Читать книгу Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt - Rainer Sprehe - Страница 9
Paragrafenreiter
ОглавлениеIm Mai 1948 fand sie statt, die erste Internationale Fernfahrt für den Frieden, und wer sich einmal mit der Gründungsgeschichte befasst, die der Debüt-ausgabe vorausging – und durch ein Tagebuch des beteiligten Prager Zeitungsmanns Karel Tocl hautnah dokumentiert ist –, muss zu dem Schluss kommen: Wenn die Vorbereitung des neuen Rennens ein Musterbeispiel real sich entwickelnder Planwirtschaft in Volkspolen und ČSR darstellte, dann in einer ziemlich kölschen Variante.
Ist die Idee einmal auf dem Tisch, wird sogleich auch vollmundig sie herausposaunt. »25. August 1947. Dieser Ärger mit den Journalisten! Ich habe die Nachricht Wort für Wort abgeschrieben. Peinlich. Auslachen werden sie uns! Man schreibt das nicht gleich in die Zeitung«, zürnte Karel Tocl in seine Kladde.
»Prag–Warschau für Radfahrer«, lautete damals die Schlagzeile. Ohne Fragezeichen. Obschon derer noch viele gewesen wären. Die Straßen sind vom Krieg verheert? Gibt es überhaupt genug renntaugliche Fahrräder? Das Benzin für Begleitfahrzeuge ist ebenso noch rationiert wie alles, was den Kalorienhaushalt der Teilnehmer halbwegs ausgeglichen gestalten könnte? Macht nichts. Irgendwie wird’s schon klappen. Es kütt, wie es kütt. Und am Ende ist dann tatsächlich eine Erfolgsmeldung in der Rudé právo zu lesen: »Eines steht fest, die Fahrt hat stattgefunden.« Ich beschließe, mir diese Herangehensweise zu eigen zu machen und meinen Plan mit demselben Pragmatismus in die Wege zu leiten. Zehn Punkte soll das Reglement für meinen »Course de la Paix privé« haben.
§ 1: Nutze den strategisch günstigen Moment für die Genehmigung
Für meinen Vorstoß passe ich die nächste Situation ab, in der ich zu anderer Zeit meine Ventilation und den Haushalt an gewissen Blutinhaltsstoffen mit einer Zigarette danach ausgepegelt hätte. Denn im Allgemeinen besteht in solchen Momenten mehr Aussicht denn je, dass Redewendungen wie »Nein!«, »Sonst noch was?« oder auch – zumindest in Haushalten, die den Reizen der SM-Bewegung abhold sind – »Du hast wohl den Arsch auf« vorübergehend aus dem Wortschatz gestrichen sind.
»Du Schatz, weißt du, was ich mir fürs Frühjahr vorgenommen habe …?«
Die Frau, mit der ich mir in diesem Haushalt alle ultimativen Rechte und Pflichten teile, ist wie erhofft nicht in der Laune für Skepsis und Widerworte. »Ja, ja, mach mal ruhig«, sagt sie so umgehend und arglos, dass den Worten keine genauen Überlegungen über Pro und Kontra vorausgegangen sein können. Dennoch werden sie von mir fortan als eine verbindliche Zusage interpretiert, die auch vor Gericht und komplettem Familienrat Bestand hätte.
§ 2: Hol die Posaune raus
Ich besitze zwar die unerfreuliche Angewohnheit, nur sehr sparsam zu reden, was die Menge der Beiträge und auch die Lautstärke betrifft, gerate so aber nur höchst selten in Gefahr, erst viel heiße Luft zu produzieren und dann passiert nichts. Ausnahme mögen gelegentlich ausufernde Abende am Brett einer Kaschemme sein, wenn am nächsten Morgen das Erinnerungsvermögen gewisse Parallelen zur Hardcover-Ausgabe von Die kleine Raupe Nimmersatt aufweist und die eine oder andere vollmundige Ankündigung in den ewigen Jagdgründen des Vergessens entschwunden ist.
So mache ich es mir nun also zur Aufgabe, binnen kürzester Zeit in möglichst nüchternem Zustand möglichst vielen Freunden, Bekannten und Angehörigen von meinem Vorhaben zu berichten: »Im Mai fahr’ ich die Friedensfahrt. Auf der Route von 1952, als es erstmals auch durch die DDR ging. 2.000 Kilometer mit dem Rad von Warschau über Berlin nach Prag.« Das ist vor allem eine Anti-Reiserücktrittsversicherung, die ich mit mir selbst abschließe. Ich weiß: Jetzt gibt es kein zurück mehr, ohne das Gesicht zu verlieren.
§ 3: Hör nicht auf die anderen
Die Reaktionen könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. »Oh, nach Prag, da wollte ich auch schon lange wieder hin.« »Mit dem Fahrrad nach Polen? So ein Unfug. Fahr mal lieber nach Pau und durch die Pyrenäen.« »Zwei Wochen nichts als Radfahren? Das ist ja (d)ein Traum.« »2.000 Kilometer? Bist du irre? Denk an den Hintern und die Bandscheibe. Denk an die Gefahren. Denk an die ultimative Schmach, wenn du keinen Tritt mehr tun kannst, die Knochen oder eine Sehne kaputt, und du nur eine Hoffnung hast, wieder nach Hause zu kommen: die Mitgliedschaft im ADAC und die inkludierte Krankenrücktransport-Versicherung.«
In einem Punkt aber sind sich doch alle einig. Die Einschätzungen gipfeln jeweils mit praktisch identischem Wortlaut: »Du und Friedensfahrer? Dass ich nicht lache.« Was dann auch getan wird. Haha. Da muss ich dann doch jedes Mal kurz schlucken.
Ja, ich gestehe: Die Neigung, wildfremde Menschen brüderlich zu umarmen, verspüre ich in der Regel höchstens mal, wenn ein komplett freier Nachmittag, gnädiger Wind, eitel Sonnenschein und richtig gute Beine zusammenkommen. Oder aber ein dreckiger, in der Nachspielzeit herausgeschundener Derby-Sieg des örtlichen Fußballvereins und absolute Fahruntüchtigkeit.
Ich gestehe: Der Gedanke, für eher ferne, abstrakte Sorgen wie den Frieden auf die Straße zu gehen, ist mir mittlerweile fremd geworden. Trotz der zur Adoleszenz mit einiger Verve ausgelebten Barrikadenromantik. Derart fremd sogar, dass ich zum Beispiel monatelang in völliger Verkennung der schönen italienischen Sprache jedes Mal dachte: »Jungs und Mädels, euer Anliegen in allen Ehren, aber lernt doch erst mal Englisch. Oder kauft euch beim Glücksrad noch ein E«. Es war die Zeit, als nach der Bombardierung Bagdads europaweit Regenbogenfahnen mit dem Schriftzug »PACE« wehten.
Freimütig gestehe ich, dass meine grundsätzlich pazifistische Veranlagung eher motorischen Defiziten geschuldet ist. Ich kann einfach keinen hauen. Geht irgendwie nicht. So ist das halt, wenn man zwar Bollen hat wie zwei aufgeschwemmte Robbengeschwisterchen, aber eine Oberarmmuskulatur, die an Kranichkrampfadern erinnert.
Ich gestehe, dass der Besinnungsaufsatz, mit dem man zu meiner Zeit eine Wehrdienstverweigerung begründen musste, eigentlich aus ganzen zwei Sätzen hätte bestehen müssen. Wenn man denn statt ausufernder Betroffenheitsprosa wahre Worte verlangt hätte. Erstens: »Wenn ein schlecht angezogener Furz mit Schnorres meint, den Drill vom Schäferhundeplatz auf heranwachsende Menschen anzuwenden, muss ich stets unweigerlich grinsen, was aber in Ihrer Anstalt vermutlich nur unnötig viel Gebrüll provozieren würde.« Und zweitens: »Wenn Ihnen nur ein wenig am Erhalt der bundesdeutschen Wehrkraft gelegen ist, lassen Sie mich lieber nicht an Ihre MGs und Panzer – meine zwei linken Flossen könnten das Werkzeug sein, das in der Abrüstungsdebatte deutlich schneller klare Fakten schafft, als Ihren Generälen lieb sein dürfte.«
Doch wer weiß? Vielleicht geht die reinigende Wirkung des einsamen Radfahrens im Neuland ja tatsächlich über die reine Selbstkasteiung und Alltagsflucht hinaus, die sich auch mit einer schnellen Feierabendrunde erzielen ließen? Vielleicht finde ich irgendwo auf der Route Warschau–Berlin–Prag zumindest ein wenig inneren Frieden? Vielleicht erweist sich die Fährte der historischen Friedensfahrt ja als idealer Transmissionsriemen, um neben Kilometern im Trainingstagebuch auch mal ein paar Bonuspunkte auf dem Karmakonto gutschreiben zu dürfen? Ja, vielleicht färbt tatsächlich etwas vom offiziellen Geist der großen Friedensfahrt auf mich ab? Ein wenig mehr Offenheit, ein wenig Gelassenheit. Brüderliche Gefühle, die von mächtig pochendem Herzen kommen. Ich glaube, ich würde mich nicht dagegen wehren.
Aber das sage ich natürlich niemandem. Sollen sie ruhig reden. Egal, ob sie mich als Scharlatan verspotten, als Unverdienten Meister des Sports, als Held der Freizeit, als Aktivist Schwarze Luftpumpe, das macht mir alles nichts, mein Entschluss steht fest. Ich werde Friedensfahrer.
§ 4: Hinfort mit moralischem Ballast
Nun bilde ich mir wahrlich nicht ein, es genüge, mir das Logo der legendären Friedensfahrt auf die Brust zu malen, die weiße Taube im Entwurf von Picasso, um mich schwuppdiwupp in eine Jugendweihe-Version des Heiligen Geistes zu verwandeln und den Menschen in mir sehr fremden Ländern die Botschaft von Harmonie und Völkerverständigung auf Palacinky und Bajgiel schmieren zu dürfen. Ich bin kein Missionar. Und in dieser Frage bin ich ganz bei Henryk Broder, der in einer Folge seiner Deutschland-Safari mal einem Volkslauf im Namen des Friedens vorhielt, ein solches Unterfangen sei ja in etwa so effektiv, als würden sich all die Leute in Atemnot wetzen, damit der Rhein fortan stromaufwärts fließe … Eine zeit- und vermutlich ortlose Wahrheit. Eine Erkenntnis, an der auch nicht rütteln kann, wenn es hunderte Amateurrennfahrer von internationaler Herkunft, einigem Talent und oft sogar Weltklasse sind, die Jahr für Jahr über die Grenzen ehedem noch spinnefeinder Lande hinweg um Reifenbreiten und Siegerlorbeer strampeln.
Mit vielen der Losungen, die während meines historischen Vorbilds auf Sichtelementen proklamiert wurden, will ich doch möglichst wenig zu tun haben. Ebenso mit den salbadernden Politikeransprachen, die dereinst aus Ehrenlogen heraus das vermeintliche »Friedenslager« priesen und in einem Atemzug allgemeine Wehrpflichten auf den Kampf der Klassen auszudehnen gedachten. Kurzum: Ich bediene mich schamlos beim Namen Friedensfahrt, als Motto für meine eigene Drei-Länder-Tour, aber der moralische Ballast soll doch gefälligst daheim bleiben. Die Packtaschen dürften auch so schon schwer genug sein. Keine weiße Taube wird mein Trikot zieren. Ich werde Friedensfahrer inkognito.
Und ich werde auch nicht für den guten Zweck in die Pedale treten, wie es in diesen Wochen von diversen Seiten an mich herangetragen wird. Es gäbe da doch eine Menge trefflicher Beispiele, ja, Vorbilder sogar, die ihre sportiven oder radfahrerischen Egotrips erfolgreich zur Benefiz-Tour umgemünzt hätten. Der Vikar, der alljährlich den regionalen Landschaftsmarathon rückwärtslaufend bestreitet und dafür von Handwerkermeistern seiner Gemeinde jeweils große violette Scheine als Kollekte einstreicht, die er an Adveniat weiterleiten kann. Die Schulklassen, die einen ganzen Vormittag lang um den Dorfsportplatz gescheucht werden, weil ein lokaler Honoratior mit zu viel Geld und sadistischer Neigung für jede Stadionrunde im Entengang zwanzig Cent für die überfällige Reparatur der Netzschaukel ausgelobt hat. Die Globusumradler, die von Sponsoren einen halben Euro pro Kilometer erhalten, um nach vollbrachter Tat einen mannshohen Verrechnungsscheck überreichen zu können, an den Repräsentanten von »Energydrinks für die Welt«.
Auch in dieser Hinsicht muss und möchte ich passen. Ich tauge nicht als Fundraiser. Absolut nicht. Ich bin doch Ostwestfale. Bernd, das Möppkenbrot. Und vor allem habe ich einfach bis dato nicht begriffen, warum die, die’s haben, nicht direkt geben. Außer dass es dann nicht in der Zeitung stehen würde. Das sage ich auch ganz offen, und auch an dieser Stelle: Werte Leser, spenden Sie. Geben Sie, was Sie übrig haben. Und gern auch mehr. Still und heimlich. Für gute Zwecke. Für vertrauenswürdige Friedensaktivisten. Oder vielleicht per Banküberweisung auf das Konto mit der Nummer 381133850 bei der Salzlandsparkasse. Dann landet das Geld beim Friedensfahrt-Museum in Kleinmühlingen. Dazu gleich mehr.
§ 5: Ein guter Planer ist Minimalist
Kurz lasse ich mich in den Bann der Vernunft schlagen, füge mich dem wiederholt vernommenen Glaubenssatz, dass bei einem solchen Unterfangen eine perfekte Vorbereitung schon mehr sei als die halbe Miete. Ich bestelle also fleißig Ratgeber-Literatur zum Thema und konsultiere einschlägige internationale Internet-Foren. Das aber kuriert mich rasch von der Vorstellung, ich gehörte zu deren doch eher extremistisch definierten Zielgruppen.
Ich bin einerseits kein blutiger Anfänger, dem man noch seitenweise erklären müsste, was zu tun ist, wenn ein Reifen sich plötzlich entleert. Andererseits möchte ich doch lediglich durch zwei direkte Nachbarländer fahren. Und so fühle ich mich von der Web-Intelligentia des Fernradler-Metiers in etwa so überberaten wie der angehende Ein-Mal-mit-den-Kids-im-Garten-zelten-Papi von den siebenhundert Seiten des aktuellen Globetrotter-Katalogs. Beizeiten droht gar Schüttellähmung im Mausfinger, weil sich weist, dass viele der mitteilsamsten Foren-Aktivisten selbst für Fahrten zum Bäcker mit Missionarseifer zu der identischen Ausstattung im Wert der Karlsbrücke raten, mit der sie soeben ein Transib-Abenteuer knapp, aber glücklich überstanden haben.
Die Buchdeckel klappen also zu. Und ich klicke auch in dem Fernradler-Forum, das mit Abstand die meisten augenöffnenden Erfahrungs-Nuggets bereithält, endgültig auf den »Schließen«-Button, nachdem ich dort einmal das Thema »Gesund & Ernährung« aufgerufen habe. Denn die zehn ersten Threads, sie lauten in Originalorthographie:
Herzinfarkt, 3 Jahre danach
Beschwerden im Gesäßbereich
Kompresionsstrümpfe bei Krampfadern
Diabetes und der Energieriegel
Übung zum schmerzenden Rückenmuskel
heut ists passiert - Wespe am Helm verfangen
Schlafstörungen bei Radreisen
Kriechen Schlangen in Schlafsäcke?
Lippenverbrand durch Sonne
Meniskusriss: Nie wieder Radfahren?
Nein, die Vorbereitung soll dazu da sein, meine Lust und Vorfreude zu steigern. Sie soll mir keine Angst machen, sondern Ängste nehmen. Und so verlasse ich mich bei der Zusammenstellung des Materials lieber fortan einfach auf das, was ich für gesunden Menschenverstand und glaubwürdige Amazon-Bewertungen halte. Das spart Zeit und schürt keine Phobien.
Und wenn es sich rächen sollte? Halb so wild. Ich habe ja nicht vor, die Zivilisation zu verlassen, und die EC-Karte steht schon auf der Packliste.
§ 6: Finde einen guten Freund
Die Aussicht, die Friedensfahrt-Route, wie der Heizstrahler sich das für mich ausgemalt hatte, mit dem bewährten Plasteschwein nachzufahren, ist rasch getrübt. Dem Rennrad aus Kohlefaserverbundwerkstoff, das seit Jahren mit der Familienkarosse um die meisten gefahrenen Monatskilometer konkurriert und oft genug gewinnt, fehlen die Ösen, um die ratsamen Schutzbleche und einen Gepäckträger montieren zu können.
Grundsätzlich aber ist die Geometrie des Rennrads meinen Gelenken und Lenden so sehr vertraut, dass kein anderer Fahrradtyp mir annähernd vergleichbare Hoffnung bieten könnte, auf so langer Strecke von akutem Bedarf an Osteopathen und Kniespezialisten verschont zu bleiben. Ich sitze vor allem auf ausgedehnter Tour gern »dezent gestreckt«, wie der Jargon der Szene das nennt. Auf Modellen, die in den Tests der Fachmagazine auf der Skala »rennmäßig – sportlich – komfortabel« eher als Sofa denn als Folterinstrument eingestuft werden. Und ich schätze die vielen Griffmöglichkeiten, die ein Rennradlenker bietet.
So reift der Gedanke, ob nicht ein Rennrad für den Querfeldein-Einsatz, eine Cyclocross-Maschine, die Lösung sein könnte. Da versprechen Gabel und Hinterbau etwas mehr Freiheit für geländegängige Reifen. Es gibt gemeinhin ein paar Anlötösen mehr. Und der Abstand zwischen Vorder- und Hinterrad fällt ebenso wie jener vom Tretlager zum Boden etwas geräumiger aus, für die Fahrt über Stock und Stein, wie sie mir bisweilen kaum erspart bleiben wird.
Ein kleiner E-Mail-Verkehr ergibt, dass man in Hamburg so etwas baut. Stevens verspricht ein Testrad nach meinen Vorstellungen. Und bald weist sich, dass das Geschäftsmodell des ElitePartner-Gewerbes tatsächlich sehr gut funktioniert, wenn es »nur« darum geht, dauerhafte Beziehungen zwischen Mensch und Maschine anzubahnen. Ich muss lediglich ein paar Maße nennen, die Rahmenhöhe, die Dimensionen des Vorbaus – jaha, auch die! – oder die bevorzugte Bandbreite der Übersetzungen, und kurz darauf habe ich schon das erste Date mit dem Traumrad für mein privates Warschau–Berlin–Prag. Bezaubernd ist es, gleich auf den ersten Blick sympathisch, schlank wie erhofft, trotz der ungewohnten Gepäckträger, die das Heck kaschieren, und noch dazu in den Farben meines Lieblingsvereins lackiert. Perfekt. Ich kann es gar nicht abwarten, es auf Jungfernfahrt auszuführen. Das Kopfsteinpflaster des nahen Truppenübungsplatzes mimt gefürchtete Ortsdurchfahrten im ländlichen Polen, Abschnitte des Rundwanderwegs um die Stadt persiflieren jene Passagen der anstehenden Tour, in denen Radwegweiser vergessen, dass auch Rennradfahrer ihnen folgen könnten.
Auf jedem Terrain – auf Asphalt mit der Oberflächenstruktur von Babypopos, auf Schotter und Knüppelpflaster – weist sich sofort, dass hier zusammen-gefunden hat, was zusammengehört. Was als Vernunftehe gedacht war, wird gleich die große Liebe. Ein Freund, ein guter Freund, er ist zu Diensten … und braucht nur noch einen Namen.
§ 7: Navigiere analog
Ich bin auf selektive Weise altmodisch und gern von gestern. Navigations-geräte beispielsweise gehören zu den Dingen, die mir bisher nicht ins Auto kamen. Und auch nicht an Lenker und Vorbauten meiner Räder. Da ist es inzwischen eh schon gerammelt voll, um für die Fernfahrt eine Klingel und Beleuchtung unterzubringen, dazu eine regendichte Tasche für Utensilien, die schnell zu Händen sein sollen. Und Letztere müssen ja auch noch irgendwo zupacken können.
Was mich am meisten zürnen lässt über die befehlsgebende Variante der GPS-Technik für den privaten, unmilitärischen Gebrauch: Es ist merklich gefährlicher geworden auf deutschen Straßen, seit sie zur Grundausstattung von Neuwagen gehört oder sich zum Preis einer Sattelstütze nachrüsten lässt. Bisweilen muss man schon das Gefühl haben, dass ein Navi an Bord von jeglichen Gutgeistern und Sorgfaltspflichten befreit. Nicht wenige schalten unter dem Einfluss der Computeransagen auf Autopilot, was nicht gut ist, wenn es sich doch lohnt, auch die Augen aufzubehalten. Sagt die freundliche Dame: »In hundertfünfzig Metern biegen Sie bitte links ab«, dann wird auch nach hundertfünfzig Metern links abgebogen. Egal, ob die erwartete Brücke über den Fluss nur ein Fähranleger a.D. ist. Oder ob gerade ein Radfahrer entgegenkommt.
Ich für meinen Teil möchte nicht fahren, wie ein Computer es befiehlt. Schon gar nicht auf dieser Tour. Ich möchte mich selbst zurechtfinden, mich ruhig auch mal verfahren. Denn ginge es mir um den direkten Weg, könnte ich ja auch einfach in ein paar Tagen von Warschau nach Prag radeln. Will ich aber nicht.
Wenn mich auf meiner Friedensfahrt also Gerätschaft aus dem Hause Garmin begleitet, dann höchstens die GPS-Uhr am Handgelenk, wo noch genug Platz ist. Der Weihnachtsmann brachte mir das klobige Teil, damit ich auch im winterlichen Asyl im Lager der Jogger einen Tacho habe und eine integrierte Kompassfunktion. Letztere könnte sich auch auf der anstehenden Expedition als zweckdienlich erweisen, als eine Art Ariadnefaden, sollte ich mich mal im Labyrinth schlesischer Wirtschaftswege knossosmäßig verfransen.
Die Karte in ihrer analogen Form, sie ist mir seit Kindertagen eine echte Leidenschaft, und ich bete, bei allem, was mir heilig ist – bei Coppi und Freiherr von Drais –, dass sie die digitale Revolution unbeschadet überdauern wird. Ich höre sie gern knistern, wenn ich sie zur Hand nehme und zurechtfalte, ich mag es sogar, wenn draußen im Wind sie sich bockig wölbt, ich kann endlos in ihr lesen, um Terra incognita zu erahnen und durchstreifte Landschaften zu erinnern. Und das kann ich auch vor und während meiner Friedensfahrt, denn für die ausgesuchte Route gibt es noch gedruckte Straßenkarten in Hülle, Fülle und passenden Maßstäben.
Doch in der Vorbereitung muss ich mir erlauben, was ich im Allgemeinen als einen Frevel empfände, der rabiat entweiht. Fast so, als würde der Philatelist seine druckfrischen Marken rückseitig abschlecken, damit sie nicht mehr wild in den Alben herumpurzeln. Aus Gründen der Gewichtsersparnis packt die Schere entschlossen zu, und halbe Woiwodschaften, wie der Pole seine Bundesländer nennt, landen im Mülleimer. Kunterbunt kritzele ich sodann auf dem herum, was Vermessungstechnik und Kartografen aus der faktischen Erdkruste machten. Mit Textmarker in Neongelb und -grün hebe ich die Etappenstädte von einst und die bedeutenderen Orte hervor, die Zwischensprints oder Verpflegungskontrollen sahen, mit dem Bleistift kringele ich die weiteren Gemeinden entlang des Parcours ein, die in Berichten von der Friedensfahrt 1952 Erwähnung fanden. Nur als Anhaltspunkte, denn so viel ist nach erstem Kartenstudium gewiss: Meine genaue Route werde ich spontan nach Laune und Ortsbeschau bestimmen müssen. Weite Passagen der Originalstrecke scheinen in der Zwischenzeit allein nach den Ansprüchen eiliger Kraftfahrer ausgebaut oder gleich Autobahnen gewichen.
Das eigenhändige Gekrakel mit dem Textmarker auf heiligem Blattspiegel. Was im kartentechnisch zweigeteilten Polen lediglich nicht hübsch anzusehen ist, gerät im östlichen Erzgebirge ob der unerwartet gänzlich anderen Kaschierung zur Katastrophe. Meine halbe Lausitz strahlt wie Plutonium.
§ 8: Such dir Idole, aber halte dich fern von Führern
Dies wird keine Wallradfahrt. Ich suche im Soloabenteuer und auch bei zweifellos nachlassenden Körper- und Verstandeskräften keinen Kontakt zu über-natürlichen Mächten. Doch in einer Hinsicht werde ich doch Pilger sein auf meiner Friedensfahrt. Ich folge historischer Route, die schon vor langer Zeit festgelegt wurde. Und die sich vermutlich nicht darum kümmert, in angemessener Frequenz ständig Sehenswürdigkeit zu tangieren. Reiseführer brauche ich also nicht, Reiseführer will ich nicht. Solcherlei Bücher würden mich doch immer nur verführen wollen, zu Dingen noch dazu, die ich eh nicht zu Gesicht bekommen werde.
Und dennoch dominiert Lektüre meine Vorbereitung. Ich lese alles, was ich in die Finger bekomme. Alles, was die Antiquare in den Regalen haben und zu vertretbaren Kursen abzugeben bereit sind. Alles über die historische Friedensfahrt. Chroniken, Biografien und Bildbände. Zeitungsschnipsel und Originaldokumente. Sperrige Rennreportagen, die karge Ergebnisberichterstattung und lyrischen Staatskundeunterricht verquicken. Anthologien mit Prosa-stücken, Anekdoten und Fahrertagebüchern. Zeitgenössische Trainingsratgeber. Holzschnittartiges aus Knabes Jugendbücherei, ausgelobt als Prämie für Kopfnotenbeste, wie die Vorsatzseite meines Exemplars verrät: »Als Anerkennung für gute Pionierarbeit im 2. Durchgang des Betriebsferienlagers der VEB-Bau Union. Gezeichnet: Freundschaftsratvorsitzender Hans-Joachim M.« Neben dem Lokus, auf dem Nachttisch, im Arbeitszimmer verstreut – überall liegen in diesen Wochen Friedensfahrt-Bücher und -papiere. Ich will mich hineinlesen und -fühlen in die Radfernfahrt, die ich auf meine Weise wiederbeleben möchte. Ich bin auf der Suche nach Motivation, nach Anknüpfungspunkten, nach Vorbildern. Und die finde ich auch in den vielen Lesestunden.
Tarek Aboul Zahab. Auch er einer, der die Friedensfahrt ganz allein in Angriff nahm. Amateurradsportler aus Vorderasien und nicht durch den Umstand zu erschüttern, dass der Verband seines Landes gar nicht daran dachte, eine Auswahl zur Friedensfahrt zu entsenden. So bewarb er sich einfach schriftlich bei den Organisatoren: »Hallo, ich bin der Straßenmeister des Libanon« – und durfte dann 1962 tatsächlich mit Sondererlaubnis mitrollen. Als Einzelstarter, der auch dank komödiantischer Talente zum Liebling des Publikums aufstieg. Tarek the Eagle. Es muss Zahab so viel Spaß gemacht haben, dass er wiederkehrte, 1964 dann sogar als Kapitän des Teams »Drei Kontinente«, zu dem auch ein Australier und vier Skandinavier gehörten. Und als dessen Mannschafts-leiter jener Ian Steel wirkte, der die Friedensfahrt 1952 gewann, deren Parcours ich hinterherpilgern möchte. Genau so hübsch möge sich auch auf meiner Tour alles fügen. Hoffe ich.
Emil Reinecke. Ein Wessi auf Friedensfahrt, genau wie ich das vorhabe. Und auch ein Musterbeispiel für die ganz pragmatische Überwindung von Systemgrenzen. 1954 waren die Oberen des DDR-Radsports sichtlich verschnupft über das Abschneiden ihrer Auswahl, und so lud Verbandspräsident Werner Scharch auch Talente aus der Bundesrepublik zum Vorbereitungslehrgang für die nächste Friedensfahrt, darunter ein Amateur aus dem niedersächsischen Einbeck. Eben jener Emil Reinecke. Und der packte die Chance kurzentschlossen am Schopf. Enttäuscht, dass der erhoffte Profivertrag im Westen trotz aller Siege und Ehrenplätze ausblieb, finanziell in der Bredouille, weil neben der ganzen Kilometerfresserei im Sattel keine Zeit mehr blieb für einen auskömmlichen Beruf. Die Sorgen hatte er nun nicht mehr: In Diensten der Deutschen Hochschule für Körperkultur zu Leipzig waren ihm ideale Trainingsbedingungen gewiss, 1.000 Ostmark gab es als Grundgehalt, dazu freie Kost und Logis, und 400 Westmark, die er den Eltern schicken konnte. Auch Besuche daheim waren immer möglich, die Mauer stand ja noch nicht. Klettern musste Reinecke nur auf das Podium. Seite an Seite mit Täve Schur, der die Einzelwertung gewann, hatte er die Mannschaft auf Platz zwei geführt. Aus den Händen von Walter Ullbricht erhielt er dafür die Ehrung als »Meister des Sports«. Und dennoch ging er nach einer Saison in Leipzig zurück in den Westen, wurde Profi, denn nun mangelte es nicht mehr an Angeboten. Er wurde eine feste Größe in der Nationalmannschaft des BDR, bei der Tour de France und auch bei der Rad-WM 1960 am Sachsenring. Dass die DDR ihm den Meistertitel h.c. wieder aberkannte und ihn in den Staatsorganen noch lange als »Republikflüchtling« brandmarken ließ, tangierte ihn wenig.
Genau in jenem Mai, in dem ich ihm nachzueifern gedenke, wird die Nachricht vom Tode Emil Reineckes bekanntwerden, doch vorher fand er noch Gelegenheit, dem Autor Peter Zetzsche zu erzählen, wie unkompliziert das Intermezzo im Osten letztlich über die Bühne und zu Ende ging. Werner Scharch habe sich persönlich an die Schweizer Grenze bemüht, um noch ausstehende Gelder zu überreichen und gegenseitige Verzichtserklärungen zu unterzeichnen. »Beim Abschied klopfte mir Scharch auf die Schulter und sagte: Du hast es richtig gemacht.« Genauso soll auch mein Fazit lauten. Genauso reibungslos möchte auch ich im Zwei-Wege-Verkehr »rübermachen«, auf dem Weg nach Warschau in den Friedensfahrer-Modus schalten und zwei Wochen später mit dem Nachtzug von Prag nach Bielefeld ins alte Leben zurückkehren.
§ 9: Was Seele hat, braucht auch einen Namen
Und noch etwas entnehme ich den Büchern. Den passenden Namen für das Rad, das mit soll auf meine Friedensfahrt. Fündig werde ich in einem reizenden Kinderbuch-Klassiker von Günter Saalmann. Es geht um eine Kleine Friedensfahrt, wie sie in der DDR bald überall stattfanden, damit die Jugend den Idolen in ertüchtigender Weise nacheifern konnte, mal als Geschicklichkeits-Übung auf einem Hindernis-Parcours im Sportpark, mal als klassisches Massenstartrennen drei Mal um den Pudding oder ein Mal ums Dorf. Vor dieser Kulisse entspinnt sich ein kindgerechtes Romeo und Julia, in dessen Verlauf der junge Achim und seine Klassenkameradin Anne sich von den Zwistigkeiten ihrer Erziehungsberechtigten partout nicht vereinnahmen lassen. Von einem Streit, der gesellschaftliche Sprengkraft symbolisiert, zwischen dem stets überkorrekten Vorsitzenden der örtlichen LPG und Oma Triebsch, die kärglich ihr Dasein fristet in der Kate am Waldrand und der verordneten Planerfüllung wacker Kontra gibt, aufmüpfig und bauernschlau. Und es geht um einen Esel, der schon auf der allerersten Seite mächtig Zorn auf sich zieht. »Mistvieh! Verfluchtes«, herrscht ihn Achims Herr Papa in vermeintlicher Sorge um die volkseigene Klee-Ernte an. Doch mit all den ulkigen Verwicklungen, für die er sorgt, entpuppt sich der »Satansbraten!« bald als wahrer Held der Geschichte. »Legohr« wird er nur gerufen im fiktiven Dorf Winkeln, und genauso will ich fortan auch den »Lastenesel« nennen, der mich und all das schwere Gepäck von Warschau nach Prag tragen soll. In der Hoffnung, damit nicht mutwillig alle Störrigkeit der Welt heraufzubeschwören.
§ 10: Lass dich inspirieren
Ich fiebere dem Start entgegen. Ich habe richtig Lust auf meine Friedensfahrt. Doch es nagen auch Zweifel. Ist dieses Rennen nicht tot? Unwiderruflich? Eigentlich schon seit der Wende? Spätestens seit 2007, als sich keiner mehr fand, das Budget zu sichern? Und lohnt es tatsächlich, da etwas reanimieren zu wollen? Das Feuer für die Friedensfahrt, noch will es sich nicht recht in mir entzünden. Und so entschließe ich mich, mir noch mal externe Starthilfe geben zu lassen. Mich anstecken zu lassen, zu Besuch bei denen, über die man sagt, sie würden dieses Rennen noch immer so feuereifrig lieben wie keine Dritten.
Die Fahrt führt mich in die Magdeburger Börde. Schlagartig schaurig ist das Wetter, nachdem in den Wochen zuvor der Sommer schon mit Macht angeklopft hat. Der Wind aus Westen peitscht den Niesel übers platte Land, dass ich es mit der Angst bekomme, dies sei nur der Vorgeschmack auf das, was mich im Mai erwarten wird, wenn kein Faradayscher Käfig mit Klimaanlage mich gegen vierzehn Tage Regenwetter feien kann. Diverse Autobahnbrücken sind gesperrt für leere Lastwagen und Anhänger, die Elbe hat mehr Brandung als an normalen Tagen die Ostsee.
Heyrothsberge ist erreicht. Eine Kopfsteinpflasterstraße führt mich zu dem Haus, das ich suche. Nicht allzu arg rumpelt es unterm Unterboden, bei Paris–Roubaix wären es vielleicht zwei von fünf möglichen Sternen auf der Pavé-Härtegradskala. Eine Sackgasse. Hier wohnt er also. Gustav-Adolf Schur. Genosse Täve. Uns Täve? Euch Täve? Der beliebteste Sportler der DDR, wie Publikumswahlen noch nach der Wende ergaben. Der Mann, dessen erster Einzelsieg bei der Friedensfahrt, im Mai 1955, für viele in der DDR das war, was im Sommer zuvor die Brüder und Schwestern im Westen als das »Wunder von Bern« erlebt hatten. Ein Akt der Befreiung, ein aufrechtes Lebenszeichen, ein kollektives Aufatmen: »Wir sind ja doch wer!«
Für viele ist er auch heute noch immer das Idol, wie seesackweise Gratula-tionspost belegt, vornehmlich von Absendern weiblichen Geschlechts, die zum unlängst begangenen Geburtstag eintrafen. Achtzig ist er geworden. Was nicht in allen deutschen Zeitungen nur in besinnlichen Tönen vermeldet wurde. Denn für viele andere ist er auch das: fast so etwas wie eine Art Stalin-Skulptur, die man vergessen habe abzureißen, ein Fossil eines vom Zeitenlauf überholten, schon lange aus Tür und rostigen Angeln gefallenen Regimes. Ein Stahlbetonkopf sei er, unverbesserlich, immer noch von der Überlegenheit des Sozialismus der Apparatschiks beseelt, einfach nicht lernfähig, ein Leierkasten, der ewig und drei Tage dieselbe aus der Zeit gefallene Platte abspiele, so als müsste man Frank Schöbel oder Das Lied der Partei in der Endlosschleife hören. »Als Radsportler war er klasse, aber als Volkskammer-Abgeordneter ein Schleimer«, brachte mal ein namenlos in der Wochenzeitung Die Zeit zitierter Ex-Fan den Zwiespalt in der öffentlichen Wahrnehmung des Gustav-Adolf Schur auf den Punkt. Da bin ich ja mal gespannt.
Aber nicht lange. Ich komme nicht mal dazu, den Klingelknopf zu drücken, da geht auch schon die Tür auf. »Komm rein, Kämpfer. Mann, pass auf, hau dir nicht die Birne ein. Junge, du bist aber auch so’n Langer! Komm durch, gleich in die gute Stube, erst mal Kaffee und Kuchen«, sprudelt es aus ihm mit atemberaubender Herzlichkeit, dann wendet er sich in Richtung Küche: »Mutti?«
Das soll die Tarnkappe des Kommunismus sein? Der Kumpeltyp und Frauenschwarm, der mit einnehmendem Schalk und Lächeln der Einheits-partei ein nettes Gesicht verleihen sollte? Wenn, dann beherrscht er die Rolle fraglos noch immer mit einer natürlichen Gabe, die ansteckt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir das »Du« für einen Mann, der doppelt so alt ist wie ich, so leicht über die Lippen kam.
»Mutti«, seine hunderttausendfach um diese Rolle beneidete Gattin Renate, drückt mich warm zur Begrüßung und serviert den Kaffee, in ganz reizender Art. Die Tassen sind extra vorgeheizt. »Sonst schmeckt das doch nicht … oder? Soll doch schmecken, der Bohnenkaffee«. Willkommener könnte ich mich kaum fühlen. Auch weil Ehemann Täve gewillt ist, alle Reserviertheit, alle Distanzen von Alter, Herkunft und Sozialisation im plaudernden Handstreich niederzureißen. »Hey, guck an, du hast ja genau den gleichen Pulli an wie ich. … Ach, du kommst auch gerade von da unten zurück? Und auch verschnupft? Mann, diesmal hab’ ich mir aber so richtig die mallorquinische Rüsselseuche abgeholt. Ich will dir sagen, mein Lieber. Scheibenkleister! Bleibt ja nicht aus. Wenn du da in der Gruppe fährst und einer hustet die Bazillen durch die Luft … Komm lass’ dir schmecken, hau rein … Und das kleine Ding da, das soll ein Kassettenrekorder sein? Mensch, wiegt ja gar nix. Wahnsinn, was es heute alles so gibt. Früher kamen die alle hier mit sooooolchen Ballermännern an, wenn die ein Interview wollten.«
Interview? Wer sagte etwas von einem Interview? Das Lebensfazit des Jubilars, die politische Gesinnung des Täve Schur, die interessieren mich im Moment nicht allzu sehr. Nicht hier, nicht jetzt. Ich will den Rennfahrer Schur, den jungen undomestizierten Burschen mit der »Ausdauer-Potenz« und der »Bisswütigkeit im Wettkampf«, wie er selbst das ausdrückt, den Täve mit der kecken Tolle, der noch mal zetert, leidet, jubiliert – und »Scheibenkleister!« sagt. Ich will, dass etwas überspringt auf mich von seiner Begeisterung für dieses Rennen. Ich will die kleinen Begebenheiten am Rande, die nicht in den Büchern stehen, aber vielleicht mehr über den Geist der Friedensfahrt aussagen als alle gesammelten Rennberichte.
Das freut ihn. Sichtlich. »Mann, Junge, was du alles wissen willst. Das hat ja noch nie einer gefragt …« Und so kommt er ins Erzählen, gern auch mal von Höcksken auf Stöcksken und weiter zum dereinst als Siegprämie verdienten Wohnzimmerschmuck, aber immer beseelt von Feuer, das im Moment des Erinnerns sich entzündet.
Er erzählt von Rennmaschinen mit bockiger Reibungsschaltung und von den Westkontakten eines Teamkollegen zu den Bauer-Werken im hessischen Klein-Auheim. Über Sondierungslager in Bollmannsruh und die Brüder daheim, wie sie staunten über den in Berlin frisch eingekleideten Täve, im Delegationsanzug für die Friedensfahrt. Über den Irrsinnsrespekt vorm ersten Mal. Über polnische Straßen aus Backstein und ihre gefährlichen »Klunkerstellen«. Über die Angewohnheit, sich jedes Mal direkt auf der Ziellinie die Pedalriemen zu lösen. Über Duschzelte in Tabor, über Abendmahlzeremonien und Evidenznummern. Über ein graviertes Silberbesteck und ob es der Sohn, dem er es vermacht hat, wohl auch in Ehren hält. Über eine Jagdwaffe aus Suhl, ausgelobt für den Tagesbesten, und wie er als Etappendritter trotzdem an die begehrte »Mußspritze« kam. Über psychologische Kriegsführung beim Ritt auf der Kante mit dem Polen Krolak, diesem »Bullen von Kerl«. Über sein Fazit nach der ersten Friedensfahrt – »Das Scheißding fahr ich nicht wieder. So eine Schinderei!« – und warum er es schon Tage später gar nicht abwarten konnte, wieder los zu kommen. Über die unvergessene »Derailleur kapütt – eh – Derailleur kapütt«-Elegie des befreundeten Belgiers Ruwet und über das unverhoffte Wiedersehen auf einem Bürgersteig in dessen Heimat, als sich die DDR-Mannschaft vor einem Rundstreckenrennen in Aachen zu einer spontanen visapflichtverletzenden Trainingsrunde überreden ließ. »Es war eine große Verbrüderung.«
Eine Stunde später kurve ich im Regen durch eine Kleinstadt an der Saalemündung, vorbei an Kiesgruben, die offenbar »Monplaisir« heißen, und am »Beach Center Barby«, an »A.C.A.B.«- und »FCM Hools«-Graffiti, am verwaisten Armee-Shop und am durchaus malerischen Marktplatz, dessen Gesamteindruck etwas darunter leidet, dass sich für die gegenüberliegende Straßenfront kein Investor mehr finden will. Ich bin auf der Suche nach einer gewissen Spittelbreite und nach Horst Schäfer, mit dem ich hier verabredet bin.
Dort, ja, das könnte es vielleicht sein. Zwischen Bulli und Garagenwand duckt sich eine kleine Versammlung vor dem scharfen Wind. »Horst Schäfer?«, sagt einer: »Na, da!«
Und tatsächlich, da wuselt er, ein kompakter Wirbelwind, auch er von einer ansteckenden Prachtheiterkeit getrieben, befestigt gerade ein Banner mit Friedensfahrt-Logo, organisiert auf die Schnelle, dass sich ein Anwohner bereit-erklärt, die Boxen seiner Musikanlage ins Fenster zur Straße zu stellen. Dann sitzen wir schon wieder im Auto zurück zum Marktplatz, und auch er erzählt. Wie er die Tradition der Kleinen Friedensfahrt am Leben hält, in vielen Gemeinden im Bördeland. Über die Kooperation mit den Schulen vor Ort. Über die Unterstützung lokaler Gewerbetreibender wie der Apothekerin am Markt, von der wir gerade die gestifteten Preise abholen. Von den argen Zweifeln aber auch, ob heute überhaupt ein Kind kommen mag. Der Regen wird immer galliger.
Wir halten plötzlich an, grundlos wie es scheint, und Horst Schäfer kurbelt die Scheibe runter: »Hey, Junge, wo haste dein Fahrrad?« Derlei Direktheit nicht gewohnt, verkrieche ich mich instinktiv etwas tiefer im Beifahrersitz. Denn zu Hause in Ostwestfalen, da müsste man nun wohl befürchten, gleich von einer Bürgerwehr gejagt zu werden, die jeden vermöbelt, der aus dem Auto heraus fremde Kinder anspricht.
Zurück in der Spittelbreite erleichtertes Aufatmen. Sie kommen. Die Kinder von Barby. Nicht so viele wie ursprünglich erhofft oder sonst. Aber immerhin, erst zwei, drei trudeln ein, letztlich vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig. Schrei-ben sich ein, hängen sich Startnummernleibchen um, befestigen leihweise zur Verfügung gestellte Riemenhelme über den Kapuzen, warten, bis die Lokalpresse da ist und auch der Bürgermeister, der mit der Startflagge winkt, treten wild in die Pedale, ein paar Mal um den Block. Ganz wie die Großen. Das Führungsfahrzeug vom Sportbund vorweg, die Sanis hinterher. Und mittendrin Kinderzungen, die sich energisch in den Winkel von Mündern klemmen, die vor Sauerstoffschuld weit aufgerissen sind.
Dabei hatte Horst Schäfer doch vorher explizit, wenn auch augenzwinkernd zu Zurückhaltung gemahnt angesichts der vom Regen seifigen Straße. »Hört zu. Fahrt um die Wette. Aber wir machen heute nicht Erster, Zweiter, Dritter.« Im Ziel wird gelacht und gescherzt. Alles ist gut gegangen. Alle, die mitgefahren sind, die tapfer dem Mistwetter getrotzt haben, bekommen ein T-Shirt mit der Taube. Alle Kinder drängen sich auf dem Podium zusammen. Und aus den Boxen der Anwohner erklingt zum dreißigsten Mal zackig die Friedensfahrt-Hymne. Großer Sport!
Kleine Friedensfahrer, großer Sport in Barby: Startvorbereitung für die Jüngsten ... und von der Fensterbank der Anwohner erschallt schon zum neunten Mal die legendäre Hymne.
Den hat auch das unscheinbare Kleinmühlingen archiviert, das wir im Konvoi ansteuern. Seit 2005 ist hier im Niemandsland zwischen Calbe und Magdeburg, just in der Zeit, in der die Internationale Friedensfahrt ihrer Schwindsucht erlag, auf rastloses Betreiben von Horst Schäfer hin mit hunderten helfenden Händen ein Museum entstanden. Der Schrein des Course de la Paix. Ein Treffpunkt, der Menschen zusammenführen soll, wie der Macher betont. Abends wird der örtliche Radballverein im Saal tagen. Und Schäfers Gattin lässt im Nebensatz fallen: »Ach, da hat eben der Dings angerufen. Am 1. Mai, da kommen jetzt wohl siebzig Leute mehr.« »Naja«, erklärt ihr Mann, »dann haben wir halt zweihundert Gäste zum Frühstück.«
Während eine Mitarbeiterin des Museums in all den Bergen aus Unterlagen und Dokumenten für mich nach einem Plan der Auftaktetappe von 1952 fahndet, mit der nimmermüden Ausdauer, die diesen Ort ausmacht, lasse ich mir die Ausstellungsstücke zeigen. Olaf Ludwigs Zeitfahrrad mit der bestialischen Extremstposition, bei der mir allein vom Hinsehen der Ischiasnerv zwickt, der Lenker direkt auf der Gabelkrone montiert. Das Wandgemälde, signiert von zahlreichen, zum Teil weit gereisten Friedensfahrt-Siegern. Das Ergometer aus der Sportschule, auf dem sich früher ein Jan Ullrich schinden musste. Pokale. Original-Trikots. Ehrengaben. Präsente. Ein Sack mit handschriftlichen Glückwünschen für Täve Schur. Exponate, die Geschichten erzählen, ganz private Geschichten oft, von Menschen und ihrer Beziehung zu diesem Rennen. Zahlreiche Friedensfahrt-Alben und -Collagen, mit viel Liebe in aufwändiger Kinderhändearbeit erstellt. Das Tuch, ausgegeben nur an Rennteilnehmer, das eine Frau einst von ihrem Jugendfreund bekam und Jahrzehnte später, nach dem Tod ihres Mannes, wieder herausgekramt hat, um es dem Museum zu vermachen.
Und dann, bei Kartoffelsalat und Bockwürstchen, während auf der großen Leinwand im Erdgeschoss ein MDR-Zusammenschnitt von Zielankünften läuft und die Schäfers binnen zwei Sekunden jeweils Ort und Jahr erkannt haben, ganz begeistert »Cottbus – neunundneunzig« rufen, da dämmert es mir. Worum es wirklich geht und vielleicht noch gehen kann bei der Friedensfahrt. Um die echten, nicht um die symbolischen Händedrücke. Um ganz profane Momente der Völkerverständigung, für die dieses Rennen den Rahmen und den Anlass bot. Kleine Gesten oft nur, aber Gesten, die unvergessen bleiben und einen Menschen prägen.
Ob Täve Schur, der plötzlich tränennah erzählt, wie er vor ein paar Jahren einen Kirchberg in Tschechien hochsteigen will, mit einem Blumengebinde, denn es ist die Beerdigung von Jan Veselý, dem Freund und Rivalen von der Friedensfahrt. »Auf der anderen Straßenseite steigt plötzlich einer aus, das Gesicht kannte ich von früher. Einer der Motorradfahrer, der immer bei den Tschechen dabei war. Ich bin ja so’n Mensch, ich grüße zuerst, aber mit dem war damals echt nicht gut Kirschen essen. So’n kleiner Abgebrochener war das, so ein richtig knurriger Hund. Der hat mich immer grimmig angeschaut. Aus dem wurde man nicht schlau. Der hatte sicherlich zu Kriegszeiten schlimme Dinge erlebt. Aber jetzt, wo er mich sieht, geht er über die Straße, kommt auf mich zu, gibt mir die Hand. Da war ich platt. Wir haben nicht ein Wort gesprochen, aber das war seine Art zu sagen: Donnerwetter … der Schur kommt hier her, um unseren Mann zu ehren.«
Ob Horst Schäfer, der noch immer mit Leuchtfeuer in den Pupillen erzählen kann, wie er als kleiner Bub an den Streckenrand geeilt ist, um Tarek Aboul Zahab zu sehen, den libanesischen Einzelstarter. »Ich hatte mir vorher extra die Startnummer rausgeschrieben. Und ich hab’ ihn gesehen. Das war das Größte …« Horst Schäfer, der sich unbändig freut, wenn es wieder gelungen ist, Menschen in seinem Museum zusammenzubringen. Über Grenzen hinweg und über Mauern in den Köpfen. Den Vollblutsozialisten Täve Schur und den »Republikflüchtling« Emil Reinecke. Oder Sandy Gilchrist und Holger Trenck: den Engländer, der 1972 kurz vorm Ziel in Magdeburg von einer Panne ausgebremst wurde, und den Jungen aus Täves Dorf, damals amtierender Sieger der Kleinen Friedensfahrt in Biederitz, der zufällig vor Ort war und ihm spontan sein Rad gab. In Kleinmühlingen trifft man sich wieder – und ist gleich wieder mittendrin, in kostbarsten, unvergesslichsten Augenblicken eines Lebens.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Ein wenig praktizierte Völkerverständigung, das werde doch auch ich hinkriegen, in den zwei Wochen. Zur Not markiere ich halt eine Reifenpanne kurz vorm Ziel. Doch dann zieht eine dunkle Wolke auf. Mir fällt ein: Die Verständigung, sie könnte recht schwer fallen, auf zwei Dritteln der Strecke. Die kleinen Sprachführer für Polen und Tschechien, die ich mir zugelegt habe, sie sind praktisch noch unbenutzt, gleich nach den ersten verzweifelten Ausspracheversuchen beinahe panisch wieder zur Seite geschoben. Als Bücher mit sieben Siegeln und ebenso vielen Zischlauten am Stück.
Ich befürchte, ich werde vornehmlich auf die »Mußspritzen« unter den Verständigungsoptionen zurückgreifen müssen. Auf eine Mischung aus Englisch, der Allzweckwaffe, die man hoffentlich überall versteht, und allerlei Gebärden, die doch immer ein gewisses Maß an unkalkulierbarer Streuweite aufweisen. Ich hoffe, Bisswütigkeit abseits des Wettkampfs gehört nicht zu den typischen Reaktionen auf hilflose Gesten.