Читать книгу Eringus - Freddoris magische Eiszeit - Rainer Seuring - Страница 10
Unwahr gesagt?
ОглавлениеDas Ausbleiben des gefürchteten Winters erregt allseits Erstaunen. Eigentlich kann man die paar Tage nicht einen Winter nennen. Auch wenn es zeitweilig ungemein kalt wurde. Da hat man schon ganz anderes erlebt. Der Frühling hat mit Macht Wochen vor der üblichen Zeit begonnen. Viele stellen sich die Frage: Was mach ich nun mit den reichlichen Vorräten?
Da gibt es vor allem einen, der ein sehr langes Gesicht macht; Laurentz, der Abt in St. Wolfgang. Immer wenn er an die Massen der eingelagerten Ernteerträge denkt, so wie jetzt, wird ihm speiübel. Nicht nur, dass er viel dafür bezahlen musste, die freien Bauern und Grafen hatten ihn ganz gewaltig geschröpft oder haben garnichts verkauft, weil sie durch die Zwerge von der Weissagung wussten. Jetzt droht auch noch bei dieser Wärme alles zu verrotten. Den Brüdern gelingt es nur noch unter größter Anstrengung, die Nahrungsmittel zu erhalten. Wie lange würde man den Erhalt noch leisten können? Anstelle der Messen sind schon Gebetsgesänge getreten, damit die Brüder ihre Arbeit im Lager nicht unterbrechen müssen. Wann würde er den Auftrag erteilen müssen, alles zu verwerten, um wenigstens einen Teil davon noch länger lagern und verwenden zu können? Wie zum Hohn lacht ihm durch das Fenster, an dem er steht, die Sonne ins Gesicht.
Verflixte Prophezeiung in ebensolcher verflixten und verbotenen Schrift. Irgendwann kann er seinen Fehler nicht mehr verheimlichen und der Bischof wird Rechenschaft von ihm verlangen. Gut, er könnte, nein, er würde Bruder Urban die Schuld geben, weil er ihn falsch beraten hat. Die Verantwortung aber würde er ihm nicht auflasten können. Die trägt er, Abt Laurentz, allein. Wie lange würde er dann noch Abt sein? Wahrscheinlich keinen Tag mehr. Die verbotene Schrift ist schon Grund genug, das Kloster auf der Stelle zu schließen.
Langsam wendet er der verbrecherischen Sonne den Rücken und sich dem Bruder Urban zu, der schon eine ganze Weile still und geduldig hinter ihm steht und wartet.
Der Abt mustert die verschmutzte Kutte des Bruders, der direkt aus dem Getreidelager gekommen ist. Früher war er noch wütend gewesen und hat Urban mit den schlimmsten Strafen gedroht, was dieser demütig hat über sich ergehen lassen. Nun ist nur noch Resignation das dominierende Gefühl.
„Wie sieht es aus, Bruder Urban? Was könnt ihr mir berichten?“
„Es tut mir wirklich aufrichtig leid, Bruder Abt. Leider nur das gleiche wie gestern. Wir haben die Fenster des Tags mit dicken Tüchern verhängt, um die Sonnenwärme nicht herein zu lassen und nehmen sie für die Kühle der Nacht wieder weg. In längstens drei Wochen muss das Korn gemahlen und Gemüse und Obst verwertet werden.“
„Wo war der Fehler? Warum war die klare Prophezeiung doch miss zu verstehen?“
„Ich weiß es nicht, Bruder Abt. Ich weiß es sogar zweimal nicht, denn die Zwerge hatten ja eine übereinstimmende Vorhersage.“
„Das ist es ja, weswegen ich bereit war, der Prophezeiung zu glauben. Habt ihr schon Nachricht von den Zwergen? Sicherlich haben die nicht so schwerwiegende Probleme in ihrem kühlen Berg wie wir.“
„Bis jetzt nicht, Bruder Abt. Doch ich erwarte Wilbalt Eisenbieger heute Abend. Ich hoffe, er wird nochmals sein Buch mitbringen, dass wir darin Nachforschungen anstellen können. Unsere Schrift habt ihr in Verwahrung. Vielleicht, dass ich darin etwas fände?“, versucht Urban sein Glück.
Laurentz sieht nachdenklich den Bruder an, wendet sich dann tatsächlich um und gibt, wenn auch widerwillig, die Schriftrolle aus einer Truhe heraus.
„Geht dort an das Pult und studiert die Schrift. Die Rolle wird diesen Raum nur noch als Asche verlassen. Gebt euch Mühe. Ich brauche eine Lösung. Dringend!“
* * * * *
Abt Laurentz hat recht. Bei den Zwergen ist das Problem, trotz deutlich größerer Menge, bei weitem nicht so dramatisch. Durch die Kanäle in der Festung ist alles gut gelüftet und ständig kühl und dunkel gelagert. Doch trotz dieser hervorragend zu nennenden Umstände ist auch hier ein Ende der vertretbaren Lagerzeit langsam in Sicht. Verständlicher Weise ist das aber im Moment nicht König Sigurds Hauptproblem. Vor Kurzem ist sein Sohn gekommen und hat die schlimme Nachricht vom Verschwinden der Schwester überbracht. Schon seit Tagen haben sie in Kleyberch gesucht und gerufen, geklopft und gehorcht. Nicht bei Tag und nicht bei Nacht haben die Verbliebenen geruht. Vergebens. Weder Carissima noch Anschild ist auffindbar. Sie sind spurlos verschwunden. Den Kleyberch verlassen haben sie nicht. Das ist sicher, denn das Tor war immer noch von innen verschlossen vorgefunden worden.
„Verfluchtes Kleyberch. Erst gibt es uns die Zwerge zurück, dann das alte Wissen. Und nun nimmt es mir mein Kind. Was ist mit dieser Festung los? Welches Geheimnis birgt sie noch?“
„Ich habe keine Ahnung, Vater.“, antwortet Gernhelm. „Der Berg sieht ganz normal aus. Nichts an ihm ist besonders. Er streckt seine Hände offen vor als wolle er sagen, da gibt es nichts. Dazu schüttelt er seinen Kopf. Die vorderen Haarsträhnen sind rund um den Schädel nach hinten gezogen und verbinden sich dann mit dem Zopf, der zwischen den Schultern endet. Der fast schwarze Bart reicht bis zur Brust.
„Natürlich nicht von außen.“, schimpft der König. „Das Besondere ist in ihm. Verstehst du? Innen drin. Das war schon von Anfang an klar. Wieso können 144 Zwerge in einem Berg über 800 Jahre schlafen und bekommen einen gedeckten Tisch zum Frühstück geliefert.“
„145, Vater.“
„Was?“
„Es waren 145 Zwerge mit Anschild.“
„Ach ja, klar. Und der ist doch auch gleich der nächste Wunderpunkt. Wo kommt der Kerl her? Wer ist er und was ist er? Keiner kennt ihn. Auf einmal wird er einem Krieger in die Hand gedrückt und dann geht alles schlafen. Gute Nacht, Verstand. Ich komm da nicht mehr mit.“
Darauf hat der Sohn nichts zu erwidern.
Wie ein gereiztes Tier dreht Sigurd im Thronsaal seine Kreise, stets um Gernhelm herum. Dieser hat schon aufgegeben, sich ständig mit zu drehen.
„Was denkst du, mein Junge. Was sollen wir tun? Schick ich Zwerge hin, den Berg auseinander zu nehmen?“
„Ich denke nicht. Ich glaube, und das ist das richtige Wort, ich glaube wir müssen uns in Geduld üben.“
„Das ist doch nicht dein Ernst.“
„Warte bitte, Vater. All das, was du eben so beklagt hast, haben wir von Anfang an als Gabbros Wunder gepriesen. Dankgottesdienste haben wir gefeiert. Warum soll das nun nicht der Wille Gabbros sein? Ich kann nicht sagen, was das für uns zu bedeuten hat; was dort gerade geschieht. Aber ich bin sicher, die beiden leben. Am Ende schlafen sie, wie zuvor alle anderen auch.“
„Ach was. Und in 800 Jahren kommen sie dann wieder raus und gründen ein neues Zwergengeschlecht. Pah, du redest Blödsinn.“
Gernhelm öffnet den Mund, um weitere Alternativen darzulegen. Doch er kommt nicht dazu. Hinter sich hört er, wie die Tür geöffnet wird.
„Wie hätte Melisande gesagt: Du redest Blödsinn, Sigurd.“
Hemma, Königin der Zwerge ist ebenfalls im Thronsaal erschienen. Ihr Mann beschreibt sie gern als an den rechten Stellen herrlich gerundet. Tatsächlich ist eigentlich alles an ihr rund und voluminös. Rundes Gesicht mit Pausbacken und einem niedlichen Grübchen im Kinn. Die vollen braunen Haare mit dem Hauch eines rötlichen Tones sind in runder Frisur, die nur wenig über die Ohren reichen. Der Pony ist passend abgerundet. Auch sie hat inzwischen von dem Verschwinden ihrer Tochter gehört. Erstaunlich gefasst hat sie die Nachricht aufgenommen.
„Ich hatte, wie soll ich sagen, so eine Ahnung.“, meint sie mit ihrer leisen Stimme.
„Oha, meine Frau hat Ahnung.“, bemerkt König Sigurd zynisch.
„Nun reiß dich aber mal am Riemen, Mann.“ Hemma ist böse und wird lauter. „Unser Sohn argumentiert vernünftig, doch dir ist die Vernunft abhanden gekommen.“
„Was ist daran vernünftig, alles Gabbro anzuhängen?“
„Was ist daran vernünftig, dieses spurlose Verschwinden logisch erklären zu wollen? Wenn alles verschlossen war, als die Gruppe dort erwachte und keine Wand eine sichtbare Veränderung aufweist, wie festgestellt wurde, wie willst du das logisch erklären? Das kriegt nicht einmal Eringus hin. Oder hast du eine rechte Lösung?“
Noch immer kreist Sigurd im Thronsaal, vor Erregung fast berstend. Aber er kann nichts darauf erwidern und das macht ihn noch angespannter. Er hält es nicht mehr aus.
„Irgendwas muss man aber doch machen. Irgendwas. Was sagt deine Ahnung, Weib?“
„Nichts!“, lautet die ernüchternde Antwort. „Was soll eine Ahnung, ein Gefühl auch schon sagen. Aber ich habe auch das Gefühl, dass alles gut wird und ich mich nicht aufregen muss. Ich weiß nicht, warum.“ Hemma versucht, mit ruhiger Sprache ihren überdrehten Mann wieder zu beruhigen.
Der König ist stehen geblieben. Die Ruhe seiner Frau ist entwaffnend. „Das kann ich nicht, Hemma, das kann ich nicht. Schenk mir dieses Gefühl, dem du so vertraust.“, bittet er verzweifelt
„Versuch es mit einem Gebet. Oder geh zu Eringus und frag nach seiner Meinung.“
* * * * *
„Ich finde nichts. Ich finde einfach nichts.“, murmelt er vor sich hin.
Bruder Urban ist ernsthaft geneigt, die verbotene Schrift in die Ecke zu werfen. Trotz intensivster Bemühungen ist es ihm nicht gelungen, genaueres über die Prophezeiung zu finden. Die Texte davor und danach beziehen sich auf andere Aussagen. Die ganze Rolle hat er gelesen und gelesen, überdacht und gelesen. Nichts. Kurzzeitig war er geneigt, einen späteren Text als mögliche Erklärung zu deuten. >Erst wenn eines zu Ende kommt, wird das Neue beginnen.<, hieß es da. Doch das konnte sich durchaus auch auf eine Stelle dazwischen beziehen. Es war nicht unlogisch. Andererseits, wenn man so wollte, konnte es auch bedeuten dass der Winter zurückkommen würde.
Diese Überlegung hat er aber dann doch wieder verworfen. Selbst wenn er den Abt von seiner Auslegung überzeugen könnte, wäre dies nur ein Aufschub des Problems. Und was, wäre die Vermutung falsch? Andererseits hätte die Wahrheit dieser Aussage dann eine fürchterliche Wirkung. Saatgut - erfroren, Obstblüte – erfroren. Keine Vegetation, kein Gott weiß was noch alles. Oh Gott, warum musste er diese Prophezeiung entdecken?
„Ich finde nichts, Bruder Abt. Es ist nur diese kurze Zeile vorhanden. Kurz vor dem Ende der Schrift steht noch diese Zeile hier. Wenn ihr mal schauen wollt?“
Fast schon hoffnungsfroh tritt Laurentz mit etwas beschleunigtem Schritt an das Pult und besieht sich den kurzen Text. Enttäuscht meint er dann: „Solch ein allgemeiner Schwachsinn sagt doch nichts aus. Das kann hierhin passen oder hierhin.“ Dabei deutet er auf verschiedene Stellen in der Rolle.
„Oder es passt überall hin.“, wagt Urban den Einwand.
„Selbstverständlich passt das überall. Deswegen kann man nicht sagen, dass es auch für unseren Text gilt.“ Das auch hat er besonders betont.
„So bleibt nur die Hoffnung, dass den Zwergen größere Weisheit geschenkt wurde.“
* * * * *
Fast überfallartig empfängt Urban den Zwerg Wilbalt.
„Hast du etwas gefunden? Steht bei euch Näheres über den Beginn?“
„Aber rein kommen darf ich doch noch oder?“, versucht der Zwerg zu scherzen.
„Entschuldige. Ja, natürlich. Doch versteh meine Lage. Bruder Abt drängt auf Klärung. Das Erntegut droht zu verrotten. Entweder es wird jetzt bald wieder Winter oder …“ Den Rest der Möglichkeit lässt Urban unerwähnt.
„Beruhige dich, mein Lieber. Wenn es gar zu schlimm wird, flüchtest du zu uns Zwergen.“
„Da wird mich der Abt doch zu allererst suchen.“, jammert der Mönch.
„Ganz bestimmt sogar. Doch wird er dich nicht bekommen. So einfach ist das. Natürlich haben wir keinen Fehler gemacht, wir haben immer darauf hingewiesen, dass es so passieren könnte, wenn man der Schrift Glauben schenken will. König Sigurd hat zugestimmt und wird mir nun deswegen nicht den Kopf abreißen. Andererseits ist meine Weissagung von dem großen Gilbret Steinschleifer. All seine Prophezeiungen sind getreulich eingetroffen. Ich glaube nicht, dass wir falsch liegen.“
„Du Glücklicher.“
„Das wird schon. Doch nun zu deiner Frage, mit der du mich empfangen hast. Die Antwort lautet: Ja und Nein.“
Merkwürdig bekannt kommt Urban dies vor. Fragend blickt er den Zwergen an.
„Nein, weil zu dieser Weissagung keine weitere Aussage getroffen ist. Sie steht ohne Weiteres da. Das Ja aber bedeutet, dass ich eine zweite Vorhersage gefunden habe. Sie muss nicht unbedingt zu dem von uns erwarteten kalten Winter gehören, wäre aber möglich.“
„Was besagt sie?“, will Urban gespannt wissen.
„Sie stammt aus dem Buch der ungelösten Sprüche. Sie lautet:
Das Kind schläft lang und kurz danach
wird der Großkönig im langen Winter wach“
Voller Spannung sieht Wilbalt Urban an.
„Na, was sagst du?“
„Nichts.“ Der Mönch kann den Gedankengängen seines Gegenübers nicht folgen.
„Also für mich bedeutet das viel. So viel, dass ich es meinem König nur ganz vorsichtig sagen kann.“
„Wieso?“
„Verstehst du nicht? Wenn der lange Winter da ist, kommt ein neuer Großkönig und König Sigurd ist entmachtet. Welchem König behagt das schon? Hinzu kommt, dass ich glaube, den neuen Großkönig zu kennen.“
„Das ist wahrlich schlimm, für den König und auch für dich. Und was hat das mit dem Winter jetzt zu tun?“
„Wenn der Winter nochmal zurück kommt haben wir doch einen langen Winter, oder?“
„Ja, wenn.“, konstatiert Urban enttäuscht.
Das war wohl nichts.