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Ein letzter Wille

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Anfang des Jahres 619, kämpft sich eine dick vermummte Person zu Pferd durch den Tiefschnee auf der Straße gen Franconovurd. Mit jedem Schritt sackt das Tier bis weit über die Knöchel mit vernehmlich knirschendem Geräusch ein. Die Schnauze des Pferdes ist vereist, denn jedes Schnauben gefriert augenblicklich vor dem Maul. Aus den grauen tiefhängenden Wolken fällt immer noch Schnee in dicken Flocken. Außer dem Knirschen des Schnees hört man bestenfalls noch ab und an das Knacken der vereisten, unter der schweren Last tief hängenden Äste, wenn sich ein Batzen der weißen Pracht nicht mehr darauf halten kann und mit einem dumpfen Plumps mit dem Neuschnee vereint. Die Person muss schon geraume Zeit unterwegs sein, denn man könnte durchaus meinen, ein Schneemann säße auf dem Ross. Nur sehr langsam geht es voran.

Dort, wo sich der Weg nach Westen wendet, verließ man vor geraumer Zeit die Straße und bog in Richtung der alten Römerbrücke, die Eringus seinerzeit nicht zerstört hat. Doch so weit soll die Reise nicht gehen. Auf halbem Wege geben die dicht fallenden Schneeflocken den Blick auf ein Gehöft frei. Hoch liegt der Schnee auf den Dächern der Gebäude, obwohl die starke Neigung dies eigentlich verhindern sollte. Der nächtliche Frost ließ die Schneemassen fest frieren und der Neuschnee kann sich ungehindert darauf sammeln und festsetzen. Nur mäßig ist der Weg zwischen den Häusern frei gelegt. Hier, nahe dem Maynes, hat sich vor Jahren Ewic, der Franke, nieder gelassen. Diesseits des Flusses liegt der Flecken Ewicheim. Drüben, auf der anderen Flussseite befindet sich das große Anwesen mit der Siedlung, die den gleichen Namen trägt. Jetzt, im Winter, ist nur wenig Gesinde auf dieser Seite, um auf den Hof zu achten und das Vieh zu versorgen, das im Stall steht.

Als der Reiter auf das Hauptgebäude zureitet, öffnet sich die Tür und ein Knecht kommt heraus, beim Absteigen zu helfen. Steif gefroren rutscht die Person vom Rücken des Pferdes herab, klopft sich den Schnee ab, dankt knapp mit leiser Stimme für die Hilfe und huscht ins Haus.

Drinnen wartet bereits eine Magd, beim Entkleiden zu helfen. Aus den Gewändern schält sich eine junge Frau, mit auffällig kurz geschorenem, leicht dunkelrötlichem Haar. Das Einzige, das sie von ihrem Vater geerbt hat. Die restliche Erscheinung ist ganz die Mutter, wie man schon damals gerne zu behaupten pflegte. Als zuletzt der dicke Mantel aus gestauchter Wolle abgelegt ist, sagt die Magd:

„Es ist gut, dass ihr es noch rechtzeitig geschafft habt, junge Herrin. Wir befürchten, sie wird den Tag wohl nicht überleben. Sie bekommt kaum noch Luft und das Fieber lässt sich nicht mehr senken. Gar fürchterlich ist zu hören, was sie im Fieberwahn so spricht. Von Mord und Rache und all so weiter.“

„Was ihr auch hört, redet nicht darüber. Mag sein, einer versteht es falsch und schadet eurem Herrn. Wie schnell kommt dummes Gerede auf. Habt ihr verstanden?“, verlangt die junge Frau bestimmt.

„Jawohl, junge Herrin.“ Man sieht der Magd an, wie gerne sie solche spannenden Phantasien hätte weiter tratschen wollen. Doch fürchtet sie mehr noch die Strafe, die sie von ihrem Herren dann zu erwarten hätte. Man darf also hoffen, dass sie Stillschweigen bewahren wird.

„So will ich denn eilen zu hören, was sie noch auf dem Herzen hat.“, fährt die junge Frau fort. Nichts, oder richtiger gesagt, fast nichts an ihrer Gewandung zeugt von ihrem hohen Stande. Nur wenig Stickerei ziert die Ärmel. Der Kälte geschuldet kleidete sich damals der Herr gleich dem Knecht. Außer der Kochstelle in der Küche gab es meist nur noch ein Feuer in der Kammer, in der die Herrin sich aufzuhalten pflegte. Drinnen wie draußen musste man sich also vor der Kälte schützen. „Wartet hier, bis ich euch rufe.“

Danach verschwindet sie durch die Tür in einen angrenzenden Raum. Auch in dieser Kammer ist es fast so kalt wie im Freien. Auf dem Lager unter vielen dicken Decken sitzt eine eingefallene alte Frau mit schlohweißen Haaren, den Rücken mit Polstern gestützt, mehr als dass sie liegt. Strähnig hängen die verschwitzten Haare in das fiebrig glänzende Gesicht. Die Augen sind geschlossen und man möchte meinen, die Frau schlafe. Wenn dem der Fall war, so wird sie jetzt sehr unsanft durch einen fürchterlichen Hustanfall geweckt. Unfähig, sich unter den vielen Decken zu bewegen, muss die Alte das Ausgehustete wieder schlucken. Oftmals aber ist es wohl einfach nur auf der Decke gelandet, wie viele Flecken bezeugen. Langsam beruhigt sich der gebeutelte Körper wieder. Nur sehr flach atmete das Weib, denn jeder Luftzug bereitet schier unerträgliche Schmerzen. Nun bemerkt sie ihren Besuch und die junge Frau beeilte sich, näher heran zu treten. Sie weiß, dass ihre Großmutter nur noch flüstern kann. Mit Trauer und Mitleid muss sie erkennen, wie schnell ein Mensch mit solcher Krankheit verfallen kann. Dies ist nur noch ein Wrack statt der stolzen Frau von einst. Wie gerne hat sie den Erzählungen längst vergangener Tage gelauscht. Mit ihr gelitten wegen der Schmach, die ihr widerfahren war und an der ihr eigener Vater seinen Teil hatte. Zwar hat sie nie auch den Hass geteilt, den die Großmutter gegenüber der Frau hegt, die sie für schuldig an allem hält, doch fühlt sie wohl eine gewisse Wut. Wie konnte man sich nur so verhalten. Sicher war das eine Hexe, die allesamt nach ihrem Willen beeinflusste.

Das Flüstern der Alten beendete ihre Gedanken.

„Es ist gut, dass du gekommen bist.“

Schwer kommen die Worte über die Lippen. Bei jedem Atemzug rasselt die Lunge. Die junge Frau ist so dicht am Mund, dass sie das Geräusch wohl vernimmt.

„Ich habe zuhause gelogen, um hierher kommen zu können. Man glaubt mich bei den Mönchen.“

Automatisch flüstert sie auch, als würden laute Worte von ihr der Kranken weitere Schmerzen bereiten. Nur leicht legt sie die Hand auf die Brust der Großmutter, um sie gleich darauf wieder weg zu ziehen, weil erneuter Husten quält.

Als der Körper wieder zur Ruhe kommt, beginnt die Alte erneut.

„Lebt das Weib mit ihren Plagen noch auf meinem Grund?“

Die Enkelin weiß, von wem die Rede ist. Und antwortet: „Ja, seit eh und je.“

„So hat der Mistkerl seinen Auftrag nicht erfüllt. Verflucht soll er sein. Ich brauche deine Hilfe. Du musst mir etwas versprechen.“

„Ich tue, was in meiner Macht steht, wenn es dich erfreut, Großmutter.“

„Geh zur Truhe in der Ecke dort.“

Gehorsam wendet sich die junge Frau zur Truhe, doch als sie nach nur wenigen Schritten dort anlangt, ist das alte Weib wieder leicht eingeschlafen. Neugierig hebt sie den Deckel. Auf alten inzwischen schäbigen Gewändern liegt ein Pfeil. Aufmerksam prüft sie die Befiederung, die ihr völlig fremd ist. Ein derartiger Pfeil ist hier in der Gegend nicht gebräuchlich. Die Enkelin nimmt das Geschoss und tritt wieder zur Großmutter, die im Traum unverständlich vor sich hin brabbelt. Sanft weckte sie sie.

„Ich habe den Pfeil, Großmutter. Was ist damit?“

„Pfeil? Ach ja. Schon einmal gab ich einen Pfeil, dies Weib zu töten, deren Namen auszusprechen mir ein Gräuel ist. Aber ach, keine Kunde kam zu mir, die mich erfreut hätte. So musst du meinen letzten Willen erfüllen.“

Zu dem Rasseln in der Lunge kommt nun auch noch vor Erregung ein Pfeifen beim Atmen dazu. Der folgende Husten fördert neben Eiter jetzt auch schon hellrotes Blut hervor, das aus den Mundwinkeln läuft. Eiligst nimmt die junge Frau das nächstbeste Tuch, den Mund abzuwischen. Es ist schon lange nicht mehr sauber und angewidert wischt sie ihre Hand am Bettzeug ab.

„Du musst dies Weib für mich töten, sonst find ich im Tode keine Ruhe. Du musst es für mich tun. Versprich es mir.“

Das Flüstern ist deutlich drängend und fordernd.

„Aber Großmutter!“, versucht die junge Frau zu widersprechen, doch schon wieder wird die Alte vom Husten schier zerrissen. Mehr Blut kommt hervor, das nicht mehr weg gewischt wird. Es macht das eingefallene Gesicht zu einer widerlichen hässlichen Fratze.

„Du musst, versprich es!“

Mit aller Kraft, die noch im Körper steckt, sind diese Worte fast verzweifelt geschrien worden. Zumindest lag der Versuch dahinter. Die Schwäche und die fehlende Luft in der Lunge bringt aber nur ein drängendes halblautes Gurgeln hervor.

„Ich verspreche es, ich verspreche es.“, beschwichtigt die Enkelin. Völlig überfordert und verängstigt willigt sie ein. Es ist das erste Mal, dass sie beim Sterben eines alten Menschen dabei ist.

Noch ein kurzes Aufbäumen im letzten Husten und leblos fällt der Körper auf das Lager zurück. Das Gesicht im Krampf erstarrt, die Augen weit aufgerissen. Augenblicklich stürmt die Magd in das Zimmer, auch wenn man sie nicht gerufen hat. Nach kurzem Blick auf die Verstorbene zieht sie die oberste Decke über deren Gesicht, dessen weiteren Anblick der jungen Frau zu ersparen.

„Kommt, junge Herrin. Hier ist nichts mehr für euch zu tun. Eure Großmutter lebt nicht mehr.“

Es ist überaus schockierend, die letzten Momente der Großmutter und deren Todeskampf miterleben zu müssen. Bis ins Mark getroffen ist die Enkelin. Willig, weil immer noch in den letzten Augenblicken verhangen, lässt sich die junge Frau hinaus führen. Selbst als sie schon wieder auf ihrem Pferd sitzt, hallen noch die fordernden Worte der Großmutter in ihr nach: „Du musst …“

* * * * *

In dem darauf folgenden Frühjahr muss Beata feststellen, dass ihre Platzwahl für den Bau eines Hauses falsch ist. Das Schmelzwasser überspült weite Teile der Bule. Zusammen mit den Halblingen von Erlenbusch und den Zwergen trifft sie entsprechende Vorsorge, im nächsten Hochwasser nicht zu ersaufen.

Keiner kann zu dieser Zeit irgendwelche Geschehnisse mit jener schwarzen Gestalt in Verbindung bringen, die, noch weit im Osten, die Arme gen Himmel erhebt, um Eis und Schnee zu beschwören und sich dann gemächlich auf den Weg ins Chynzychtal macht. Die Zwerge sollen unendlich leiden dafür, dass sie sich anmaßten, ihm und seinen Genossen Einhalt geboten zu haben. Dieses Mal würde ihnen ihr Gott nicht helfen können. Er würde gar fürchterliche Rache nehmen und dabei seine tiefsten Gelüste befriedigen.

Eringus - Freddoris magische Eiszeit

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