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1. Die Hinführung zum Ich-Prinzip und die Tathandlung (11 – 15/FW I, 91 – 95)

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Fichte beginnt die Grundlage mit der Suche nach einem ersten Grundsatz.16 Dieser erste Grundsatz muss als Basis allen möglichen Wissens völlig unbedingt sein; d.h., er darf keine Voraussetzungen machen, von denen er selbst abhängig wäre, denn dann wäre er nicht die tatsächlich erste Grundlage; vielmehr würden diejenigen Bestimmungen, von denen der Grundsatz abhängig ist, in einen dann wahrhaft ersten Grundsatz eingehen müssen. Aufgrund der völligen Unabhängigkeit von anderem bezeichnet Fichte den Grundsatz als „absolut ersten“ und als „schlechthin unbedingten“ (11/FW I, 91). Der Anfang der Philosophie zeichnet sich also durch eine radikale Unbedingtheit und Unabhängigkeit aus. Daher hat auch der Grundsatz, der diese Unmittelbarkeit des Anfangs artikuliert, unbedingt und unabhängig zu sein. In der Begriffs-Schrift führt Fichte über die Struktur des Grundsatzes Folgendes aus: „Kein Satz ist ohne Gehalt oder ohne Form möglich. Es muss etwas seyn, wovon man weiß, und etwas, das man davon weiß. Der erste Satz aller Wissenschaftslehre muss demnach beides, Gehalt und Form haben. Nun soll er unmittelbar und durch sich selbst gewiss seyn, und das kann nichts anders heißen, als dass der Gehalt desselben seine Form, und umgekehrt die Form desselben seinen Gehalt bestimme. Diese Form kann nur zu jenem Gehalte, und dieser Gehalt kann nur zu jener Form passen; jede andere Form zu diesem Gehalte hebt den Satz selbst und mit ihm alles Wissen, und jeder andere Gehalt zu dieser Form hebt gleichfalls den Satz selbst und mit ihm alles Wissen auf. Die Form des absoluten ersten Grundsatzes der Wissenschaftslehre ist also durch ihn, den Satz selbst nicht nur gegeben, sondern auch als schlechthin gültig für den Gehalt desselben aufgestellt.“17 Hier hebt Fichte die unmittelbare Selbstevidenz des Grundsatzes hervor; differenziert aber offensichtlich, dass jeder Satz einerseits Form und andererseits Inhalt hat, was auch für den absolut ersten Grundsatz gelten muss. Aber bei diesem liegt ein Sonderfall in der Relation von Form und Inhalt vor, denn Form und Inhalt müssen sich bei diesem wechselseitig bestimmen. Der Inhalt muss die Form bestimmen, weil vor dem Inhalt des ersten Grundsatzes nichts anderes als gültig akzeptiert werden darf als dieser selbst und weil damit als bestimmend für die Form nur der Inhalt dieses Satzes in Frage kommt. Dies gilt aber auch umgekehrt, denn vor dem Inhalt des absolut ersten Grundsatzes kann nichts anderes als die Form desselben als gültig akzeptiert werden; somit muss die Form es sein, die den Inhalt bestimmt. In gewisser Hinsicht müssen Form und Inhalt beim ersten Grundsatz somit identisch und gleichursprünglich sein.

Wenn Fichte hier von Absolutheit und Schlechthinnigkeit spricht, dann bedeutet dies keine metaphysische Konzeption, sondern es bezeichnet lediglich eine schlichte Unabhängigkeit und Voraussetzungslosigkeit des Ausgangspunktes allen Wissens. Absolutheit meint eine uneingeschränkte Unabhängigkeit.18 Aus dieser Unabhängigkeit folgt notwendig, dass der erste Grundsatz sich weder „beweisen“ lässt – weil er sonst von höheren, fundamentaleren Beweisgründen abhängig wäre und ein unendlicher Regress drohen könnte – noch dass er sich „bestimmen“ lässt – weil sonst ein Zirkel drohen würde, denn der erste Grundsatz soll Ausgangspunkt für alles Bestimmen und für alles Bestimmte sein, wäre er selbst auch schon bestimmt, dann wäre bereits vorausgesetzt, was aus ihm hergeleitet werden soll, und somit läge ein fehlerhafter Zirkel vor. Wäre der erste Grundsatz etwas Bestimmtes, dann wäre er ebenfalls abhängig, nämlich von seinen Bestimmungsgründen und von seiner Relation zu ihnen. Aus dieser notwendigen Unbestimmtheit des Ersten ergibt sich weiterhin, dass es sich bei ihm um kein metaphysisches Ich handeln kann; denn ein solches wäre bereits gegen das empirische Ich abgegrenzt und damit gegen es bestimmt; ebenso wäre das metaphysische gegen das bloß logische Ich abzugrenzen. Eine solche Differenziertheit und Abgrenzung wäre aber für das Erste bereits ein zu weit gehender, unbegründeter Vorentscheid über seine innere Bestimmtheit: „Das absolute Ich des ersten Grundsatzes ist nicht etwas (es hat kein Prädikat, und kann keins haben), es ist schlechthin, was es ist, und dies lässt sich nicht weiter erklären“ (30/FW I, 109).

Das vollständig Unbedingte stellt für die Philosophie daher ein fundamentales Problem dar; nämlich das Problem des richtigen Anfangs.19 Der Anfang ist für die Philosophie von entscheidender Bedeutung; insbesondere dann, wenn sie systematisch und deduktiv, d.h. ab- und herleitend vorgeht. Denn allein aus dem Anfang ergibt sich dann, was an späteren Herleitungen möglich ist. Daher liegt im Anfang der Wissenschaftslehre zugleich eine Vorentscheidung über ihre weiteren Möglichkeiten. Diese vorentscheidenden Möglichkeiten sind allerdings am Anfang der Wissenschaftslehre noch nicht explizit thematisch, sie sind noch verborgen, latent in der anfänglichursprünglichen (Un-)Bestimmtheit des ersten Prinzips enthalten.

Das Bewusstsein ist als etwas zu betrachten, das ermöglicht wird und zugleich etwas in sich komplex Vermitteltes ist. Im Bewusstsein stehen sich Bewusstseiendes (Subjekt), Bewusstes (Objekt) und Bewusstseinsakt (Vorstellung) als voneinander Unterschiedene, aber doch aufeinander Bezogene gegenüber. Weil das Bewusstsein und damit zugleich die Tatsachen in ihm als ermöglicht, d.h. als bedingt anzusehen sind, kann das erste Prinzip, das im ersten Grundsatz artikuliert wird, kein Bewusstsein sein und auch keine Tatsache, die sich im Bewusstsein vorfinden lässt. Das erste Prinzip muss vielmehr die Möglichkeitsbedingung allen Bewusstseins sein; als eine solche Bedingung des Bewusstseins, kann das Prinzip nicht selbst Bewusstsein sein, denn sonst läge ein fehlerhafter Zirkel in der Argumentation vor und Bewusstsein würde aus Bewusstsein erklärt; denn der Grund hätte dieselbe Bestimmung wie das Begründete. Dasselbe Zirkelproblem gilt für die gesamte Empirie. Fichte versteht unter Empirie all dasjenige, was als Tatsache im Bewusstsein vorliegt. Dieser Empiriebegriff geht weit über denjenigen Kants hinaus, der unter dem Empirischen dasjenige versteht, was durch Empfindung als anschaulich Mannigfaltiges gegeben ist. Fichte begreift dagegen alle Tatsachen des Bewusstseins als empirisch. Das Prinzip darf jedoch keine Tatsache des Bewusstseins sein, weil diese bedingt sind: letztlich als Gegebenheiten im Bewusstsein durch die komplexe Struktur von Subjekt, Objekt, Vorstellung, Beziehung und Unterscheidung. Das erste Prinzip darf also generell keine Tatsache sein.

Wie bereits in seiner Aenesidemus-Rezension vom Februar 1794 setzt Fichte auch in der Grundlage dem abkünftigen Begriff der Tatsache den Begriff der „Tathandlung“ (11/FW I, 91) als ursprünglicheren entgegen.20 Mit diesem Wort kommt zum Ausdruck, dass zwei Elemente einheitlich ein Ganzes sind, nämlich die Tätigkeit und die Handlung. Mit beidem wird eigentlich dasselbe ausgesagt, es soll nämlich die pure Aktuosität des Prinzips zum Ausdruck kommen.21 Diese Aktuosität ist eine genauere Bestimmung der Unbedingtheit. Nur eine unbegrenzte Aktuosität oder Spontaneität kann nicht durch anderes bedingt sein, muss also schlechthinnig und unabhängig sein. Daraus folgt, dass das erste Prinzip nie in der Erfahrung angetroffen werden kann, denn dort gibt es immer Bedingtheit und Faktizität. Daran wird deutlich, dass die Wissenschaftslehre, in ihrer Darstellungsart durch Grundsätze mit einem ersten Prinzip beginnend, eine Abstraktion und Konstruktion gegenüber der Erfahrungswelt vollzieht.22 Die Philosophie muss sich das erste Prinzip konstruieren, es liegt nicht als Faktum im Bewusstsein vor, es muss vielmehr zu jeder Tatsache des Bewusstseins als deren Voraussetzung hinzugedacht werden. Dieses Hinzudenken besteht in der Einsicht von uns Philosophen, dass jede Tatsache des Bewusstseins durch die Tathandlung bedingt und ermöglicht wird. Insofern partizipiert die Tatsache an der Tathandlung. Die Tathandlung konstituiert die Tatsache. Dies wird auch etymologisch daran sichtbar, dass in der „Tatsache“ noch die „Tat“ steckt; allerdings ist die Tat in der Tatsache mit einer Sache synthetisiert, d.h. mit etwas, das geradehin vorliegt und passiv vorfindlich ist. Diese Vorfindlichkeit der Tatsache ist der Tathandlung strikt entgegengesetzt, weil diese nicht passiv und damit bedingt vorliegen kann.

Insofern ist Fichte auch nicht dadurch zu kritisieren, dass gegen seinen ersten Grundsatz eingewendet wird, er komme nicht unter den Tatsachen des Bewusstseins vor; gerade dieses Nichtvorkommen ist eine fundamentale Charakteristik der Unbedingtheit des ersten Prinzips; dies wendet sich gegen Reinhold, der seinen ersten Grundsatz als fundamentale Tatsache des Bewusstseins konzipierte.23

Zweierlei ist in Fichtes Darstellung des ersten Prinzips zu unterscheiden – was Fichte selbst nicht immer in der wünschenswerten Klarheit differenziert: 1. der erste Grundsatz bzw. das erste Prinzip selbst mit seinen immanenten Strukturen und 2. der Weg, auf dem der nachvollziehende Philosoph, also wir, zu diesem Prinzip gelangt. Der zweite Aspekt betrifft nur eine propädeutisch-pädagogische Hinsicht, nämlich die Methode, mit der wir uns nachvollziehend dem ersten Prinzip nähern. Der pädagogische Weg, den wir, die mitvollziehenden Leser, zu beschreiten haben, um zu dem ersten Prinzip hin zu gelangen, wird von Fichte als „Aufsuchung“ (11/FW I, 91) bezeichnet. D. h. für uns anfangende Philosophen gibt es noch keine methodischen Richtlinien, sondern wir haben das Bewusstsein zu durchforschen und werden darin bei einem unhintergehbaren Gedanken fündig. Dieser Gedanke wird das „Ich bin Ich“ sein. Auf diesen Gedanken werden wir durch eine hypothetisch anzunehmende Gewissheit geführt; dies wird der Satz der Identität „A = A“ sein.

Wir nachvollziehenden Philosophen haben, in pädagogisch-propädeutischer Absicht, zum ersten Grundsatz vermittels einer „Reflexion“ und einer „Abstraktion“ vorzudringen (11/FW I, 91). Hier liegt mit Worten Husserls und Rickerts eine „eidetische Abstraktion“ vor. Für uns ist es notwendig, um zu dem ersten Prinzip zu gelangen, einen Anfangspunkt bei einer Tatsache des Bewusstseins zu nehmen und von dort ausgehend wird nun durch eine gedanklich-philosophische Re-Konstruktion dasjenige gewonnen, was wesentlich und fundierend der Tatsache zugrunde liegt. Dennoch bleibt die Tathandlung dem Bewusstsein unerreichbar: „Selbst vermittelst dieser abstrahierenden Reflexion nicht – kann Tatsache des Bewusstseins werden, was an sich keine ist; aber es wird durch sie erkannt, dass man jene Tathandlung, als Grundlage alles Bewusstseins, notwendig denken müsse“ (11/FW I, 91). Abstraktion liegt in diesem Verfahren insofern vor, als bei der Tatsache des Bewusstseins, die den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet, schrittweise von allen empirischen Bestimmungen abgesehen wird; dabei wird also all das weggelassen, was bloß kontingent ist. Durch diese Abstraktion bleibt dasjenige übrig, was prinzipiell nicht abstrahierbar ist, also das, was, würde man es wegdenken, zu einem inkohärenten Widerspruch führen würde (vgl. 12/FW I, 92).

Was mit dem ersten Grundsatz für den Philosophen vorliegt, ist also eine gedankliche Konstruktion eines Ersten, Begründenden für alles Bewusstsein und Wissen. Daran wird auch der eigentliche Status der Transzendentalphilosophie und der Wissenschaftslehre deutlich, deren Aufgabe es ist, die Ursprünge und fundamentalen Voraussetzungen allen möglichen Wissens zu klären; sie ist nämlich eine philosophisch-gedankliche Konstruktion einer Fundamentalebene für das Bewusstsein, die selbst nicht mehr auf der Ebene des Fakten wissenden Bewusstseins liegt.

Um die Fundamentalebene der Transzendentalphilosophie zu erreichen, ist es notwendig, von einer solchen Tatsache des Bewusstseins auszugehen, die jedes Bewusstsein als sinnvoll und gültig zugesteht. Eine solche Tatsache sind die Gesetze der Logik und hier genauer das für die Logik fundamentale Gesetz der Identität: „A = A“. Fichte versucht nun in didaktisch-pädagogischer Absicht eine Hinführung zu den transzendentalen Grundlagen und zum ersten Prinzip im Ausgang von der Gültigkeit dieses fundamentalen logischen Gesetzes „A = A“. Mit diesem Anfang liegt also noch nicht die Herleitung des Satzes der Identität („A = A“) aus dem ersten Grundsatz („Ich = Ich“) vor, sondern umgekehrt führt der Satz der Identität das Bewusstsein zum Ich-Prinzip hin. Daran wird die pädagogisch-propädeutische Absicht deutlich, die für diese ersten Abschnitte der Grundlage gilt. Die umgekehrte Richtung der transzendentalphilosophisch und sachlich notwendigen Ableitung des Satzes der Identität aus dem Ich-Prinzip wird erst später geleistet. – Fichte geht auch damit über den elementarphilosophischen Ansatz Reinholds hinaus, der die Philosophie im Ausgang von fundamentalen Tatsachen beginnen läßt;24 Fichte zeigt dagegen, dass Tatsachen auf eine Tathandlung zurückgeführt werden müssen und dass die Tatsachen somit nicht den wirklichen Anfang der Philosophie bilden können.

Fichte verweist in diesem Kontext auf die Schwierigkeit eines Zirkels (vgl. 12/FW I, 92): Die Reflexion und Abstraktion, die wir nachvollziehenden Philosophen ausüben, um zum ersten Prinzip zu gelangen, gehorcht bereits den Gesetzen der Logik, und auch die Erkenntnis der ersten Fundamente allen Wissens muss logisch korrekt sein. Die Transzendentalphilosophie darf den Gesetzen der Logik nicht widersprechen, sonst wäre sie ein sinnloses und nicht zu explizierendes Unterfangen; zugleich besteht aber auch der Anspruch der Transzendentalphilosophie, die Gesetze der Logik allererst zu rechtfertigen; d. h., die Begründungsebene der Transzendentalphilosophie soll fundamentaler als die Gesetze der Logik sein.25 Nach Fichte ist dies ein notwendiger Zirkel und kein fehlerhafter. Aus methodischer Sicht fragt sich daher – mit einem Wort Heideggers – nicht, wie der Zirkel zu vermeiden ist, sondern „wie man auf rechtmäßige Weise in ihn hineinkommt“. Diese rechtmäßige Methode, in den Zirkel von Logik und Transzendentalphilosophie hineinzukommen, ist eben der propädeutische Weg zum Ich-Prinzip, zunächst durch die Anerkennung der Gesetze der Logik, insbesondere des Satzes der Identität, und davon ausgehend dann die Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit von dessen Gültigkeit, d.h. der Rückgang auf die Handlungen des Ich, die diesen Satz in seiner Gültigkeit vollziehen. Aus diesen Handlungen des Ich ist dann nach Fichte wiederum in der umgekehrten Argumentationsrichtung die Möglichkeit des Satzes der Identität und infolgedessen die gesamte Logik herzuleiten. Somit sind der Satz der Identität und die Logik in propädeutisch-einführender Hinsicht zwar ratio cognoscendi der Ich-Handlungen, aber umgekehrt sind in sachlich-geltungsbegründender Hinsicht die Handlungen des Ich ratio essendi der Logik und des Satzes der Identität. Der Zirkel ist daher notwendig, aber nicht fehlerhaft.

Der Satz der Identität „A ist A“ wird nach Fichte allgemein von jedem zugestanden; er bietet sich daher als Ausgangspunkt der Argumentation an. Hier zeigt sich bereits eine rudimentäre Form von Schlechthinnigkeit und Unbedingtheit, denn der Satz „A ist A“ wird „zunächst und zumeist“ anerkannt, ohne dass nach einer Begründung gefragt wird (vgl. 12f./FW I, 93); eine Begründungsangabe wäre in gewissem Sinne sogar paradox, da ja auch die Begründung des Satzes der Identität bereits für die Begründungsargumente wiederum Identität voraussetzen müsste; denn wenn diese Begründungsargumente nicht mit sich identisch wären, wären sie von sich selbst verschieden; etwas, das von sich selbst verschieden ist, lässt sich aber nicht sinnvoll denken. Daher hat der Satz der Identität eine zumindest relativ schlechthinnige Gültigkeit.

Der Satz der Identität besteht nach Fichte aus einem ersten A, welches das Satzsubjekt bildet, einem zweiten A, welches das Satzobjekt bzw. Prädikat bildet, und der Kopula „ist“, die beide A miteinander verbindet. Die Kopula „ist“ bringt die Selbigkeit oder Identität der beiden A zum Ausdruck, nicht ein Sein oder eine Existenz des A (vgl. 12 f./FW I, 92 f.). Mit moderner Logik formuliert: Der Junktor „ist“, ist kein Existenzquantor, der eigentlich den Umfang des Urteils beträfe; nämlich die Frage, ob es wenigstens ein x gibt, für das f(x) gilt. Fichte drückt dasselbe so aus: „Der Satz: A ist A ist gar nicht gleichgeltend dem: A ist, oder es ist ein A. (Sein, ohne Prädikat gesetzt, drückt etwas ganz anders aus, als Sein mit einem Prädikate; […])“ (13/FW I, 93).

Dies wird durch das Beispiel eines in zwei gerade Linien eingeschlossenen Raumes verdeutlicht. Ein solcher Raum existiert zwar nicht, aber es ist logisch korrekt, wenn man aussagt, dass ein in zwei gerade Linien eingeschlossener Raum identisch ist mit einem in zwei gerade Linien eingeschlossenen Raum. Um zu verhindern, dass man das kategorische Urteil „A ist A“ als Existenzaussage missversteht, formuliert Fichte es in ein hypothetisches Urteil um: Wenn A ist, dann ist es A (vgl. 13/FW I, 93). Die Identität lässt sich in allen drei Urteilsfunktionen der Relation – kategorisch, hypothetisch und disjunktiv – ohne Bedeutungsveränderung aussagen.26

Aus logischer Sicht wird also nicht die Existenz des A ausgesagt, sondern nur, dass, wenn es überhaupt ein A gäbe, dieses mit sich selbst notwendigerweise identisch sein müsste; denn ein A, das nicht A ist, kann nicht gedacht werden. Es wird deutlich, dass nach Fichte das logische Gesetz der Identität nur die Form von etwas betrifft, nicht den Inhalt (vgl. 13/FW I, 93). Über den Inhalt einer Aussage wird mit der Identität nichts spezifisches ausgesagt, sondern nur darüber, wie dieser Inhalt überhaupt strukturiert, geordnet sein muss, damit er denkbar ist. Die Existenzfrage, ob das A ist, betrifft dagegen den Inhalt (bzw. nach moderner extensionaler Logik den Umfang) der Aussage, nicht deren bloße Form; nämlich, ob ein solches Exemplar, für das die Form der Identität logisch aussagbar ist, auch existiert.27 Insofern ist im Satz der Identität nicht die Existenz des A logisch notwendig, sondern nur der Konnex zwischen dem ersten und dem zweiten A; wenn überhaupt ein A sein sollte, dann muss es mit sich selbig sein. Allein dieser Zusammenhang von Subjekt-A und Objekt-A, der im kategorischen Urteil durch die Kopula zum Ausdruck kommt – und im hypothetischen Urteil durch das „Wenn-dann“ – ist gewiss. Fichte bezeichnet diese Verknüpfung – der Kürze halber – als „X“ (13/FW I, 93).

Nun kann also eingesehen werden, dass der Zusammenhang „X“ zwischen Antezedens (Subjekt-A) und Konsequenz (Objekt-A) notwendig gilt: Mit diesen liegen eigentlich drei Elemente des Identitätsgedankens vor. Es bedarf aber, um sie zu dem einheitlich-einfachen Gedanken der Identität zu verknüpfen, darüber hinaus eines Verknüpfenden, nämlich eines Etwas, das alle drei Elemente gleichermaßen vollzieht und sich nicht mit dem Haben eines jeden der drei Elemente mitverändert. Das sich nicht Mitverändernde ist die verknüpfende Einheit der drei Gedankenelemente zu dem einen Gedanken der Identität. Die noematische Identität – also die gedachte Identität – setzt eine noetische Identität – also eine denkende Identität – voraus. Wenn das Vorstellende in allen drei Gedankenelementen nicht mit sich selbst identisch wäre, dann gäbe es den Zusammenhang „X“ gar nicht. Die drei Gedankenelemente dürfen nicht einfach nebeneinander liegen in einem Verknüpfenden, das sich mit ihnen jeweils mitwandelt vom Subjekt-A zur Kopula und dann zum Objekt-A bzw. Prädikat-A; sondern das (noetisch) Verknüpfende muss jeweils mit sich selbst gleich sein, soll es gelingen, einen einheitlichen Gedanken hervorzubringen. In dieser Hinsicht ist das „X“ im einem, durch ein und für ein Ich gesetzt (vgl. 13/FW I, 93f.); denn das in den mannigfaltigen Gedankenelementen und -phasen mit sich identisch Bleibende und die Gedanken einheitlich Verknüpfende ist das Ich. Damit ist nicht gesagt, dass es in ontologischer Hinsicht ein Ich geben muss, sondern nur, dass es aus transzendentaler Sicht notwendig ist, ein Ich zu konzipieren, wenn es den einheitlichen, notwendigen noematischen Gedanken der Identität geben soll. Es handelt sich also nicht um eine Ontologie des Ich; sondern um eine transzendentale Unterscheidung von noematischer und noetischer Ebene im Denken des Gedankens der Identität.

Das Gesetztsein von „X“ im Ich impliziert bei tiefer gehender Analyse weiterhin nicht nur, dass es ein vollziehendes Ich geben muss, sondern auch, dass es ein A geben muss: „X“ ist eine Relation zwischen Zweien (die eigentlich Eines sind), eine Relation ohne Relata wäre jedoch ein undenkbarer Gedanke; wenn es also das „X“ als Vollzug im Ich gibt, dann muss es auch die Relata, insbesondere das Subjekt-A geben (vgl. 14/FW I, 94). Denn nur wenn es die Relata gibt, kann es auch die Relation geben. Nun gibt es mit Gewissheit die notwendige Relation „X“ im Ich, also muss es auch das A geben.

A ist im Ich gesetzt; auch hier liegt daher nicht eine ontologische Voraussetzung vor, sondern A als Relatum und „X“ als Relation des A mit sich sind jeweils im Ich gesetzt. Dieses Im-Ich-gesetzt-Sein bedeutet aber nicht, dass A oder „X“ wirklich existieren; es bedeutet lediglich, dass sie im Bewusstsein als Tatsache vollzogen werden. Daraus lässt sich nicht folgern, dass sie z.B. in Raum und Zeit wirklich existieren, sondern nur, dass sie im Bewusstsein erlebt werden. Ebenso kann ein Engel, Gott, ein Tisch, 3 + 2 = 5 oder 3 + 2 = 6 im Ich gesetzt werden; die Setzung von etwas im Ich bedeutet nicht, dass es durch dieses Setzen des Ich wirklich oder richtig wäre, sondern nur, dass es überhaupt vollzogen wird, unangesehen seiner konkreten modalen Bestimmung oder Korrektheit. Die Modalitätsbestimmungen (im Sinne von Möglichkeit-Unmöglichkeit, Dasein-Nichtsein, Notwendigkeit-Zufälligkeit) sind an diesem Ort der Wissenschaftslehre noch nicht abgeleitet und können daher hier noch keine systematische Geltung beanspruchen. Wenn Fichte hier also vom Gesetztsein im Ich spricht, dann meint er, dass etwas vom Bewusstsein vollzogen wird, in ihm auftritt. Das Ich, von dem Fichte an unserer Stelle spricht, ist auch noch nicht das Ich der Tathandlung, denn dass dasA und das „X“ und auch das Ich selbst als faktisch und als gegeben erlebt werden, zeigt bereits, dass es sich noch um Tatsachen des empirischen Bewusstseins handelt und noch nicht um die Tathandlung (vgl. 14/FW I, 94).

Das Ich, in dem A und „X“ gesetzt sind, lässt sich noch weiter bestimmen: In gewisser Hinsicht ist das Ich nämlich mit dem „X“ identisch. Im „X“ kommt der notwendige Zusammenhang zum Ausdruck, dass „A = A“ ist; zugleich ist darin aber impliziert, dass es ein mit sich durchgängig identisches Ich geben muss, das sich wiederum als „Ich = Ich“ ausdrücken lässt. „A = A“ bringt die noematische Identität zum Ausdruck und „Ich = Ich“ dagegen die noetische Identität; da die noetische Identität „Ich = Ich“ es ist, die die noematische Identität „A = A“ konstituiert, ist die noematische Identität mit der noetischen Identität in einer bestimmten Hinsicht identisch, denn die noetische Identität des Ich drückt sich in der noematischen Identität aus. Dies wird z. B. daran deutlich, dass wir dieselbe Gleichungsform gebrauchen, um die noetische und die noematische Identität zu artikulieren. Jeweils gibt es einen Subjekt-, einen Objektausdruck und eine Kopula, welche die Selbigkeit darstellt: „es wird gesetzt, dass im Ich […] etwas sei, das sich stets gleich, stets Ein und ebendasselbe sei; und das schlechthin gesetzte X lässt sich auch so ausdrücken: Ich = Ich; Ich bin Ich“ (14/FW I, 94).

Wenn auch in gewisser Hinsicht noetische Identität des Ich und noematische Identität identisch sind, so gilt doch auch, dass sich ein Unterschied zwischen beiden nicht nivellieren lässt, die noematische Identität ist das Vorgestellte, das Vollzogene und die noetische Identität des Ich ist das Vorstellende, das Vollziehende. Daraus folgt, dass es eine asymmetrische Abhängigkeit der noematischen Identität von der noetischen Identität des Ich gibt. Das Ich konstituiert das „A = A“, nicht umgekehrt. Daher ist die Abhängigkeit asymmetrisch: Sie lässt sich nicht umkehren; es ist für Fichte ein absurder Gedanke, dass der Gedanke den Denkenden konstituiert, es ist vielmehr umgekehrt. Trotz dieser Nichtumkehrbarkeit gilt aber auch, dass sich das „Ich = Ich“, die noetische Identität immer in einer noematischen Identität artikuliert; also gilt, dass das Ich von seiner noetischen Identität auch nicht ohne die noematische Identität weiß; die noematische Identität ist also ratio cognoscendi der noetischen Identität und die noetische Identität ist ratio essendi der noematischen Identität.

Dieser zentrale Unterschied von „A = A“ und „Ich = Ich“ lässt sich auch folgendermaßen beschreiben: Das „A = A“ ist in gewisser Hinsicht bedingt, auch wenn das „geradehin“ gerichtete empirische Bewusstsein „zunächst und zumeist“ dies nicht bemerkt, weil es diesen Satz „schlechthin“, d. h. unhinterfragt akzeptiert. Aber wie die bisherige Analyse des „A = A“ zeigt, sind sowohl das A als auch das „X“ nur dadurch gesetzt, dass sie im Ich gesetzt sind, daher ist der Satz der Identität bedingt, durch das Ich. In dem Satz „Ich = Ich“ – hier nimmt Fichte eigentlich einen Aspekt des „Ich = Ich“ als Tathandlung vorweg – ist das Ich aber nicht unter einer höheren Bedingung gesetzt, sondern nur dadurch, dass es mit sich selbst identisch ist (vgl. 14f/FW I, 95). Nur sofern das Ich überhaupt gesetzt ist, kann es den Zusammenhang des „X“ geben. Insofern ist der Satz „A = A“ seiner Form nach zwar unbedingt gültig, aber seinem Gehalt nach, d. h., dass es überhaupt mit dem A ein Worüber gibt, von dem der Satz der Identität gilt, ist er bedingt; nämlich durch das Ich.

Daraus folgt nach Fichte: Der Satz „Ich = Ich“ besagt eigentlich dasselbe wie der Satz „Ich bin“. Im Falle des „Ich bin“ wird nämlich eigentlich ausgesagt, dass es ein Ich dadurch gibt, dass es sich als mit sich selbig vollzieht. Das Sich-mit-sich-als-identisch-Vollziehen geschieht nicht unter einer höheren Bedingung, es geschieht einfach und wird einfach erlebt. Das „Ich = Ich“ oder das „Ich bin“ ist insofern als schlechthinnig einzusehen, als es die Voraussetzung für den zunächst schlechthinnig erscheinenden Satz „A = A“ ist; das „Ich = Ich“ oder „Ich bin“ ist also nicht einmal durch den Satz der Identität bedingt. Dennoch ist das hier gesetzte Ich noch immer nicht das absolute Ich der Tathandlung: „Dieser Satz: Ich bin, ist bis jetzt nur auf eine Tatsache gegründet, und hat keine andere Gültigkeit, als die einer Tatsache“ (15/FW I, 95). Daran wird deutlich, dass wir uns noch immer auf dem propädeutischen, aufsteigenden Weg zum Prinzip der Tathandlung befinden und noch nicht bei diesem selbst angelangt sind.

Parallel zu dem Verhältnis von „X“ zum gesetzten A bei dem Satz der Identität ist das Verhältnis von „Ich = Ich“ zum gesetzten Ich: Das Ich muss gesetzt sein, wenn die Relation „Ich = Ich“ vollzogen werden kann, denn eine Relation ohne Relata wäre ein Ungedanke. Bei dem Ich besteht die Besonderheit, dass die Relation „Ich = Ich“ gleichermaßen auch die Setzung der Relata ist. Das Ich ist nichts anderes als eine sich mit sich als selbig setzende Relation. Alle Gedanken des empirischen Bewusstseins setzen den Gedanken der Identität und der darin enthaltenen notwendigen Verknüpfung („X“) voraus; alles, was sich das Bewusstsein vorstellen kann, muss mit sich identisch sein. Da nun das „Ich = Ich“ oder auch das „Ich bin“ die Voraussetzung für die Identität ist, muss das „Ich = Ich“ die fundamentalste Tatsache des Bewusstseins sein; weil durchgängig alles Bewusstsein dies voraussetzt. Ohne dass sich das Ich selbst gesetzt hat, kann keine Setzung von etwas im Bewusstsein vollzogen werden. Alles Vollziehen von etwas setzt den Selbstvollzug des Ich voraus. „Es ist demnach Erklärungsgrund aller Tatsachen des empirischen Bewusstseins, dass vor allem Setzen im Ich vorher das Ich selbst gesetzt sei.“ (15/FW I, 95) Dieses „vorher“ ist nicht zeitlich, sondern konditional zu verstehen: Das Ich ist die Bedingung der Möglichkeit der noematischen Setzungen. Nur dann, wenn das Ich sich mit sich selbst identisch setzt, kann etwas in ihm als mit sich identisch gesetzt werden. Die Identität „A = A“ ist in allen anderen Gedanken mitenthalten, sie existiert nicht jenseits der Gedanken, sondern ist transnoematisch, d. h., in jedem beliebigen Noema ist „X“ mitanwesend; ohne dass es jeweils explizit thematisch gemacht werden müsste.

Dieses Sich-mit-sich-identisch-Setzen des Ich muss es nicht aktuell selbst wissen, es reicht aus, wenn es dieses vollzieht, d.h., wenn es mit sich selbig ist. Das Ich hat sich nicht beständig thematisch im aufmerksamen Bewusstsein seiner selbst; es muss nur durchgängig mit sich selbig sein, wenn verschiedene Gedanken von ihm zu einer Einheit verbunden werden. Sonst wäre sich das Ich beständig thematisch seiner selbst inne; was aber gerade bei dem faktischen Ich nicht der Fall ist; und es wäre auch ein Problem, zu verstehen, wie das Ich dann überhaupt anderes als sich selbst vorstellen könnte, wenn es immer nur sich selbst thematisierte. Dass das Ich sich nicht beständig in allen Vorstellungen selbst thematisch gegenwärtig ist, kritisiert bereits Leibniz an Descartes’ Annahme, das ego sei sich in den cogitationes als Denkendes bewusst. Leibniz konzipiert dagegen insbesondere mit den petites perceptions auch die Möglichkeit von unbewussten Vorstellungen.28 Wegen der Möglichkeit unbewusster Vorstellungen entwirft auch Kant, dass es bei allen Vorstellungen dem Ich nur möglich sein können muss, sich thematisch als Akteur der Vorstellungen zu erfassen, dass dies aber keinesfalls immer aktuell thematisch der Fall ist.29

Dem steht widersprüchlicherweise entgegen, was Fichte in einem Zusatz zur zweiten Auflage der Grundlage von 1802 (vgl. 15/in FW I, 95 nicht mitgeteilt) andeutet: Er sagt dort, dass das Ich sich selbst anschaut, sofern es im Identitätssatz „A = A“ die Setzung des Prädikat-A vollzieht und dieses mit dem Satzsubjekt-A identifiziert; danach muss das Identifizierende, d.h. das Ich, im Akt der Identifikation von etwas, sich selbst als das Identifizierende wissen. Dies ist jedoch kontraintuitiv und kontrafaktisch: Das Ich weiß sich nicht jeweils selbst thematisch, wenn etwas mit sich selbst vom Ich identifiziert wird. Zwar ist ein durchgängig mit sich identisches Ich als Verbindendes zweier Gedankenelemente notwendig, soll die Verbindung einheitlich sein; aber es ist nicht notwendig, dass sich das Identisch-Verbindende selbst auch noch weiß; dies kann der Fall sein, es muss aber nicht so sein. Diese Ergänzung Fichtes zur Ausgabe von 1802 ist also nicht konsistent. Es ist nur notwendig, dass sich das Identifizierende irgendwann einmal auch mit sich selbst thematisch identifizieren kann.

Johann Gottlieb Fichtes 'Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794'

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