Читать книгу Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt - Rainer Sprehe - Страница 11

Der Zug ist abgefahren

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Es mulmt mächtig im Magen, als die Haustür ins Schloss fällt. Die Vorzeichen sind keine guten. Düster der Himmel, noch finsterer das Gewölk, das die Sternlein erfolgreich verhängt. Bedrohlich knirscht es unter den Reifen. Während ich mich vorsichtig über die splittübersäten Radwege der schlafenden Stadt zum Bahnhof vortaste, habe ich das Gefühl, dem Wind bei der gemeinhin eher abstrakten Tätigkeit des Auffrischens zusehen zu können. Auf der letzten, kurzen Pavé-Passage hinauf zur Zentralstation, vorbei an Asia-Basaren und Import-Export-Kabuffs, prasseln dicke Tropfen auf den angehenden Friedensfahrer herab. Die ersten seit Wochen. Die Tinktur, aus der Schmierseife ist. Und am Himmel zucken schon die Blitze.

Schnell ins Trockene der Bahnhofshalle, rasch noch ein letzter Material-Check. Prüfende Blicke scannen das Rad, die Packtaschen am Gepäckträger, den Inhalt von Portmonee und Lenkertasche. Alle Grundzutaten für die Expedition scheinen vorhanden. Nur sollte ich mich lieber schon mal schlau machen, was wohl Lenkerendstopfen auf Polnisch heißt. Offenbar ist bei den allerletzten Schraubereien im Radkeller einer der beiden noch verlustig gegangen. Bevor das Lenkerband beginnt, sich abzuwickeln, sollte am besten gleich in Warschau Ersatz beschafft werden.

Die Liftanlagen für die Versehrten und Beladenen befördern mich hinauf auf den Bahnsteig. Hinaus in Weltuntergangsstimmung. Freie Sicht auf das städtebauliche Inferno global austauschbarer Industrieflächenkonversion in 1c-Lage. Multiplex, Spaßbad, Abschleppschuppen, Parkhäuser. In immer kürzeren Abständen lassen die unberechenbar zuckenden Megavolt die Stadt aufleuchten. Donnerlittchen. Derweil rüstet die Verspätungsanzeige für die Verbindung nach Berlin, Warschau, Minsk, Moskau eilig auf. Fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten. Scheibenkleister!

Die Bauarbeiten auf der A2 der Schienenwelt lassen immerhin genug Zeit, mich zwölf Mal am Wagenstandsanzeiger zu vergewissern, wo ich wohl in den EuroNight »Jan Kiepura« einzusteigen habe. Waggon 176, zweite Klasse, Sitze in Reihe, ein Fahrradsymbol, Quarzen verboten. Der Kerl, der im T-Shirt auf der Nachbarbank kauert, gedenkt, kompakteres Gepäck in Ostzonen auszuführen. Eine Autobatterie.

33 Minuten nach Fahrplan hat das Warten ein Ende. Jetzt muss alles sehr schnell gehen. Eilig werden knapp fünfundzwanzig Kilogramm teils unhandlichen Materials in die Einsiebensechs gehievt. Türen schließen, der Zug fährt an, Schaffner Bello kommt herbeigeeilt. Ich bin gerade dabei, mich samt Rad in der Hand, zwei prallen Gepäcktaschen aus Lkw-Plane um die Schultern und baumelnder Lenkertasche um den Hals zu Fahrradplatz 15 und Ruhesessel 31 zu zwängen, da kläfft es mich auch schon hinterrücks aus dem oberen Ende einer DB-Uniform an: »Was wollnse denn mit dem Fahrrad hier? Grrr.«

»Äh …«

»Fahrrad is’ hier nicht.«

»Ähm, aber ich hab’ doch …«

»Erst mal raus hier aus dem Gang! Zackzack! Kläffkläff!«

»… reserviert.«

»Doch wohl nicht nach Warschau!«

»Aber äh … mein Ticket. Samt Reservierung für’s Rad. Wagen einsiebensechs, Platz fuffzehn …«

»So’n Quatsch. Grrr. Da habense Ihnen was Falsches verkauft. Nach Warschau gibt’s keine Fahrradplätze. Vom Gang müssense jedenfalls runter. Jauuuuulll.«

Bello kraxelt über den gleichermaßen schwer Konsternierten wie Beladenen, sprintet – hechelhechel – durch den mittlerweile auf Reisegeschwindigkeit beschleunigten Gang, öffnet mit rüder Pfote Abteiltüren, reißt Vorhänge zur Seite. Beim vierten Versuch wird er fündig.

»Hier is’ frei. Rein da mit dem Rad. Runter vom Gang.«

Das Einparken ist Millimeterarbeit. Da sitze ich nun im spröden Polster, die Hand am Sattel meines eingepferchten Packesels, und aus purem Zufall tatsächlich auf dem reservierten Platz 176/31 in einem ansonsten leeren Sechserabteil der polnischen Staatsbahn PKP und würde mich gern beim diensthabenden Schaffner erkundigen, wie es denn nun weitergehen soll mit uns beiden. Doch Bello ist längst entschwunden. Und ward nicht mehr gesehen.

Na, das kann ja heiter werden. Noch ist das Gefolge von Jan Kiepura vielleicht recht spärlich, doch was, wenn die Pforte Westfalens passiert ist und in Hannover, Berlin, Posen die reisewilligen Werktätigen und Ausflügler den durch die Nacht rasenden Heldentenor stürmen und ihre reservierten Sitzplätze begehren? Sitzplätze, deren Beinfreiheit von einem Aluzossen mit fragwürdiger Aufenthaltsgenehmigung auf die Ansprüche von Oskar Matzerath reduziert wird.

Über die Frage grübelnd, ob meine Fahrt auf den Straßen des Friedens wohl bereits enden muss, bevor sie überhaupt begonnen hat, nicke ich ein. Als ich die Augen wieder aufreiße, habe ich neben Legohr einen weiteren, in diesem Fall humanoiden Abteilgenossen bekommen, der das Platzproblem einfach und – bis auf einen Schnarchbass mit Rebroffschen Schalldruckqualitäten – stillschweigend auf seine Weise gelöst hat. Quer über die drei gegenüberliegenden Sitze hat er seinen Leib gebettet. Ein ehemaliger Schwerathlet, der, wie auch seinen Ausdünstungen zu entnehmen ist, das Bauchmuskeltraining irgendwann zugunsten der Vernichtung anderer Sixpacks eingestellt hat. Und so lehnt nun ein delikater Teil seines mächtigen Resonanzkörpers unschön entblößt am Trinkflaschenhalter. Der Donkosake mag ja in seinem Wortschatz zweihundert Umschreibungen für Wampe finden, ich aber habe nur ein Wort für das, was sich da zwischen Hosenbund und unterstem Hemdknopf zu einer Freiluftdarbietung hervorgezwängt hat. Schweinespeck. Und offenbar ist dieser Anblick ein Schlüsselreiz. Schlagartig pressiert die Blase. Ich muss pinkeln wie tausend Tataren.

Das ist generell kein angenehmes Unterfangen im rollenden Nachtzug. Umso weniger, wenn man dazu den hoffentlich getreuen Legohr ganz allein mit Schweinchen Dick im Pferch zurücklassen muss und zudem für den schnellen Start auf die erste Etappe »Rund um Warschau« unter dem Beinkleid statt einer Unterhose bereits eine eng anliegende Träger-Shorts am Leib hat, aus der sich das Gemächt nur umständlich und in gebückter Haltung zum Wasserlassen herauszwängen lässt. Erst recht nicht, wenn nun der Pegel der schäumenden Suppe in der goldglänzenden Schüssel immer weiter ansteigt, sodass man ernsthaft fürchtet, der Pott werde jeden Moment überlaufen. Und schon gar nicht, wenn diese leichte Furcht in blanke Panik umschlägt, weil einem auffällt, dass auch die inzwischen per Tragesystem zur Herrenhandtasche umfunktionierte Lenkertasche zurück im Pferch geblieben ist. Samt praktisch allen Wertsachen.

Mit »voller Galopp« ist die Rückkehrbewegung zum Abteil nur unzulänglich umschrieben. Die hastige Pfote reißt die Abteiltür auf, den speckigen Vorhang zur Seite. Legohr ruht allein im Pferch. Der Dichtlippenverschluss der Herrenhandtasche steht auf. Das Herz plumpst auf den weich gepolsterten Grund der Radhose, ein Stoßgebet steigt gen Abteildach auf. Doch, oh Wunder, Schweinchen Dick ist zwar spurlos verschwunden, aber kein Dieb. Alles ist noch da. Und ich bin schweißgebadet. Zwei Minuten später fährt der Zug im Berliner Hauptbahnhof ein.

Puh, wenn das Adrenalin auf dieser Tour weiterhin in dieser Taktzahl und in diesen Handelsgrößen an meine Blutbahnen abgegeben wird, werde ich nach den zwei Wochen fraglos ein Fall für den kalten Entzug sein. Oder für den Ritalintropf von Katia Saalfrank.

Berlin bringt Briten an Bord. Briten mit Beinen und reservierten Plätzen. Einen Schiffschaukelanschubser und seinen hageren Kollegen, der im Vergleich so mickrig wirkt, dass er gut auch als Handgepäck durchgegangen wäre. »Will you please be so kind to put thissss« – der Bulle deutet mit gespielter Empörung auf Legohr – »somewhere else?«, quäkt es als Begrüßungsfloskel noch in halbwegs freundlicher Hemdsärmeligkeit. Als ich jedoch leise andeute, das Bahnpersonal habe mir ausdrücklich aufbefohlen, mein Rad im Abteil zu parken, werden Mienenspiel und Tonart schlagartig andere. Stirn- und Brauenpartien kräuseln sich zu Faltenröcken, darunter sprechen blitzende Pupillen eine sehr deutliche Sprache. Von meinem Glück, dass dies hier kein Pub sei. Von den Pint-Humpen, die schon aufgrund weitaus nichtigerer Ungehörigkeiten an fremder Leute Schädel zerborsten seien. Von in Telefonbuch-Zerreiß-Wettbewerben preisgekürten Schraubzwingengriffeln, die nun nichts lieber täten, als die Rahmenrohre einer Cyclocross-Maschine wie eine Tuba aufzuwickeln.

Die Sprache der primären Artikulationsorgane ist indes weniger deutlich. Und irgendwie bin froh darüber, dass ich von dem ungezügelt marodierenden Geordie-Akzent nur Bruchteile verstehe. Denn bei diesen Bruchstücken handelt es sich ausschließlich um Vokabeln, bei denen es die angloamerikanische Welt in gedruckter Form lieber beim Anfangsbuchstaben und drei Sternchen belässt, wenn sie auch von der U21 gelesen werden will.

Zwei Minuten lang kann der Bulle vom Hadrianswall die zwangsweise eingenommene Yoga-Stellung »Das Yak im Lotussitz« halten, dann kribbelt es ihn in den Adduktoren. Bald darauf verdünnisiert sich auch sein Handgepäck. Tynemouth-Obelix hat für beide in einem der Nachbarabteile genug Platz gefunden, damit sie sich für den Rest ihrer Reise in Entspannungslage erholen können.

Derweil versuche ich, die Sorgen, die mich umtreiben, mit der Erinnerung zu beschwichtigen, dass auch andere, weitaus talentiertere Pedalritter in friedlicher Mission erfahren mussten, dass der Weg zum Start bei Warschau–Berlin– Prag nicht unbedingt ein Schmusekurs sein muss.

Für den einen oder anderen ging es doch eher holterdipolter zur Friedensfahrt. Für Manfred Weißleder zum Beispiel, den findige Späher des DDR-Radsportverbands im April 1960 in letzter Minute in einem Schrebergarten in Weimar aufspüren konnten, ihn von der Rabatte weg zum vierzehntägigen Arbeitseinsatz auf internationalen Straßen verpflichteten und als Ersatz für einen kurzfristig ausgefallenen Teamkollegen in einer Bleifuß-und-Gummi-Aktion noch rechtzeitig zur Eröffnungsetappe nach Prag karrten.

Mitunter war der Weg zur Startlinie auch mehr als verschlungen. Wie bei den Monegassen, die 1959 unerwartet debütierten. Ein dort ansässiger Radsportmasseur hatte das Rennen zufällig in Ost-Berlin kennengelernt, beim Besuch eines alten Gefährten aus dem spanischen Bürgerkrieg. Zurück im Fürstentum erklärte er daraufhin 0,2 Promille seiner Landsleute zur Friedensfahrt-Auswahl, um den Kumpel – diesmal auf Verbandsspesen – schon im nächsten Lenz wiedersehen zu können. Was das Organisationskomitee vor mittelschwere Probleme stellte, sollten doch in jenem Jahr erstmals alle Starter mit ihren Landesfahnen begrüßt werden. Zum Glück kam irgendwer auf die Idee, dass sich Monacos Banner, offenbar die rot-weiße Mauritius unter den Flaggen, ja auch klonen ließ, wenn man einfach eine der massenhaft vorrätigen Polen-Standarten kopfüber am Mast baumeln ließ.

Besonders häufig hatten designierte Teilnehmer in den Anfangsjahren aber politisch heftigst vermintes Terrain zu durchschreiten, bevor sie denn am Start der Friedensfahrt stehen konnten – oder eben auch nicht. Ich denke an die sechs Arbeitersportler aus Finnland, denen kurzerhand die Pässe weggenommen wurden. Giordano Dreossi fällt mir ein, der die Farben des dereinst völkerrechtlich noch semiautonomen Triest vertreten wollte, von seinem Direktor jedoch zunächst den eingereichten Urlaub verwehrt bekam: »Ich glaube nicht … Man hat mich angerufen …« Bis die örtliche Gewerkschaft seine Freistellung dann per Ultimatum durchsetzte: Start oder Streik. Auch an Odd Berg denke ich, den Straßenbahnbediensteten aus Oslo, der sich selbst von wortgewaltigen, anonymen Drohungen in seinem Briefkasten nicht davon abhalten ließ, sein Glück als Amateurrennfahrer einmal bei den »roten Teufeln« zu versuchen.

Der Kalte Krieg besaß in jenen Jahren halt noch nichts vom Permafrost, der dem sprachlosen gegenseitigen Anbrummen und den irren Star Wars-Spielchen späterer Ären innewohnte. Er war ein Pulverfass, das ständig mit hitzigen Wortgefechten und Provokationen befeuert wurde. Und da erwies sich die Friedensfahrt als sehr geeigneter Katalysator, um den ausgemachten Klassenfeind zur Weißglut zu treiben.

In den Ausrichterländern hatten die Kader aus Sport und Politik sehr schnell spitzgekriegt, dass sich unter rennstreckenüberspannenden Bannern mit der Botschaft vom himmlischen Frieden herrlich auch in Tönen propagandieren ließ, denen nur wenig von völkerverbindendem Kuschelschlager anhaftete. Kaum eine Gelegenheit verstrich also, um den nationalen Stellvertretern Stalins auf Erden prominente Auftritte zu verschaffen. In überdimensionalen Porträts am Streckenrand und immer wieder auch in natura, bei Etappenankünften im pickepackevollen Stadion oder als Geschenkeonkel bei den allabendlichen Siegerehrungen. Und ebenso wenig ließ man die Chance verstreichen, die Auswahlteams aus Frankreich oder Italien, Dänemark oder Österreich mit Mann, Maus und Masseur in die offiziellen Maiparaden einzubinden. Und ihre erfolgreichen Vertreter nach gelungener Aktion auf dem Rad mit ein paar Rede-Fragmenten zu zitieren, die vom letzten SED-Parteitag übrig geblieben waren.

So auch bei jener Friedensfahrt, auf deren Spuren ich zu schwitzen gedenke. Der Österreicher Alfred Deutsch zum Beispiel, im Mai 1952 nach einem coppiesken Solosieg in Berlin in aller Munde, habe sich auf die Nachricht, dass in Essen ein Demonstrant gegen die bundesdeutsche Wiederbewaffnung von einer Polizeikugel tödlich verletzt wurde, gar zu einer druckreifen Tirade aufgeschwungen: »Während wir die V. Internationale Radfernfahrt für den Frieden von Warschau über Berlin nach Prag bestreiten, sind in Westdeutschland die Lehr-Truppen dabei, ihre eigenen Landsleute, die gegen den Generalkriegsvertrag protestieren, durch den Gebrauch der Schusswaffen auseinanderzutreiben und zu töten. Ich bin über diesen Terror auf das Tiefste empört.« Vielleicht aber auch ein klitzeklein wenig darüber, dass ihm der Friedensfahrt-Chronist Adolf Klimanschewsky zutraute, die offizielle DDR-Sprachregelung zur Westintegration des Klassenfeindes aus dem Effeff zu beherrschen.

Kein Wunder, dass manch mächtiger Mann im Westen nichts unversucht ließ, um seinen radsportbegabten Wählern die Flausen von einem Start bei der Friedensfahrt nachhaltig auszutreiben. Auch die Westpresse ließ sich nicht lumpen und hielt in ihren ebenso spärlichen wie spöttischen Friedensfahrt-Bulletins stramm den offiziellen Regierungskurs. Das Arsenal der Kampffloskeln für die Berichterstattung in innerdeutschen Dingen wurde für die Sportseiten kurzerhand aufgerüstet. Man schrieb in Hamburg nicht einfach Friedensfahrt, sondern stets: »das von den kommunistischen Propagandisten als ›Friedensfahrt‹ gefeierte Rennen«. Und man vergaß nie die Bemerkung, wer denn scheinbar die Hauptingredienzen für das Millionenspalier am Streckenrand bildete: »Betriebsbelegschaften, die zuvor ihr Plansoll vorerfüllt hatten, und Schulklassen«. Der Spiegel ließ sich sogar bis weit in die sechziger Jahre hinein in keiner Betrachtung zum Amateur-Radsport des Ostblocks jemals die Vorlage entgehen, die ND-Chefredakteur Rudolf Hernstadt im Frühjahr 1952 geliefert hatte: »Auf die Landstraßen kommen Hunderttausende. So viele können wir für politische Versammlungen nie gewinnen.«

Und wohl jedem Radamateur von Bayonne bis Braunschweig, von Bodø bis Bari, der in den Filthy Fifties mit einer Teilnahme an der Friedensfahrt liebäugelte, wurden von angeblichen Ostblock-Kennern wahre Schauermärchen aufgetischt. Halbexklusive Vom-Hörensagen-Erzählungen, die nahelegten, ihn erwarte ein Dschungelcamp-Abenteuer mit Living-History-Anklängen, auf das sich ausschließlich Leute mit einem krankhaften Faible für die finstersten Ecken des Mittelalters einlassen sollten. »Wir schämen uns zwar, aber vor dem Abflug hatte die Mannschaft ernsthaft diskutiert, ob wir nicht einen Koffer haltbaren Brotes mitnehmen sollten. Freunde hatten uns vor Hunger und Not gewarnt. Brot bannt den ärgsten Hunger, hatten sie gemeint«, gestand 1953 der norwegische Team-Chef Haakon Hansen: »Nicht auszudenken, wenn die in Bratislava die Koffer geöffnet und das Brot gefunden hätten.«

Der Ersatzmann für die verbrämten Briten scheint jedoch glücklicherweise keiner zu sein, der mich ernsthaft bange machen könnte oder wollte. Neuer Abteilgenosse bis Warschau ist ein älterer Herr aus dem Lüneburgischen, von bedachter Art und distinguiertem Wort, nennen wir ihn Sir Alec.

Man versteht sich. Auch er tritt in der Freizeit gern mal in die Pedale – eines Tourenrades aus Bielefelder Produktion noch dazu – und weiß darum, im Hinblick auf meine Reisepläne die richtigen Schlüsse aus der vorabendlichen Wettervorhersage zu ziehen: »Na, hoffentlich hält der Ostwind erst mal an.« Und genau wie ich gedenkt er, Polen auf nicht gerade naheliegende Weise zu erkunden. Während ich von Fußballstadion zu Fußballstadion radeln will, ohne mir auch nur ein Spiel anschauen zu wollen, wird er, der daheim an neuen klimaund messtechnischen Gerätschaften für Galerien und Pinakotheken tüftelt, mit seinem einheimischen Kompagnon von Museum zu Museum tingeln, ohne ein gesteigertes Interesse an Kunst oder sonstigem Kulturerbe zu haben, das man in Polen für ausstellungswürdig halten könnte. Nur mit einer Frage kratzt er doch an der Grenze zum Schauermärchen. Und schmerzhaft an einem meiner wunden Punkte: Ob ich mir das alles – bei den Straßen in Polen – denn wirklich gut überlegt habe?

Habe ich nicht. Meine Internetrecherche in einschlägigen internationalen Radlerforen hatte ich ja bockig von einer Sekunde auf die andere für beendet erklärt. Auch, weil bereits die ersten sieben Diskussionsbeiträge zum Thema »Rennradfahren in Polen« meine Aufnahmekapazität für Ungenügend-Urteile der Stiftung Straßentest ausgereizt hatten. Was da zu lesen war, klang mit Ausnahme eines aufmunternden »Ach, in den letzten Jahren schon viel besser geworden« nach einer dringenden Radreisewarnung des Auswärtigen Amtes: »Wenn Finnland das Land der tausend Seen ist, ist Polen das Land der Hunderttrilliarden Schlaglöcher – jedes dritte so tief wie der Mariannengraben.« – »Vorsicht in den Ortsdurchfahrten: übelstes Kopfsteinpflaster und nirgends ein Sommerweg in Sicht.« – »In den letzten Jahren besser geworden? Höchstens in Küstennähe. Oder in Masuren. Sonst kannste das knicken. Aber so was von.«

Seit der Morgen graut, schaue ich also interessiert aus dem Abteilfenster, um zu ergründen, ob sich denn zumindest seit 1947 etwas zum Besseren gewendet hat, als der tschechische Friedensfahrt-Geburtshelfer Karel Tocl sein berühmtes Lamento ins Tagebuch maulte: »Man wird uns noch in Jahren auslachen ob dieses Größenwahns. Nach Warschau auf dem Rad! Die Straßen sind so beschaffen, dass vielleicht Panzer nach Warschau vorankämen, ohne unterwegs steckenzubleiben.«

Doch Straßen sind vorerst selten und wenn dann von einer Qualität, die aus dem rollenden Zug unbestimmbar bleibt. Nur endlose Birkengehölze und Äcker, Birken und Weiden, Birken und Sumpf. Selten mal eine kleinere Ortschaft, die den Gleisen keck oder unverfroren das marode, notdürftig geflickte Hinterteil entgegengereckt hat. Was Sir Alec erleichtert aufatmen lässt, dass sein Ticket bis zum Wirtschaftswunder-Warszawa gilt, dem neuen Brückenkopf der globalen Finanzindustrie. »Oha«, raunt er mehrfach, »hier ist der Wohlstand aber auch noch nicht angekommen.«

An ein anderes Manko erinnert mich der nette Herr mit der mobilen Kantine, der seit Passieren der Grenze stündlich unser Abteil beehrt. Nachdem ich seine überschwänglich vorgetragene Frage, ob es vielleicht ein »Kaweee?« sein darf, mit ebenso begeistertem Nicken aufgenommen habe und der Pappbecher mit brodelndem Muckefuck ausgehändigt ist, bittet er um »neu Zloty«. Und ich habe leider nicht den blassesten Schimmer, ob er nur ein »n« verschluckt hat oder ob sich hinter »neu« vielleicht doch eher eine polnische Zahl verbirgt. Falls dem so sein sollte, dann jedenfalls mehr als drei, denn weiter kann ich nicht zählen.

Mein Polnisch-Wortschatz beschränkt sich weiterhin auf die rudimentärsten Brocken. Jeden, dwa, trzy. Tak und nie. Proszę und Dziękuję. Dzień Dobry und Do widzenia. Der Allzweckwaffenfluch »kurva« selbstredend. Dazu »walić konia«, die schwer unter männlicher Gürtellinie schürfende Metapher vom zu schlagenden Pferd, die mein Gedächtnis suspekterweise seit Zivildiensttagen in einem Internat für jugendliche Aussiedler nicht müde wird, mit sich herumzuschleppen. Und natürlich Rower und Rowerzysta, Fahrrad und Radfahrer, Ausdruck der polnischen Lust, Lehnwörter zu annektieren und hemmungslos durchzudeklinieren. In diesem Fall bediente man sich halt beim »Rover Safety Bicycle«, dem Prototyp des modernen Fahrrads mit Diamantrahmen, Kettenantrieb und lenkbarem Vorderrad, das seit 1884 von Coventry aus seinen Siegeszug um die Welt antrat. Was dem Erfinder John Kemp Starley ein hübsches Firmenimperium bescherte, das später vor allem für die Automobile der Marke Rover bekannt war. Und eben ewigen Ruhm in jedem Polnisch-Dictionary.

Meine kleine Hoffnung jedoch, rechtzeitig die Vokabel für Lenkerendstopfen zu finden oder gar aussprechen zu können, stirbt den Sekundentod, als ich kurz hinter Posen einen Blick in W podrózy werfe, die Bordgazette von ICCC PKP Intercity. Herr, wirf Vokale vom Himmel. Dieses Terrorregime der Konsonanten verzwirbelt einem ja selbst beim lautlosen Leseversuch die Zunge samt aller angeschlossenen Hirnwindungen.

Lediglich aus zwei Doppelseiten werde ich halbwegs schlau. Eine Anzeige wirbt für ein zweimonatiges Kulturfestival in Friedensfahrt-Tradition, das am Tag der Arbeit beginnen soll: »Sąsiedzi – Nachbarn 2.0«. Samt Galadinner »Vom Büsumer Krabbencocktail bis zum Zugspitzer Zwergendatschi«, Gartenzwerggestaltung-für-Polen-und-andere-Anfänger-Seminaren oder deutsch-polnischem Speed-Dating. Und sogar mit einem Zeichen-Workshop zum Thema »Smileys« unter Aufsicht von Dariusz Michalczewski. Da boxt bestimmt der Papst … Gesponsert wird das Ganze allerdings nicht mehr von Trybuna Ludu und ND oder von PZPR- und SED-Nachfolgeparteien. Sondern von einer abstrusen Allianz aus polnischer Elle und deutschem Goethe-Institut.

Ein paar Seiten weiter, in der Style-Rubrik des Magazyns, dreht sich dann tatsächlich alles ums Rad: »Ale rower rowerowi nierówny«. Doch der Radrennsport auf Polens Straßen bleibt außen vor. Kein Sylvester Szmyd, kein Szurkowski, kein Piasecki, schon gar kein Wyścig Pokoju. Dafür das Fazit einer soziologischen Studie der Uni Warschau, in der es – »promocji w hipermerkatech« – vermutlich um die Gefahren von Zwei-Zloty-fuffzich-Rädern aus dem Supermarkt geht. Und ein beinahe unheimliches Faible für Reifenmaße: »Rower dla gigantow«, tönt es etwa mit dem Hinweis auf »29-calowymi« und MTB-Pionier Gary Fisher. Offenbar hat der Trend zur Großspurausgabe des Mountainbikes inzwischen die Weichsel erreicht. Mit »26 Calowa« kommt derweil auch in Polen noch das »rowery downhillowe« aus. Vielleicht sollte ich mir in schlechtester Fernfahrertradition noch schnell einen Heckaufkleber basteln: »Damen, aufgepasst: Meiner hat 28 Calowa – im Durchmesser«.

Stutzig macht nur, dass die Story mit einem Foto von einer Zusammenrottung altgedienter Hollandräder aus dem Stockfoto-Fundus illustriert ist, das eigentlich überall aufgenommen sein könnte. Überall in Münster oder Amsterdam.

So frage ich mich, wie Warschau mich wohl begrüßen wird. Hoffentlich, darum bitte ich inständig, nicht so wie das Friedensfahrt-Berlin im Jahr 1978 jenen kubanischen Sportjournalisten, der im internationalen Kollegenkreis bald nur noch »Laubenpieper« hieß. Weil dies das einzige deutsche Wort war, das er bei seiner Ankunft in Tempelhof beherrschte. Ich jedenfalls möchte nicht als vermeintlicher Pferdeschläger durch die Woiwodschaft Masowien pedalieren. Das lasst euch gesagt sein, werte Polen – Kurva, noch mal!

Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt

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