Читать книгу Eringus - Freddoris magische Eiszeit - Rainer Seuring - Страница 12

Schlimmer geht immer

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Am Morgen, als Beata und Guda den mütterlichen Hof verlassen, ist auch König Sigurd zu einem Entschluss gekommen. Aus Kleyberch sind bisher noch keine neuen, geschweige denn guten Nachrichten eingetroffen.

„Nichts Schlimmes ist schon mal was Gutes.“, versucht Hemma ihren Mann zu beruhigen.

„Wie kannst du nur so gelassen bleiben?“ Zwar rennt Sigurd nicht mehr ständig im Kreise herum, aber er hat offensichtlich immer noch keine Ruhe im Hintern.

„Gottvertrauen, mein Lieber. Reines unschuldiges Gottvertrauen. Gabbro wird alles zum Guten wenden. Du wirst sehen.“

„Und wie kriege ich solch Gottvertrauen? Es geht um unsere Tochter.“, lamentiert ihr Gatte.

„Bete. Das gibt Ruhe und Sicherheit.“

Zweifelnd blickt der König sein Weib an und schüttelt dann den Kopf.

„Du weißt, ich glaube an Gabbro und ich bete auch immer. Doch wie kann ich Vertrauen finden, wenn ich ihn, unseren Gott, als Urheber der Not ansehe?“ Unter weiter fortgesetztem Schütteln ergänzt er: „Nein, Hemma, das kann ich nicht.“

„Dann geh doch zu Eringus. Das habe ich dir auch schon ein paar Mal geraten. Vielleicht findest du bei dem Drachen Rat und Hilfe.“

„Ja, du hast recht. Das werde ich tun. Mal sehen was einer, der nicht an Götter glaubt, zu diesem Problem zu sagen hat. Ich denke, heute Abend werde ich wieder zu Hause sein.“

Mit einem Kuss für sein Weib verabschiedet er sich und verlässt den Berg durch den königlichen Garten.

* * * * *

Eringus liegt nicht vor seiner Höhle in Lindenau, seinem absoluten Lieblingsplatz im ganzen Tal. Gerbera Liebstöckel, die amtierende Dorfmeisterin, hat unbedingt darauf bestanden, auch die Drachenhöhle mit einem Frühjahrsputz zu bedenken. Selbst heftigster Protest durch den Drachen verhallte ignorant ungehört. Ein ganzer Trupp von Halblingen hat ihn im wahrsten Sinne des Wortes vor die Tür gefegt. Ihm blieb nur die Flucht auf eine tiefer und näher an der Chynz gelegene Lichtung. Hier hat er es sich gemütlich gemacht. Er döst zufrieden mit geschlossenen Augen in der Sonne und trotzt dem Geschwätz von Jade.

„Hast du das auch mitbekommen?“, will Jade wissen.

„Und was?“ Eringus ist immer gelangweilt, wenn er solch, für sein Verständnis, dumme Fragen gestellt bekommt. Wie soll er sagen können, ob er was mitbekommen hat, wenn er nicht weiß, was er mitbekommen haben soll, weil nicht gesagt wird, was er hätte mitbekommen müssen.

„Ja diese Fliegenwanderung. Die haben mich ja fast umgeflogen, heute Morgen.“ Die Traumfee ist entrüstet.

„Ach was.“

„Ja, doch. Und kaum waren die Fliegen durch, sind die Vögel hinterdrein. Mit Müh und Not hab ich mich hinter einen Baum in Deckung bringen können.“

„Ist doch klar, wo die Fliegen hin fliegen, fliegen auch die Fliegenfresser hin.“ Wie kann man sich nur über solche Banalitäten Gedanken machen. Ist doch alles klar, logisch und natürlich. War schon immer so gewesen.

„Das weiß ich auch. Ich wollte damit nur andeuten, dass seit gestern der Luftdruck deutlich runter gegangen ist. Ich spür das. Du nicht?“ Jade fühlt sich missverstanden.

„Jeder spürt das, der fliegen kann. Ist ja lebenswichtig. Am Ende fällst du beim Fliegen runter.“ Eringus will mit diesem Hinweis das unnötige Gespräch beenden. Ohne Glück.

„Ha, Ha. Veralbern kann ich mich selbst.“

„Das macht aber sicher nicht so viel Spaß.“

Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass diese Unterhaltung rein gedanklich abläuft? Drachen können ja nicht mit dem Mund reden und Traumfeen hört man nicht so recht.

Jade überhört diese Bemerkung und fährt fort: „Das ist aber doch sehr ungewöhnlich. Ich hab den Eindruck, die Mauersegler, die jetzt gerade kommen, drehen einfach wieder ab, als wollten sie nicht hier bleiben. Da stimmt doch was nicht.“

Eringus gähnt und antwortet nicht.

„Hey, ich rede mit dir.“ Jade wird zornig. Sie sieht da ein Problem und dieser einfältige faule Drache will nicht mit ihr darüber reden. Sie fliegt ihm auf die Nase und trampelt wütend mit den kleinen Füßchen auf. Wie alle Traumfeen ist ihr ganzer Körper dicht kurz behaart, was sie vor großer Hitze und Kälte schützt. Lediglich das Gesicht, die Innenseiten der Hände und die Fußsohlen sind unbehaart und offenbaren eine Haut in zartrosa. Die tiefschwarzen Augen blitzen im Moment wütend. Ihre Arme hat sie vor der Brust verschränkt. Da Traumfeen ihren Nachwuchs nicht säugen, ist diese einfach nur flach. Sie steht aufrecht. Im Gegensatz zu den braunen Haaren des Oberkörpers ist, nach einer sehr dünnen Taille, der langgestreckte Hinterleib in jadegrün leuchtend. Praktisch, denn auf diese Weise kennt man sofort den Namen einer Traumfee. Der Unterleib ist deutlich länger als die Beine und dient Jade beim Stehen als zusätzliche Stütze, denn er ist beweglich und kann nach vorne oder nach hinten gebogen werden. Die kleine Traumfee, die man mit bloßem Auge fast gar nicht sehen kann, bewirkt mit ihrem zur Schau getragenen Zorn bei dem Drachen natürlich überhaupt nichts. Ungerührt bleibt Eringus liegen.

„Ich weiß, dass die Fliegen sich nach dem Luftdruck richten und die Fliegenfresser folgen und alles. Ist klar, Dicker.“, beginnt Jade erneut. „Aber der Luftdruckabsturz ist doch merkwürdig. Für diese Jahreszeit und in diesem Ausmaße! Das ist doch auffällig. Hast du nicht selbst gesagt, da käme was auf uns zu?“

Jetzt endlich kommt Bewegung in den Drachen; ein wenig zumindest. Er öffnet das linke Auge.

„Du meinst, das hinge damit zusammen?“

„Warum nicht? Denkbar wäre es. Wann hast du das letzte Mal nach dieser merkwürdigen Wetterfront gesehen?“

„Ähem. Schon ein wenig her.“ In Wahrheit hat Eringus die Angelegenheit vergessen. Es hat so lange gedauert, bis er Bewegung in der schwarzen Wolke sehen konnte, dass er ihr keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt hat. „Ich sollte mir das wohl mal wieder ansehen. Ob sie schon näher gekommen ist, die Wolke.“, gibt er zu.

„Dann mach mal.“, verlangt Jade.

„Wir sind fertig.“, vermeldet in diesem Moment Gerbera den Abschluss der Reinigungsarbeiten. Sie nähert sich vom Dorf her den Beiden in üblich wippendem Schritt. Ihre dunkelbraunen leicht strähnigen Haare hat sie mit einem Kopftuch zusammengefasst. Ihren schlanken Körper hat sie mit einer hellgrünen Bluse und einer dunkelgrünen Pluderhose verhüllt. Ihre braunen Augen strahlen voller Stolz ob der geleisteten Arbeit aus dem ovalen Gesicht.

Von der anderen Seite her, also aus Richtung Chynz, erscheint Sigurd auf der Lichtung.

„Meine Tochter ist verschwunden, Eringus. Kannst du mir helfen?“

Und von links betreten Beata und Guda, die sich so dicht als möglich hinter ihrer Freundin versteckt, die Wiese.

„Magda wurde ermordet, Eringus. Ich brauche deinen Rat.“

Mit jedem neu Eintreffenden wandern die Köpfe der bereits Anwesenden hin und her. Zuletzt also sind alle Blicke bei Beata. Diese sieht aber nicht den Drachen an, den sie eben noch ansprach, sondern blickt über ihn und hinter Gerbera hinweg auf den Waldessaum. Sie hebt den Arm, zeigt in ihre Blickrichtung und ruft: „Was ist das denn?“

Prompt wenden sich alle Köpfe zum Waldrand hin und die noch unausgesprochenen Beileidsbekundungen wegen Magdas Ableben sind schneller wieder vergessen, als sie in den Kopf gekommen sein mögen. Dort aus dem Wald heraus kriecht, immer zunehmender, Nebel zwischen den Bäumen hervor; begleitet von deutlich kühlerer Luft. Als würde Milchsuppe im Kessel überkochen, so schieben sich die dicken Schwaden unaufhaltsam auf die kleine Gruppe zu. Langsam, aber trotzdem schneller als üblich, sind schon bald alle derart in Nebel gehüllt, dass kaum noch die Hand vor Augen zu sehen ist. Guda hat Beatas Hand ergriffen und hält sie ganz fest. Die Luft trägt so viel Feuchtigkeit in sich, dass binnen Kurzem alle so nass wie ein Hund sind, der eben aus der Chynzych kommt. Die Haare triefen, das Gewand kann man auswringen.

Aus diesem Nebel dringt gemeines Gelächter an die Ohren aller. Durch den extremen Absturz des Luftdrucks und der Temperatur folgt zwangsläufig ein gewaltiges Unwetter mit Blitz und Donner und Hagel. Es prasselt auf die Köpfe, doch keiner ist in der Lage, Schutz zu suchen. Förmlich erstarrt bleibt jeder auf seinem Platz stehen. Der gleich darauf hinzu tretende Sturm fegt den Nebel vor sich her und für alle ersichtlich steht ein menschgleiches Wesen mit langem schwarzem Mantel und einer Gugel auf dem Kopf, die überhaupt keinen Blick darunter erlaubt, mitten unter ihnen. Urplötzlich ist das Unwetter vorbei.

„Ja, was haben wir denn hier für eine Versammlung? Ei, wie fein!“ An der Richtung des Tones ist erkennbar, dass das gemeine Gelächter von diesem Wesen gekommen sein muss. Er ist etwa eine Handbreit größer als ein normaler Mensch. Mehr ist zu der Gestalt nicht zu sagen. Gugel und Mantel verdecken alles. Die Ärmel sind so lange, dass sogar die Hände bedeckt sind. Der Mantel schleift fast auf dem Boden, trotzdem sind darunter keine Füße zu sehen.

„Ich bin entzückt euch alle auf einmal hier vorzufinden. Da macht die schlechte Nachricht ja auch gleich die Runde. Das spart Zeit und erhöht mein Vergnügen.“

Der Tonfall ist deutlich übertrieben freundlich, dann zynisch.

„Na, Sigurd, kleiner König der letzten Zwerge, kennt man mich noch in eurem kümmerlichen Rest von einem Reich? Glaubtet ihr, euer Gott könne uns tatsächlich für immer aus der Welt schaffen? Wer nicht Reue zeigt, wird auf ewig ein Alb bleiben und ich bereue gar nichts.“

Eringus, der sich eiligst erhoben hat, macht Anstalten, sich auf den Alb zu stürzen.

„Na, wirst du dich wohl benehmen?“, ruft es unter der Gugel hervor. Schnell vollführen die Arme kreisende Bewegung und der Drache wird von einem Wirbelwind umschlossen, dessen Ausläufer die Anwesenden zu Boden schleudern; ausgenommen den Alb und Eringus. Dabei ertönt der dröhnende Ruf:

„Drachenklammer hält den Bann,

klare Mauer hart umschließt,

bis des Drachen Kinde irgendwann

Trauertränen hier vergießt.“

Fast gleichzeitig bricht ein Feuerstoß aus des Drachen Maul hervor, der aber schon nach kaum drei Schritt an einer unsichtbaren Wand abgleitet und Eringus selbst in Flammen hüllt. Äußerst schmerzhaft. Rasend vor Wut und Schmerz brüllend, versucht er die Wand mit dem Kopf zu durchbrechen, doch gleitet er ständig wieder ab und dreht sich schon bald in einem sehr engen Kreis. Das gemeine Gelächter begleitet sein Mühen und reizt ihn nur noch mehr. Eringus hat aber schnell erkannt, dass er im Moment nicht fähig ist, dieses Gefängnis zu verlassen. Zuletzt wendet er sich dem Alb wieder zu. Gefährlich drohend blickt er die schwarze Gestalt an. Seine Augen haben sich zu dünnen Schlitzen verengt. Er lässt sich nieder, doch jeder Muskel ist deutlich sichtbar angespannt. Aus seinen Nüstern quillt dichter Rauch. Der Kragen um seinen Hals ist aufgestellt.

„Braves Haustierchen, sehr brav.“, lobt der Alb in ironisch liebenswürdigem Ton.

Erneut springt Eringus auf, doch die Sinnlosigkeit erkennend legt er sich widerstrebend wieder hin. Das Brummen, das von ihm ausgeht, verheißt nichts Gutes. Er ist kein Tier und schon gar kein Haustierchen.

„Na, Sigurdchen, dämmert es? Auch wenn du damals nicht dabei warst, solltest du doch aus euren Analen den Alb Freddori kennen. Du würdest mich enttäuschen, wäre dem nicht so.“

Nun will der König seinerseits versuchen, den Alb anzugreifen und greift zu seiner Waffe. Jener streckt nur den Arm aus und irgendetwas drückt den Zwergen wieder nieder. Die Hand ist am Schwertgriff fest gepresst, dass die Knöchel weiß hervortreten. Er kann die Finger nicht lösen.

„Ach, ist das fein. Ohne euren Gabbro seid ihr Zwerge doch auch nur Kümmerlinge wie die Halblinge. Keiner von euch hier kann mir etwas anhaben. KEINER!“ Das letzte Wort hat der Alb geschrien. Dabei erreicht er eine derartige Lautstärke und Tonhöhe, dass allen die Ohren schmerzen. Es klingt wahnsinnig.

„Seit der Schlacht damals habe ich viel dazu gelernt. Der Plan mit den Riesen war gut, doch nicht zu Ende gedacht. Kein Wesen, und sei es noch so groß, kann uns helfen. Wir selbst nur können Herren dieser Welt werden und die Seelen befreien, die die Götter in euren Körpern gefangen halten. Ach, ich vergas. Die Drachen sind ja gottlose Geschöpfe. Keiner von den Schöpfern der Erde wollte euch haben, als die Natur euch gebar. Mächtig seid ihr, wohl war. Doch selbst die Drachen haben ihre Gelegenheit verschlafen. Inzwischen reicht auch die Macht von euch allen nicht, mich allein zu besiegen. Wer sich feindselig mir nähert, wird von mir bemerkt, bevor er auch nur auf Pfeilschussnähe heran kommt. Selbst aus der Luft merke ich jeden Feind bis in Adlers Höhe. Ihr sucht einen Plan, mich zu besiegen? Vergesst es.“ Erneut lacht der Alb.

Er hat den Arm wieder sinken lassen und Sigurd kann endlich die Hand vom Schwert nehmen. Vor Schmerzen schüttelt er sie, bleibt aber liegen. Nicht noch einmal dem immensen Druck aussetzen.

„Ihr lernt schnell, Sigurd. Das ist gut so. Hoffentlich lernt ihr auch, mit dem Tode umzugehen. Er wird euch Zwerge langsam ereilen. Ich werde meine Rache für damals genießen. Nichts formt eine Seele so schön, wie die Trauer und der Schmerz um die Lieben, deren Elend und Tod man miterleben muss.

Wisst ihr, König, der Krieg damals, das war nicht nach meinem Geschmack. Es ging alles viel zu schnell. Kein genussvolles Seelen befreien. Hieb, Stich, Tod und fertig. Nein, nein, Alamon hat das so gewollt. Wie dumm von ihm. Keine Ahnung wo er steckt. Wahrscheinlich hat sich noch kein neuer Körper für ihn gefunden. Der Ärmste.“ Der Tonfall des Alben wechselt beständig zwischen gespieltem Mitleid, Hohn, Gehässigkeit und schwärmerischer Gemeinheit hin und her.

„Jetzt werde ich mir erst einmal eine hübsche Bleibe herrichten. Ich kann unmöglich den Ort meines Triumpfes vor dem Finale verlassen. Bis zum letzten Moment werde ich es auskosten, solange auch nur noch ein Zwerg lebt. Ach ja, bevor ich es vergesse. Ab morgen weht hier ein anderer Wind. Ich mag es gern behaglich und bin aus dem Norden ein anderes Klima gewohnt. Ein wenig frischer, wie ihr schon bald verstehen werdet.“

Er wendet sich schon zum Gehen, als ihm noch etwas einfällt.

„Ja sagt doch mal, sollte hier nicht auch noch eine kleine Traumfee herumschwirren? Ja wo ist denn die Kleine? Ach, sieh an, da bist du ja, du Hauch eines Träumchens. Hab ich dich aus Versehen mit dem Drachen eingesperrt? Hast dich wohl in der Nase des Drachen versteckt, wo es so schön warm ist. Sichere dir den Platz, du wirst ihn brauchen.“

Anscheinend schwebend verlässt er die Wiese und taucht im dichten dunklen Wald unter. Sein Gelächter ist noch zu hören, als er schon längst den Blicken entschwunden ist.

Die Stille, die sich nach des Alben Auftritt breit macht, ist belastend. Doch keiner ist in der Lage, etwas zu sagen. Noch völlig benommen sitzen oder liegen alle im Gras. Nur Eringus nicht. Der prüft sein Gefängnis, das ihm nur sehr wenig Platz lässt.

„Jetzt sieh dir das einmal an.“, schimpft er und meint damit Jade. Er reckt den Hals nach vorn und drückt sich die Nase an einer klaren durchsichtigen Mauer platt. „Und guck mal hinten.“, nuschelt er dabei und presst seinen Schwanz an eben selbiger Wand krumm. „Vorne drei Schritt, hinten drei Schritt, mehr hat der Verbrecher mir nicht gelassen. Und das kreisrund. Ich kann mich drehen und wenden wie ich will. Die Flügel kann ich auch nicht ausbreiten. Versuch doch mal, ob du oben heraus kommst. Verletz dich aber nicht an der Wand. Wer weiß, ob die überall so glatt ist, wie hier unten. Vielleicht hat der Alb unsichtbare Spitzen oder Kanten eingebaut, die du nicht siehst.“

Augenblicklich schwirrt Jade nach oben. „Autsch. Verdammt. Das war mein Kopf. Moment mal. Ich will mal tasten. Guck mir genau zu. Ich fliege jetzt an der Wand entlang nach oben.“

Die Außenstehenden oder besser, die Außensitzenden können Jade nicht verfolgen, wohl aber der feinsichtige Drache. Er beobachtet, wie Jade sich immer mehr der Mitte des Kreises nähert, während sie immer höher steigt. Etwa auf Wipfelhöhe endlich geht es unbehindert aufwärts.

„Hier komm ich raus.“, jubelt sie und beschleunigt ihren Flug. „Aua. Da ist schon wieder eine Mauer.“ Nachdem sich die Mauer kuppelförmig immer mehr nach oben verjüngt hat, strebt sie über den Bäumen in gleichem Maße wieder auseinander, wie Jades Testflug zeigt.

„Ich kann nicht mehr, Eringus! Höher kann ich nicht!“, ruft sie nach unten. Dann schreit sie: „Ich bin gefangen. Hilfe, ich will hier raus!“

„Komm wieder runter, Jade. Das bringt so nichts. Wir sitzen beide fest. Ich muss jetzt erst einmal überlegen. Ich kann nicht fliegen und außerdem ist der Durchlass für mich zu eng. Du kannst zwar fliegen und kommst durch, aber das Gefängnis ist viel zu hoch.“ Eringus hat sich wieder nieder gelassen.

„So sieht also ein friedlicher Drache aus.“, flüstert Guda zu Beata, die zuerst wieder Worte findet.

„Ja, so sieht ein friedlicher Drache aus.“ Nicht Beata, sondern Eringus gibt die Antwort. „Du musst Guda sein, Beatas Freundin. Ich freue mich, dich kennen zu lernen. Schade nur, dass die Umstände für uns alle mehr als beschissen sind. Verzeih das klare Wort. Tritt näher, auch wenn du Angst vor mir hast. Wie du siehst“, dabei gibt er einen klitzekleinen Feuerstoß in die Höhe ab, „es kann dir nichts passieren. Erst recht nicht, weil ich dir nichts tun will.“

Mit ausgestreckten Armen geht Guda auf den Drachen zu, bis sie den Widerstand der Wand spürt.

„Du siehst nett aus, Guda. Ich denke, ich werde mich gut mit dir vertragen können. Schade, dass ich nicht deinen Geruch aufnehmen kann. Diese vermaledeite Wand ist auch geruchsdicht. Da geht nichts rein und auch nichts raus.

Hey, ihr da draußen. Würdet ihr vielleicht mal ein wenig näher kommen? Wir müssen Rat halten.“

Langsam lösen sich alle aus ihrer Starre und treten an Eringus Gefängnis heran.

„Bitte versammelt euch vor mir. Ich kann zwar trotz Bewegungseinschränkung meinen Kopf bewegen, doch mag ich nicht immer meine Nase an der Wand abputzen. Das sieht mit der Zeit sicher nicht gut aus.“

Als alle vor ihm stehen fährt er fort: „Zur Lösung meines Problems werde ich etwas länger brauchen. Gerbera, mit dir mag ich beginnen. Geh bitte gleich ins Dorf und regele das Nötigste. Schick mir Meister Schachtelhalm. Er wird hier dringend benötigt und sollte morgen früh seine Arbeit beginnen können. Irgendwie müssen wir es hin bekommen, Jade hier heraus zu holen. Ich halte länger aus als sie. Sicher werde ich dich morgen hier auch wieder sehen. Es gilt, die Arbeiten zu verteilen, die ihr Halblinge übernehmen könnt. Vielleicht bringst du dann auch einen jungen Halbling mit, der für dich Botendienste erledigen könnte. Ihr müsst schon mal damit beginnen, die längsten Seile herzustellen, die euch möglich sind.

Mit dir, Sigurd, rede ich gleich.

Dir, liebe Beata, will ich zunächst mein aufrichtiges Beileid aussprechen.“ Beipflichtendes Nicken von Gerbera und Sigurd, nebst: „Ja, von mir auch.“-Gemurmel. „Ich hasse solche Floskeln zwar, doch kommt es nun aus wahrlich tiefstem Herzen. Berichte, was ist passiert mit deiner Mutter?“

Gerbera sollte sich eigentlich schon in ihr Dorf aufmachen, doch die Neugier hält sie fest und Beata erzählt, was sie über die Umstände, die zum Tode Magdas führten, weiß. Sie endet mit: „Also dachte ich, du könntest mir helfen. Unter deinem Druck wird jeder die Wahrheit sprechen.“

„Also hast du einen Verdacht?“, fragt Eringus.

„Es ist mehr eine Vermutung. Niemandem ist bekannt, wer einen Grund für die Tat hätte. Ich habe nur diesen Pfeil und die Beschreibung, die mir Frieder gegeben hat. Vielleicht, dass die in Lanczengeseze einen Grund hätten.“

„Dann ist es aber ein Wunder, warum sie so lange gewartet haben sollten. Immerhin sind seit damals zwanzig Jahre vergangen. Es schadet nichts, dort nachzufragen, doch denke ich eher dass wir dort den Täter nicht finden werden. Du hast nur den Pfeil, wie du sagst. So nimm den Pfeil und wandere durchs Land, wer solch Geschoss schon mal gesehen haben mag. Triffst du auf den Täter, wirst du seine Lüge spüren. Diese Gabe hast du, auch wenn du keine Gedanken lesen kannst. Die andere Möglichkeit wäre, einen Wettbewerb zu veranstalten, für den besten Bogenschützen einen Preis aussetzen und die Pfeile prüfen. Mag sein, der Täter verrät sich dadurch. Ach, ja, noch Eines, bevor du gehst. Wie geht es mit deinen Brüdern und dem kleinen Mädchen weiter? Können sie sich selbst vorstehen?“

„Mehr schlecht als recht, Eringus. Ich dachte Guda bei ihnen zu lassen, bis ich meine Suche beendet habe. Vor allem in der Verteidigung sind sie sehr ungeübt. Das hat Mutter leider versäumt.“

„Dann schlage ich vor, dass sie von einem Zwerg unterrichtet werden. Es dauert zu lange, bis du wieder zu Hause sein wirst. Und einzeln verzögert ein Unterricht auch zu sehr den Erfolg. Doch auch die Arbeit auf dem Hof muss gemacht werden. Sigurd, mein Bester, meinst du, dein Sohn Gernhelm wäre bereit, sich der Knaben anzunehmen und sie zu unterrichten? Im Moment kann er für seine Schwester nur wenig tun, wie ich meine. Da mag es eine gute Ablenkung für ihn sein.“

„Da hast du wohl, wie immer, recht, weiser Drache. Ich werde ihn nicht fragen. Ich werde ihm den königlichen Befehl geben, dem auch er gehorchen muss.“ Und zu Beata gewandt: „Ich werde ihn schicken, sobald ich wieder in Steinenaue bin.“

„Ich danke euch beiden.“, sagt Beata. „Das hilft mir weiter. Doch was ist mit deinem Problem, Eringus?“

„Dabei kannst du mir im Moment nicht helfen. Da vertraue ich auf die Zwerge und die Halblinge. Geh beruhigt deines Weges. Ich lasse dir Nachricht zu kommen, wenn ich deiner Hilfe bedarf.“

„Vielen Dank, lieber Eringus. Am liebsten würde ich dich jetzt drücken, für deinen Beistand. Doch leider ... “ Der Rest bleibt ungesagt.

„Bis bald, Eringus, hoffe ich.“, verabschiedet sich Guda mutiger geworden.

„Ich freue mich schon.“, antwortet der Drache zuversichtlich. Endlich eilt auch Gerbera in ihr Dorf, nachdem sie durch einen Blick von Eringus an ihre Aufgabe erinnert wurde.

Guda wendet sich noch einmal zurück. „Verzeiht, wenn ich nochmals störe.“, entschuldigt sie sich. „Großmächtiger, dürfte ich mir in Steinenaue einige Essenzen holen? Ich würde Magda gerne reinigen und einbalsamieren. Ich glaube, diese Ehrerbietung steht ihr zu.“

„Selbstverständlich, Guda. Lasst euch vom Medicus das Beste vom Besten geben. Ihr habt völlig recht, das ist das Mindeste für meine Magda.“, erlaubt Sigurd. Es wird wohl selbst am letzten Tag seines hoffentlich noch langen Lebens >seine< Magda sein.

„Nun sind wir allein, Sigurd, und dein Problem soll besprochen werden.“, wendet sich Eringus dem Zwergenkönig zu, als Guda hinter Beata verschwunden ist.

„Ich kann dir nicht erklären, was nicht erklärbar ist. Also kann ich dir auch nicht helfen. Nach den Gesetzen der Logik gibt es kein spurloses Verschwinden. Vielleicht solltest du die Haltung deiner Frau annehmen und in Gottvertrauen auf die Wiederkehr der beiden Vermissten warten.“

In Sigurds Gesicht spiegelt sich grenzenloses Erstaunen. „Bist du jetzt auch schon unter die Hellseher gegangen?“

„Nein,“, antwortet der Drache mit lächelndem Ton, „aber Hemma war schon vor Tagen hier. Du hast dir reichlich Zeit gelassen.“

„Also, weißt du, das ist ein starkes Stück.“, empört sich Sigurd. „Dafür lässt du mich so lange warten.“

„Es musste sein, denn, auch wenn ich dir nicht helfen kann, so kannst du doch zumindest mir vielleicht helfen.“

„Ja, natürlich. Wie dumm von mir. Du sitzt ja auch nicht gerade bequem in der Klemme. Was kann ich für dich tun? Wie meinst du, hier wieder heraus zu kommen? Sollen wir versuchen, mit einem Rammbock die Wand zu zerstören?“

„Bist du des Wahnsinns? Willst du Jade und mich verrückt machen oder taub?“

Auf des Königs Gesicht spiegelt sich Unverständnis über diese so heftige Abwehr seiner Idee.

„Hast du schon mal von außen gegen ein Fass geschlagen, während dein Kopf drinnen war?“

Der Zwerg schüttelt den Kopf.

„Den Gong, den euer Rammbock an dieser Kuppel hier verursachen würde, möchte ich lieber von draußen vernehmen, statt hier drin.“

„Oh!“ Jetzt dämmert es Sigurd. „Wie dumm und unüberlegt von mir. Was hast du für Ideen?“

„Das Ding hier ist enorm hoch. Selbst eure längste Sturmleiter wird nichts nutzen. Wenn ich aus dem, was ich mit Jades Hilfe erkennen konnte, die rechten Schlüsse ziehe, hat der Alb uns in eine Röhre eingesperrt, die er in der Mitte so eng zusammen drückte, dass ich auf keinen Fall heraus komme und so hoch, dass Jade nicht über den Rand fliegen kann.

Wir brauchen also einen Turm, der mindestens 150 Fuß hoch ragt. Und er muss einen starken Sturm aushalten können. Ich fürchte, die Wetterkapriolen fangen erst noch an. Also muss der Turm auch mindestens 25 Fuß tief im Boden stehen. Das ergibt ein Bauwerk von 175 Fuß.“

„Sowas können wir nicht, Eringus.“, stellt der König das, in seinen Augen, Unmögliche fest. „Wir sind Zwerge, die sich auf Stein verstehen.“

„Aber die Halblinge. Die wissen, wie man sowas im Kleinen baut. Sie dir ihre Häuser an, dann verstehst du, was ich meine. Sie haben das Wissen, ihr die Kraft. Zusammen wird es euch gelingen.“

„Wenn du der Meinung bist.“ Sigurd teilt Eringus Zuversicht nicht.

„Ich bin mir sicher. Also schick auf schnellstem Wege so viel Zwerge, wie möglich. Es gilt Bäume zu fällen, grob zurecht zu hauen, zusammen zu bauen und Löcher für die Grundstützen zu graben. Ach ja, von wegen graben. Ein paar sollen direkt an der Wand dieses Gefängnisses versuchen, ob ein Entweichen nach unten möglich ist. Ich glaube es zwar nicht, doch man ist erst sicher, wenn man es geprüft hat. Also, mein Freund. Spute dich. Die Zeit ist nicht auf unserer Seite.“

„Natürlich, Eringus. Ich fliege.“

„Seit wann das denn?“, lacht der Drache.

„Wie? Ach, du weißt doch, wie sowas gemeint ist. Bis Morgen.“

Schleunigst eilt Sigurd zu seinem Volk, alle nötigen Anweisungen zu erteilen. Für seine Tochter kann er im Moment nichts tun. Sie wird schon unablässig gesucht. Die Hilfe für den Drachen wird ihn von seinen eigenen Sorgen ablenken.

„Wir sind allein, Jade. Jetzt kann ich in Ruhe weiter überlegen, was diese Situation noch von uns verlangt.“

„Du hättest auf mich hören sollen.“

„Wie? Was?“

„Du hättest auf mich hören sollen, als ich vorhin sagte, du sollst nach der schwarzen Wolke sehen.“

„Das hätte doch nichts mehr gebracht. Der schwarze Alb war doch schon kurz danach hier. Außerdem war diese Begegnung unausweichlich. Er kann mich nicht als seinen Gegner frei umher laufen lassen.“

„Trotzdem“, beginnt Jade, doch Eringus fällt ihr ins Wort.

„Es gibt kein Trotzdem. Und jetzt ist Schluss. Willst du hier raus? Wie lange kannst du ohne Blütennektar leben? Also halt den Mund. Ich will in Ruhe denken.“, fordert er.

Jade brummelt etwas. Leider muss sie dem Drachen recht geben. Wie gerne würde sie gerade jetzt leckeren Nektar naschen. Er hat ihr Hunger gemacht.

„Und brummel nicht so laut. Hock dich in eine Eckchen und gib Ruhe.“

„Ins Eckchen?“, fragt Jade nach.

„Ja.“, knurrt Eringus.

„Im runden Gefängnis ins Eckchen? Wirklich?“ Und dann beginnt Jade aus vollem Hals zu lachen und kann überhaupt nicht mehr aufhören. Sie lacht und lacht und lacht.

Gequält verdreht Eringus die Augen.

Eringus - Freddoris magische Eiszeit

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