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2. Die Entwicklung des Widerspruchs (26 – 27/FW I, 106 – 107)

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Sofern ein Nicht-Ich gesetzt ist, wird das Ich nicht gesetzt, d.h. aufgehoben, weil das Nicht-Ich das zum Ich Entgegengesetzte ist. Wo Nicht-Ich ist, kann nicht Ich sein und wo Ich ist, kann nicht Nicht-Ich sein. Allerdings setzt das Entgegensetzen des Nicht-Ich das Setzen des Ich voraus; damit es ein Entgegensetzen geben kann, muss es vorgängig ein Setzen und damit auch ein Sich-Setzen des Ich geben. Nur ein durchgängig mit sich identisches Ich kann sich etwas entgegensetzen, sonst wäre das Entgegengesetzte ohne Bezug; ohne etwas, wogegen es wäre. Sofern das Nicht-Ich das dem Setzen des Ich Entgegengesetzte ist, hat es die Bedeutung, dass sich das Ich nicht setzt. „Mithin ist das Ich im Ich nicht gesetzt, insofern das Nicht-Ich darin gesetzt wird.“ (26/FW I, 106) Diese Aussage kann man sich dahin gehend weiter verständlich machen, dass im Rahmen des theoretischen Wissens ein Subjekt ein Objekt auffasst und in diesem Auffassen das Subjekt auf das Objekt gerichtet ist und sich selbst über dieser intentionalen Ausrichtung vergisst; im Akt des Selbstvergessens ist das Subjekt zugunsten der Thematisierung eines Objekts sich nicht selbst thematisch; in Fichtes Worten: das Ich ist nicht gesetzt, sondern das Nicht-Ich.

Die erste Prämisse dieser Argumentation besagt: Um das Nicht-Ich setzen zu können, muss das Ich nicht gesetzt sein; die zweite Prämisse sagt dagegen: Das Nicht-Ich kann nur gesetzt werden, wenn vorgängig und beständig in Geltung bleibend sich ein Ich immer schon gesetzt hat. Darin besteht der offenkundige Widerspruch: Gleichermaßen muss das Ich gesetzt und nicht gesetzt sein, um ein Nicht-Ich zu setzen. Diese antithetische Argumentationsfolge ist lediglich eine Entwicklung dessen, was im zweiten Grundsatz bereits gesagt war; und so handelt es sich um eine bloße „Analyse“, eine Entfaltung dessen, was zuvor noch verborgen im zweiten Grundsatz schon vorhanden war. Die konsequente Drohung Fichtes lautet: „Also ist der zweite Grundsatz sich selbst entgegengesetzt, und hebt sich auf. […] Aber er hebt sich selbst nur insofern auf, inwiefern das Gesetzte durch das Entgegengesetzte aufgehoben wird, mithin, inwiefern er selbst Gültigkeit hat. Nun soll er durch sich selbst aufgehoben sein, und keine Gültigkeit haben. Mithin hebt er sich nicht auf.“ (27/FW I, 106) Gleichermaßen hebt sich auf diese Weise der zweite Grundsatz auf und nicht auf. Weshalb er sich aufhebt, ist aus dem Vorangehenden klar; aber weshalb er sich nicht aufhebt, hat noch Unklarheiten in Fichtes Argumentation, die nun zu beseitigen sind.

Das Sich-nicht-Aufheben des zweiten Grundsatzes folgt daraus: Vorausgesetzt, der zweite Grundsatz würde sich aufheben, dann bestünde diese Aufhebung darin, dass er in sich einen Widerspruch bzw. eine Entgegensetzung enthielte, die nicht denkbar ist. Der zweite Grundsatz formuliert aber doch genau die Bedingungen dafür, dass überhaupt etwas entgegengesetzt sein kann. Um sich also selbst aufzuheben, muss der zweite Grundsatz bereits in Geltung sein, weil es sonst das Phänomen der Aufhebung, der Selbstentgegensetzung nicht gäbe. Bezogen auf Ich und entgegengesetztes Nicht-Ich bedeutet dies: Damit die Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich aufgehoben werden könnte – was der Fall wäre, wenn der zweite Grundsatz nicht gelten würde –, müsste eine Identität von Ich und Nicht-Ich gesetzt werden, die selbst der Nichtidentität von Ich und Nicht-Ich entgegengesetzt wäre; diese zweite Entgegensetzung könnte es aber nicht geben, wenn sich der zweite Grundsatz aufheben würde, weil es dann keine Entgegensetzung gäbe. Eine Aufhebung der Gültigkeit der Entgegensetzung würde bedeuten, dass Ich und Nicht-Ich identisch wären; damit wäre das Ich, weil es mit dem Nicht-Ich identisch ist, mit sich selbst nicht mehr identisch, denn „Ich = Ich“ kann nicht in der selben Hinsicht sinnvoll denkbar sein wie „Ich = Nicht-Ich“; das Ich wäre in diesem Fall nicht mehr sich selbst gleich, und dieses ist kein sinnvoller Gedanke. Aufhebung (auch Selbstaufhebung) durch Widersprüchlichkeit setzt Entgegensetzung daher immer schon voraus, und damit würde eine Aufhebung des zweiten Grundsatzes diesen bereits als gültig voraussetzen. Deswegen hebt sich der zweite Grundsatz als das Prinzip der Entgegensetzung auch nicht auf.

Der Widerspruch, dass im Ich auch das Nicht-Ich gesetzt ist, der das Ich aufhebt, ist bislang aus der Perspektive des zweiten Grundsatzes entfaltet worden; derselbe Widerspruch lässt sich aber gleichermaßen auch aus der Perspektive des ersten Grundsatzes entfalten: Dieser besagt, dass ausschließlich das Ich gesetzt ist. Dagegen besagt der zweite Grundsatz, dass dem Ich das Nicht-Ich entgegengesetzt ist. Wenn nun ausschließlich das Ich gesetzt ist (erster Grundsatz), dann ist mit dem Nicht-Ich (des zweiten Grundsatzes) die eigene Setzung des Ich aufgehoben. Auch in diesem Fall wird deutlich, dass die Aufhebung des ersten Grundsatzes durch den Widerspruch dessen Gültigkeit bereits voraussetzt; denn nur wenn ein Ich gesetzt ist, kann ein dieses aufhebendes Nicht-Ich gesetzt werden. Analog zum zweiten Grundsatz gilt daher auch für den ersten Grundsatz, dass dessen Aufhebung seine Gültigkeit bereits voraussetzt. Damit ist der Widerspruch, der eine Folge aus der gleichermaßen notwendigen Geltung von erstem und zweitem Grundsatz ist, vollständig entwickelt. Beide Grundsätze gelten nicht und gelten. Weil sie notwendigerweise gelten, darf man sie nicht schlicht als falsch verwerfen; da sie einander aber auch widersprechen und ausschließen muss man nach einer Lösung suchen, die beide Sätze ohne eine wechselseitige Aufhebung bestehen lässt.

Johann Gottlieb Fichtes 'Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794'

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