in dem Sinne, dass es eine mögliche, d. h. identische und widerspruchsfreie und damit sachhaltige Vorstellung bildet. Das, was nicht mit sich selbst gleich ist, hat keine Sachhaltigkeit für uns, denn es widerspricht sich selbst. Daher ist die Kategorie der Realität die zugleich allgemeinste und inhaltsunbestimmteste Kategorie, sie gilt für alles, was überhaupt für uns etwas sein kann und bestimmt doch den Inhalt dieses Etwas nicht näher, sondern sagt nur aus, dass es mit sich selbst gleich ist.

Johann Gottlieb Fichtes 'Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794'

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