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d) Spinoza

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Spinoza überschreitet nach Fichte die Grenzen des transzendentalen Idealismus. Er hat ein dogmatisches System aufgestellt, in dem ein Ding das prinzipiell Erste ist. Dogmatisch ist dieses System, weil hier nicht das Ich das Prinzip ist, sondern es wird vorausgesetzt, dass es einen vom Ich unabhängigen Grund des Ich und seiner Vollzüge gebe, und dieser Grund ist das Absolute. Dieses wird monistisch als Eines verstanden und liegt gleichermaßen seinen unendlich vielen Zuständen zugrunde.57 Fichte deutet Spinoza dahin gehend, dass nach ihm das empirische Ich, also der Mensch mit der Reihe seiner wirklichen Vorstellungen, eine einzelne Vorstellung, d.h. ein einzelnes Element in der Gesamtreihe der Vorstellungen ist, die Gott immanent sind.58 Gott ist die alles umfassende Substanz, die damit auch die Vielzahl der wirklichen Subjekte und deren Vorstellungsreihen umfasst. Die wirkliche Subjektivität und deren gesamtes Bewusstseinsleben bilden nach Fichtes Spinoza-Deutung nur eine innere Modifikation, einen vorübergehenden, unselbständigen (augenblickshaften) Zustand der sie umfassenden Substanz.

Die vollständige Immanenz der empirisch-konkreten Subjekte in Gott ist eine notwendige pantheistische Konsequenz aus dem Substanzbegriff Spinozas. Nach ihm kann Substanz im strengen Sinne nur das sein, was völlig selbständig und unbedingt existiert. Substanz ist nach Spinoza dasjenige, dessen Essenz die Existenz unmittelbar miteinschließt; was ausschließlich bei Gott der Fall ist.59 Das wirkliche, von uns konkret erlebte Ich ist, laut Fichtes Spinoza-Deutung, nur ein Modus der absoluten Substanz. Das konkret gesetzte Ich ist unselbständig und somit eine vorübergehende, immanente Eigenschaft des Absoluten. Damit wird von Spinoza ein ichhaft selbstsetzender Grund im konkreten Ich bestritten und ein dem wirklichen Ich transzendenter Grund postuliert. Diese Transzendenz ergibt sich allerdings nur aus der Perspektive des endlichen Ich; aus der metaphysischen Perspektive des Absoluten ist es eine Gewissheit, dass das Ich eine Modifikation in dem Absoluten ist, ihm also immanent und gerade nicht transzendent ist. Gleichwohl kann nach Spinoza aus der Perspektive des Absoluten gesagt werden, dass es zwar der notwendige Grund des Einzelnen ist, ohne den das Einzelne nicht existieren würde, aber das Absolute ist nicht das Wesen des Einzeln-Endlichen. Dieses ist vielmehr kontingent, denn zu dem Wesen des Endlichen gehört nicht notwendig die Existenz. Das Absolute ist die umfassende Realität, die omnitudo realitatis, zu deren Wesen die Existenz immanent hinzugehört und das wirkliche Ich ist als dessen Modifikation ein vorübergehendes, kontingentes Epiphänomen.

Fichte wirft Spinoza vor, dass er das reine Ich, das sowohl vom Absoluten als auch vom konkreten Ich als eine selbständige Struktur zu unterscheiden ist, nicht gesehen hat. Nach Spinoza gibt es nur das Absolute und das konkret endliche Ich – die von Spinoza ebenfalls konzipierte ausgedehnte physikalische Welt vernachlässigt Fichte in diesem Kontext. Nach Fichtes eigener Konzeption partizipiert dagegen das konkrete Ich am absoluten Ich; nicht am Absoluten als einer Ding-Substanz. Diese Partizipation ist die freie Selbstsetzung des endlichen Ich. Im Unterschied dazu ist es nach Spinoza eine bloße Selbsttäuschung, wenn sich das endliche Ich als freie Selbstsetzung begreift; in eigentlicher und d.h. metaphysischer Perspektive gibt es nach Spinoza nur das Absolute; und alles, was sich von ihm unterscheidet, sind kontingente, sich selbst aufhebende Übergangserscheinungen ohne substantiellen Bestand und ohne die Freiheit der Selbstsetzung.

Nach Fichte kann die Vernunft gegen diese für sich gesehen konsequenten Behauptungen Spinozas nicht argumentieren, weil der Dogmatismus Annahmen macht, die nicht weiter von der Vernunft überprüfbar sind. Die Nichtüberprüfbarkeit dieser Behauptungen liegt daran, dass mit dem Absoluten als transzendentem Grund das Ich überhaupt und das empirischwirkliche Ich insbesondere überschritten werden; die Sphäre der ich- und vernunftbezogenen Argumentationsebene wird übergangen. Ein transzendenter Grund des Ich, der von ihm unabhängig und vorgegeben ist, kann vom Ich nicht mehr argumentativ eingeholt werden. Daher sagt Fichte über Spinoza: „So aufgestellt ist sein System völlig konsequent, und unwiderlegbar, weil er in einem Felde sich befindet, auf welches die Vernunft ihm nicht weiter folgen kann; aber es ist grundlos; denn was berechtigte ihn denn, über das im empirischen Bewusstsein gegebene reine Bewusstsein hinaus zu gehen?“ (20f./FW I, 101) Die Frage ist natürlich rein rhetorisch gemeint; nichts berechtigt dazu, eine dogmatische Transzendierung über das empirische Bewusstsein zu vollziehen. Das, was vom empirischen Bewusstsein nicht erlebt werden kann, ist gar kein Erlebnis, es ist gar nichts für uns. An diesem Zitat wird deutlich, dass Fichte das reine Bewusstsein an das empirische zurückbindet. Damit vermeidet er eine vom Faktischen losgelöste Schwärmerei: Auch die Bestimmungen des reinen Bewusstseins müssen sich in den Tatsachen des empirischen Bewusstseins bekunden und mit dem empirischen Bewusstsein gegeben und kompatibel sein.

Der scheinbar konsequente Dogmatismus ist daher trotzdem inkonsequent, denn er macht seinen transzendierenden Schritt über das Ich in unbegründeter Weise. Ein Grund des Ich, der prinzipiell nicht mehr ein im konkreten Bewusstsein Gegebenes werden und also von ihm generell nicht mehr erlebt werden kann, ist ein leerer Abgrund. Spinoza hat zwar mit einer richtigen Tendenz versucht, „die höchste Einheit in der menschlichen Erkenntnis“ (21/FW I, 101) anzustreben, doch beging er den Fehler, diese Einheit zu verdinglichen. Wie sich im Laufe der Wissenschaftslehre herausstellen wird, ist die höchste Einheit nicht transzendent als existierendes Ding zu fixieren, sondern die höchste Einheit (aller Ichhandlungen) bildet ein „Ideal“ (21/FW I, 101). Ein Ideal ist ein immanent im Ich gegebenes Ziel, das aktuell niemals vollständig erreichbar ist, nur die Regel, ihm nachzustreben, ist formal dem endlichen Ich gegeben und auch die Einsicht in die Notwendigkeit, sich diesem Ziel approximativ ins Unendliche anzunähern. Das Ideal ist etwas, „das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann“ (21/FW I, 101). Insofern bleibt der kritische Idealismus ichimmanent und damit nachvollziehbar und begründbar; der Dogmatismus ist aber ichtranszendent und aufgrund der Transzendenz unbegründet (vgl. 40/FW I, 120).

Die höchste Einheit des Ich, nach der die Wissenschaftslehre als Ideal strebt, ist aber nicht mit dem absoluten Ich am Anfang der Wissenschaftslehre zu verwechseln: Das eine Ich bildet die Arché, den einfachen Anfang, das andere jedoch ihr Telos, das komplex-erfüllte Ziel. Das erfüllte, gleichermaßen höchsteinheitliche und höchstvielfältige, anzustrebende Ich-Ideal ist nicht das absolute Ich vom Anfang der Wissenschaftslehre, weil dieses nach einer inhaltlich spezifizierten und vielfältigen Erfüllung strebt, das absolute Ich ist aber „nur“ reine, sich selbst setzende Form ohne die Vielfalt verschiedener Ichhandlungen; das absolute Ich des Anfangs hat seine Erfüllung nur in sich selbst, also in seiner Tätigkeit und ohne weitere spezifiziert vielfältige Inhalte.

Von daher zeigt sich noch ein weiterer Fehler bzw. eine weitere Inkonsequenz von Spinozas höchster Einheit: Sofern das Ich nach dieser Einheit zu streben hat, ist diese Einheit für das Ich ein praktisches Ziel, also ein Gesolltes, das theoretisch nicht als etwas Wirkliches vorzustellen ist. Spinoza übersieht den freiheitlich-gesollten Charakter der höchsten Einheitlichkeit.

Die Disjunktion, dass der Grund des Ich nur entweder ichimmanent oder ichtranszendent sein kann, ist nach Fichte vollständig, d. h., es kann keine dritte Position geben: Der Grund des Ich ist entweder im Ich oder jenseits desselben. Aufgrund der Vollständigkeit dieser Disjunktion zwischen Transzendenz und Immanenz kann es nur genau zwei philosophische Systeme geben, nämlich ichimmanenten Kritizismus bzw. Idealismus oder ichtranszendenten Dogmatismus. Der Dogmatismus führt, sofern er einen ichunabhängigen Grund hat und damit ein nichtichliches Prinzip annimmt, zu einem Realismus, also zu der Position, dass es ein vorhandenes Ding vorgängig zum Ich gibt, das dieses begründet und determiniert. Diese Argumentation hebt sich auf, denn es wird ein Grund postuliert, der prinzipiell vom Ich nicht eingesehen werden kann. Durch die Einsicht des Ich in den Grund wäre dieser ja nicht mehr dem Ich transzendent, sondern immanent; ein rein transzendenter Grund des Ich ist für Fichte ein Widerspruch in sich. Der Dogmatismus führt nach Fichte darüber hinaus notwendig zu einem Fatalismus, denn wenn es einen Grund des Ich gibt, der sowohl dessen Existenz als auch dessen Essenz erschafft und (zeitlich gesehen) in der Existenz erhält, dann ist ein solches Ich – wie es sich ja auch nach Spinozas Entwurf konsequenterweise verhält – vollständig determiniert, d.h., es kann für das endliche Ich keine Freiheit geben.

Johann Gottlieb Fichtes 'Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794'

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