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Vom Ross

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Der Tag war lang. Viel länger, als er hätte sein müssen. Es war ein Tag des Wartens. Dass ich mir ständig die Beine in den Bauch gestanden hätte, lässt sich nur deshalb nicht sagen, weil ich die meiste Zeit – auf Bänken, im bedingt liegefähig gestaltbaren Polstersitz eines Sechserabteils, im Rennsattel Modell »Oxygen Speedline III« – gesessen habe, um der Dinge zu harren. Ich habe gewartet, bis endlich der Nachtexpress auftauchte. Bis zahlreiche offenbar furchtbar umständliche Zugteilungsmanöver erfolgreich zum Abschluss gebracht waren. Bis ich die Grochowska-Straße und schließlich das Ortsschild von Kołbiel erreicht hatte. Bis ich endlich genug Luft in einem Reifen hatte, der auch vorschriftsmäßig in Legohrs Hinterteil verbaut war … Und jetzt warte ich schon wieder. Diesmal im Hotel.

Immerhin, der Reifen hat trotz glattem Durchstich gehalten, und auf dem Rückweg war die Fahrt über die Europastraße 30 dann wahrlich ein Heidenspaß. Stetiges Gefälle und der von Sir Alec prognostizierte Ostwind drückten die bei modernen Radcomputern nur noch virtuell vorhandene Tauchonadel dauerhaft an die 40er-Marke, während ich glaubte, den im Dunste des Weichseltals leuchtenden Türmen der Stadt geradezu entgegenzufliegen. Ein knappes Dutzend von ihnen zählte ich, und die Nadelspitze des Kulturpalastes war es, die mich – war es magisch oder magnetisch? – hinein in den Schoße Warschaus zog.

Legohr bekam die Sporen, und ich endlich einmal das Gefühl, in sportlicher Mission unterwegs zu sein.

Der Anblick des Hotels – schon per Internet vorgebuchte zwei Sterne im Stadtteil Praga, eine Weichselquerung und mindestens einen Kulturschock von den Verlockungen der als romantisch gepriesenen Warschauer Altstadt entfernt – lässt meine Schaltzentrale aufmerken, es habe eine gute und eine schlechte Nachricht für mich.

Die schlechte Nachricht zuerst: »Junge, du bist ja kein echter Friedensfahrer, also kümmere dich gefälligst selbst um deinen Scheiß. Erwarte bloß nicht, jemand würde dir die Tür aufhalten, wenn du mit geschultertem Rad die Hoteltreppe hochächzt. Und wenn du halt unbedingt meinst, mit einem Tagesbudget von maximal fünfundvierzig Euro für Kost und Logis auskommen zu wollen, dann erwarte gefälligst auch Unterkünfte, zu deren Beschreibung gern die armen Spartaner herhalten müssen«. Den anderen Hotelgästen nach zu urteilen, die vor der Pforte Kette quarzen, habe ich es zum Auftakt mit einer Herberge zu tun, die in Monteurs-Foren als Geheimtipp sehr hoch im Kurs steht.

Und nun die gute Nachricht: »Junge, du bist ja kein echter Friedensfahrer. Freu dich, da hast du deine Ruhe.« Und tatsächlich: Niemand erwartet mich, niemand bedrängt mich. Kein Vertreter einer polnischen Jungendvereinigung halst mir Blumengebinde auf. Auch Autogrammwünsche hat letztlich nur die Rezeptionistin.

Freundlich, aber vor allem bestimmt verlangt der Bubikopf im zweiten Lehrjahr, der hinter dem Tresen residiert, mein »Dokument«. Woraufhin ich zunächst einen Ausdruck der Buchungsbestätigung hervorkrame und erst, nachdem dies mit einem vernichtenden Blick quittiert wird, endlich den gewünschten Personalausweis. Der wird dann feinsäuberlich abgeschrieben. Das kann dauern. Ganz schön lange. Lange genug, um mir den klassischen Wartemoment der Friedensfahrt-Geschichte ins Gedächtnis zu rufen.

Gleich bei der Premiere war’s, als man das Rennen erst- und einmalig nach einem »dualen System« austrug. Denn beide Ausrichterländer beharrten auf dem Recht, die entscheidende Schlussetappe möge über ihr Terrain führen. Und so schickte man also am 1. Mai 1948 gleich zwei Pelotons auf die Reise: In fünf Etappen ging es für die einen von Warschau nach Prag, für die anderen in neun Tagen in die umgekehrte Richtung. Inklusive einer unfreiwilligen Rast am Grenzbaum. Der war ob der Eifersüchteleien und offenen Ressentiments, die das bilaterale Verhältnis entlang des Riesengebirges nach der Gründung eines unabhängigen Volkspolen mehr denn je prägten, ein scharf bewachter. Und nun hatte auch noch der diensthabende Zollbeamte eine Direktive von ganz oben gründlich missverstanden. Anstatt also die Teilnehmer des Rennens freundlich durchzuwinken, beschied er ihnen, sie mögen sich gedulden. Und dann wurden sämtliche Reisepässe eingesammelt und Wort für Wort, Ziffer für Ziffer handschriftlich in Formulare übertragen.

Neunzig Minuten lang neutralisierte diese Demonstration bürokratischer Macht das Rennen. Der adrette Bubikopf von Praga benötigt – in Schönschreiben eine eins – für die Transkription eines einzigen Personalausweises natürlich nur einen Bruchteil dieser Zeit. Leider sind aber auch acht geschlagene Minuten lediglich ein Bruchteil von anderthalb Stunden.

Dann werde ich zur Vorkasse gebeten und überreiche meine Kreditkarte. Das hätte ich besser nicht getan. Denn auch das kann dauern … Mann, was kann das dauern … Das gibt’s doch nicht, Scheibenkleister, wie lange dauert das denn?

Nach fünf weiteren Warteminuten spüre ich, wie die Wirkung der kleinen Feuchttuch-Toilette, mit der ich mein Antlitz vor Betreten des Hotels noch rasch lobbytauglich gestaltet habe, spürbar nachlässt. Ich köchele im eigenen Sud, möchte nur noch die Beine hochlegen, endlich mal das Schuhwerk ausziehen und mich von einer kneippkurkalten Dusche berieseln lassen. Süßwasser! Ein Königreich für Süßwasser auf meiner Haut!

Seit zehn Minuten steckt meine Mastercard nun im Kartenlesegerät, ohne dass dieses auch nur einen Piep von sich gegeben hätte. Nun wird auch die junge Rezeptionistin allmählich unruhig, was ich zum Anlass nehme, vorsichtig zu intervenieren. Ich würde ja gern das Angebot unterbreiten, das langwierige Schauspiel abzubrechen, indem ich die Rechnung einfach auf die althergebrachte analoge Art begleiche. »Perhaps I can pay by … ähm … ähm, ja …« Jetzt lasse ich die Gute halt mal warten, derweil mir die Vokabelfindungsschwierigkeiten zu einem langustenroten Kopf steigen, in dem vor lauter Hitzewallun-gen ziemlich tote Hose herrscht. »By Cash«, rufe ich nach ewig langen Sekunden ganz erleichtert, um dann kleinlaut zu korrigieren: »In cash?«

Die vermutlich richtige, aber dennoch als herzlich unpassend empfundene Antwort ist weitaus schneller gefunden. »No! Sorry!«

Selbst den kleinsten Anflug einer Erklärung bleibt die junge Dame schuldig, holt aber nach fünfzehn Minuten immerhin mal Hilfe aus dem Back-Office. Eine weitere resolute Lady, offenbar die Hotel-Managerin, erscheint auf der Bildfläche. Mit beeindruckend wetterfest gesprühter Frisur, mit nicht minder imponierenden Maßen, wie gemacht für einen Platz in der Basketball-Nationalmannschaft, und nun auch mit wortreichen Erklärungen. Die zwar sehr freundlich klingen, aber leider nicht mehr zu mir durchdringen. Denn meine zwecks Schweißabtupfen befühlte Stirn lässt auf eine Körperkerntemperatur schließen, für die sich unser Sohn unter »Dann bin ich nicht mehr euer Konrad«-Drohungen ein Fieberzäpfchen einverleiben lassen müsste.

Nachdem auch die Hotel-Managerin das Kartelesegerät ausgiebig von allen Seiten betrachtet und mehrfach hin und her gewiegt hat, beginnen bei Minute zwanzig die Telefonate. Das zuständige Bankinstitut hält sich an internationale Gepflogenheiten und hat eine Warteschleife eingerichtet. Nach fünfundzwanzig Minuten dudelt es immer noch aus dem Hörer. Nach dreißig Minuten nimmt endlich jemand ab und erteilt Auskunft. Das Warschauer Kreditkartennetz muss just in dem Moment zusammengebrochen sein, als meine Buchung übermittelt werden sollte. Die Zahlungsorder sei nun aber storniert, Bubikopf und Basketball-Thatcher recken unisono die Daumen. »You can pay in cash.« Die beiden sind so erleichtert, dass ich für meine Frage, ob ich das Rad mit aufs Zimmer nehmen dürfe, zwar noch mal einen vernichtenden Blick in doppelter Ausführung ernte, aber auch grünes Licht.

Auf meiner Kammer mache ich im Zuge meiner Instandsetzung dann reihenweise unangenehme Entdeckungen. Bereits die ersten 105 Kilometer auf polnischen Straßen haben meine Arme und Beine – mit brutalen Abrisskanten an den Bündchen von Trikot und Hose – so überzeugend verbrannt, dass ich meinen Körper mit ein paar Verrenkungen als hiesige Landesflagge aufhängen könnte. Das Duschgel aus dem hoteleigenen Spender verströmt ein Aroma, das meine Nüstern und Hirnrinde zum letzten Mal betäubt hat, als ich zu Grundschulzeiten mal entlaust werden musste. Der Harn fließt trotz drückender Blase so widerwillig, als sei ich dem Phänomen der spontanen Prostataverdopplung anheimgefallen. Und dann dröppelt er auch noch in einem Farbton, der bei einem neutralen Beobachter bestimmt den Verdacht reifen ließe, ich hätte zwei Pinnchen Multivitaminsaft mit einer Extradosis Karotin ins Reagenzglas für die Dopingprobe gekippt. Keine Frage: Ich muss unterwegs noch mehr trinken. Und vor allem: Ich muss jetzt eine Menge trinken.

Außerhalb der schützenden Mauern des Hotels komme ich auf meiner Besorgungstour mit Englischkenntnissen nicht mehr weit. Jetzt sind vornehmlich Fingerübungen gefragt. Kommunikation per Zeichensprache. Der erste Gang führt mich an einen Cola-Automaten, der zweite in den Zeitungskiosk des nahen Postamts. Eine Ansichtskarte von Warschau erwirbt man als sprachlich nicht integrationsfähiger Ausländer, indem man sie einfach aus dem Postkartenständer kramt und dazu entschuldigend grient. Das passende Auslandsporto in gleich fünffacher Ausführung erwirbt man, indem man auf das kleine Rechteck am oberen Rand der beschreibbaren Rückseite zeigt, der Dame hinter den Tageszeitungen dann die High Five anbietet und versucht, betont kehlig das Wort »Niemiecki« auszusprechen. Auch wenn »Niemcy« eigentlich viel angebrachter wäre. Das hat eine Menge Heiterkeit zur Folge, aber offenbar das gewünschte Ergebnis. Alle Karten, die ich mit den dieserart erstandenen Briefmarken verschicken werde, kommen tatsächlich in der Heimat an – wenn auch zum Teil erst weit nach dem Ende meiner Fahrt.

Auf dieser möchte ich also an eine Tradition des Originals anknüpfen und jeden Abend eine Postkarte nach Hause schicken, wie der Schweizer Kühn das getan hatte, mit Grüßen an Familie oder Freunde. Und Greta, die sechsjährige Tochter, soll die erste Karte bekommen. So viel steht nach einem telefonischen Rapport aus dem fernen Eigenheim fest. Am Vorabend hatte sie die Beschwörungsformel ihrer Mutter: »Ach, wenn Papa jetzt zwei Wochen weg ist, dann halten wir drei ganz doll zusammen«, noch herzerweichend spontan gekontert: »Hmm, am besten verschlafe ich die zwei Wochen einfach.« Aber das hat natürlich nicht geklappt. Und so hat sie nun, wie ich schweren Herzens vernehme, den ganzen Morgen geweint – beim Aufwachen im Bett, am Frühstückstisch, noch bei der Fahrt zur Kita – und konnte nicht mehr aufhören.

Ich schlucke beschämt. Denn den ganzen Tag über hatte ich, ausgelastet durch allerlei navigatorische, logistische und motorische Herausforderungen, einen naheliegenden Fakt völlig ausgeblendet: Trotz allzu früher Panne, trotz abenteuerlicher Straßenverhältnisse, trotz aller handfesten Gefahren werde ich in diesen zwei Wochen letztlich nur ein Frühlingsfrischler sein, der sich aus freien Stücken zu einem abseitigen Auslandsurlaub entschlossen hat. Den harten Job hat die Dame, die zu Hause die Gefühlswallungen beruhigen muss.

Der dritte Gang führt mich dann in meinen ersten Delikatesy. Eine in polnischen Gemeinden populäre Form des Miniatur-Supermarkts, in der Protest gegen die Assimilation des Konsumrausches durch die Großflächen von Lidl und Intermarché ebenso sich ausdrückt wie eine recht freie Interpretation des Feinkost-Begriffs. Neben einem reichhaltigen Kühltheken-Sortiment an Teigund Wurstwaren von verlockender bis abscheulicher Optik und einer für den Laien undurchschaubaren Konserven-Auswahl schließt dieser auch Regalmeter mit international geläufigen Softgetränken und sonstigen PET-Gebinden nicht aus. Ich rüste schwer entschlossen für die Schlacht gegen die fortschreitende Dehydrierung.

Ein hutzeliges Mütterchen steht an der Kasse, alt und gebeugt genug, um das Massaker von Wawer noch selbst erlebt zu haben. In Sekundenbruchteilen tasten ihre blassen Augen meinen überladenen Einkaufskorb ab, und ihr zerknitterter Mund nennt mir herzallerliebst lächelnd einen offenbar ziemlich krummen Betrag.

Ich lächle zurück und begutachte in hilfloser Unentschlossenheit das Bündel Zloty-Noten im Portmonee. Lauter pastellfarbene Geldscheine von unbegreiflichem Realwert. Darauf gekrönte Häupter aus Ären, in denen ein König gefälligst noch höchstpersönlich so auszusehen hatte wie ein furchteinflößender Haudrauf, der heutzutage sein Auskommen wohl in den Ringen obskurer Wrestling-Ligen hätte. Massig dickes Haar quillt aus allen Poren und wird unterm Krönchen mit viel körpereigener Pomade in martialische Form gebracht. Mit Ausnahme der Wollmützentunte vom Zweihunderter prangen auf polnischen Banknoten allesamt Typen, deren Style und Physiognomie dem Untertan gleich das beruhigende Gefühl gegeben haben wird, der Chef vom Ganzen könne bei Bedarf sieben Thronfolger in einer Nacht zeugen und eine komplette Hunnenlegion mit einem einzigen gezielten Bodycheck außer Gefecht set zen.

Ich greife schließlich zum blauen Fünfziger, der als Kasimir der Große ausgewiesen ist. Unglaublich kurze Zeit später rasselt mir dann schon massenweise Silbergeld in die Hand, und ich versuche mich an einem »Do widzenia«. Möglichst leise dahingenuschelt, damit niemand merkt, wie fremd mir selbst die elementarsten Grundbegriffe des Polnischen noch sind. Doch da entwickelt das Mütterchen plötzlich ungeahnte Kräfte. Entschlossen packt sie mich am Arm und pressiert meinen erbärmlich undefinierten und nun auch noch zur Hälfte sonnenverbrannten Bizeps.

»Aua«, sage ich in einem mimosenhaften Tonfall, der den großen Kasimir in der Kasse zu schäbigem Spottgelächter animiert haben wird, und fürchte schon: Oje, jetzt hat sie mich trotz aller wortkargen Kommunikation als Deutschen enttarnt, nimmt späte Rache für Deportation und Standgerichte … und knallt mir eine.

Doch sie lächelt nur weiter herzallerliebst. Und dann reicht sie mir das restliche Wechselgeld. Zwei Geldscheine, die ihre Tochter gerade schnell noch aus dem Hinterzimmer herbeigezaubert hat: Polanenfürst Mieszko und Bolesław der Tapfere. Und was mache ich? Mehr als tapfer zu glotzen und die Hand zum Gruße zu heben, schaffe ich nicht. Meinem siedend heißen Hirn will gerade partout nicht einfallen, was »Danke« auf Polnisch heißt. Ist es nur der Wassermangel, oder ist mit vierzig der Vokabelspeicher einfach voll?

Da fällt mir ein, eine Kleinigkeit essen sollte ich ja auch noch vor der passiven Regeneration in der Waagerechten. Ich streune also ein wenig durch Praga, auf der Suche nach einem Restaurationsbetrieb mit lokalen Spezialitäten, der für kleines Geld den kleinen Hunger bedient. Denn der Magen knurrt immer noch nicht, obschon er in Polen bisher keinen festen Nachschub erhalten hat.

Mit meinen neuen Shimano-Latschen, im Katalog beworben als »multifunktioneller Freizeit-Radschuh mit Outdoor-Touch«, ist man, so stelle ich nun fest, durchaus gut zu Fuß. Lediglich das Knochenbrecher-Knirschen, das die metallenen Cleats verursachen, sobald das Pflaster mal ein wenig kleinteiliger ausfällt, ängstigt mich ein wenig. Und mehr noch die Damen, die im spärlicher werdenden Strom der Passanten einige Meter vor mir unterwegs sind.

Es wird allmählich dunkel. Und alle illustrierten Speisekarten, denen ich ansichtig werde, sprechen eine Klientel an, die von einer Mahlzeit mindestens viereinhalbtausend Kilokalorien erwartet. Riesige Teller überreich mit Fleisch und noch mehr Sättigungsbeilagen gesegnet. Eigentlich ja genau das Richtige für einen Etappenfahrer. »Die Ärzte haben uns ihre Rechnung auf den Tisch gelegt. 7.000 Kalorien pro Tag brauchen Fahrer, die ein solches Rennen in Angriff nehmen«, hielt Rudé právo-Redakteur Tocl während der Vorbereitungen zur Friedensfahrt-Premiere in seinem Tagebuch fest. »7.000 Kalorien – ich habe nachgesehen – das sind fast acht Kilo Kartoffeln. Das einzige, was wir vielleicht auftreiben könnten. Aber welcher Rennfahrer kann acht Kilo Kartoffeln verdrücken?« Ich an diesem Abend jedenfalls nicht.

In einer trotz hoher Neonröhren-Dichte zwielichtigen Unterführung gebe ich schließlich klein bei und die Hoffnung auf handliche lukullische Genüsse mit lokaler Note auf. »Hot Dog – 1 Zloty«, steht auf dem Schild. Das ist eine Sprache, die auch ich verstehe, und zudem wahrlich kleines Geld. Umgerechnet knapp 25 Cent. Selbst für einen kleinen Schein mit Polanenfürst bekäme ich eine ganze Tragetasche voller Wurstbrötchen. Doch zwei sollen genügen.

»Dwa Hot Dog«, bestelle ich also.

»Jeden?«, vergewissert sich die Bedienung.

Hmmm, denke ich resignierend, wer nicht mal halbwegs verständlich bis zwei zählen kann, muss halt auf internationale Zeichensprache vertrauen. Ich helfe mir mit dem Victory-Zeichen.

»Bitte scheen, guten Appetit«, wünscht der Würstchenwirt, als er mir kurz darauf seine beiden baugleichen Kreationen kredenzt. In fast akzentfreiem Deutsch.

»Danke sehr«, entgegne ich. Spürbar erleichtert, dass ich nicht wieder zungenringend nach der polnischen Vokabel fahnden muss.

Zurück auf dem Trottoir lasse ich es mir auf dem hüfthohen Schaufenstersims eines Lederwarengeschäftes schmecken, so gut es eben geht, und tue mich doch schwer, mir den doppelten Hot Dog als Siegermahlzeit nach letztlich erfolgreicher Auftaktetappe zu verkaufen. Probieren kann ich es ja trotzdem. War nicht 1952 ein gewisser Gustav Verschueren, ein Belgier also, nach knappem Finish siegreich aus der Etappe »Rund um Warschau« hervorgegangen? Hatte nicht ein zeitgenössisches Lehrbuch für den Straßenrennfahrer auf den Vorbildcharakter hingewiesen, den der Speiseplan flämischer Radsportler besitze? Stand auf diesem Plan nicht Rossfleisch ganz oben? Und kursiert nicht ein unausrottbares Gerücht, dem zufolge ein Hot Dog nach Originalrezeptur aus Pferdefleisch zubereitet werde?

Im Fall der Warschauer Interpretation des Gerichts wäre das indes Zufall. Ich trete der gewiss zurecht sehr stolzen und angemessen empfindlich auf Ehrverletzungen reagierenden polnischen Fleischerinnung wohl nicht zu nahe, wenn ich behaupte, dass Ein-Zloty-Hot-Dogs aus Unterführungen in Praga haargenauso so schmecken wie die Schnellschlinger-Lockangebote, die in jedem IKEA feilgeboten werden. Die Fleischeinwaage ist von überschaubaren Dimensionen und Geschmacksnoten. Auch im Aussehen weckt sie eher ungute Erinnerungen an das, was im ostwestfälischen Schlachterjargon »Fegewurst« genannt wird. Es mag also durchaus sein, dass sich der eine oder andere Partikel Rossniere und -huf eingefunden hat. Es wäre aber nur eine Laune der Halbgötter in weißer, blutbesprenkelter Schürze.

Wenig später sind die Augen fest geschlossen. Zur Einstimmung auf die nächste Etappe Warschau–Lodz habe ich auf meiner Kammer noch kurz bei Klimanschewsky nachgelesen, was sich 1952 vor, während und nach diesem Teilstück zutrug. Dann bin ich bei laufendem Fernseher eingenickt. Und ich habe einen Traum. Beinahe ist er sogar historisch korrekt. In einem Anflug von Größenwahn erlebe ich in dieser Nacht – als Protagonist mittenmang, als Täve Schur noch dazu – den womöglich bizarrsten Moment dieser Friedensfahrt.

Da sitzen wir also vor dem späten Start zur zweiten Etappe im großen Saal des Bristol, am festlich gedeckten Mittagstisch der DDR-Delegation. Der Trefflich, der Kirchhoff, der Gleinig, der Gaede, der Dinter. Natürlich Trainer Schiffner und auch Werner Scharch, der Präsident der Sektion Radsport. Und ich, der »Benjamin der DDR-Auswahl«, mit wallendem, zur kecken Tolle hochgewedeltem Blondhaar statt der unfreiwilligen Tonsur, unter der ich in wachen Stunden leide.

Dann kommt sie. Frau Änne Kundermann, der »Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik in der Republik Polen«, gesellt sich zu uns, und im Traum sieht sie aus wie die Basketball-Lady aus der Lobby. »Ich wollte doch unbedingt noch Abschied von euch nehmen, bevor ihr nach Lodz weiterradelt«, sagt sie und dreht sich zu mir: »Na, Freund Schur, Pech gehabt auf der ersten Etappe? Die Defekthexe hat Ihnen empfindlichen Rückstand beschert? Nur den Mut nicht sinken lassen, die Friedensfahrt hat doch erst begonnen, abgerechnet wird in Prag.«

Alle schauen auf mich, und ich rette mich in Floskeln: Pech und Glück würden sich schon die Waage halten, irgendwann würde es jeden mal treffen … Und bin heilfroh, dass sie sich wieder der gesamten Runde zuwendet und aus dem Stegreif mit jenen salbungsvollen Satzgirlanden brilliert, für die außerordentliche und bevollmächtige Menschen in Diensten der Deutschen Demokratischen Republik halt so bezahlt werden. Dass wir als Vertreter unseres Staates auch eine Verpflichtung gegenüber allen Werktätigen von Stralsund bis Suhl hätten. Dass wir bei der Friedensfahrt nicht allein um sportlichen Lorbeer kämpften, sondern um ein weitaus größeres Ziel. Dass wir unsere Vorbildfunktion als Sendboten von Frieden und Völkerverständigung auf und abseits der Rennstrecke gefälligst ernst zu nehmen hätten. Salbader, salbader …

Doch dann hat sie wieder mich auf dem Kieker. »Besonders freue ich mich aber«, sagt die lange Änne, »dass ich heute einen aus eurer Mitte auszeichnen darf, den Jüngsten unter euch. Auf Vorschlag der Kollegen der Schlosserei im VEB Spezialbau Magdeburg verleihe ich hiermit dem Sportfreund Gustav-Adolf Schur das Ehrenzeichen für vorbildliche Arbeit, die Aktivistennadel der Deutschen Demokratischen Republik. Mit 80 Prozent hat er seine Norm im Nietenschlagen ständig übererfüllt!« Und dann piekst sie mich in die Brust.

Das überrascht mich dann doch. So sehr, dass mir die naheliegende Replik nicht einfällt: »Hören Sie mal, werte Frau Botschafter. Das muss eine Verwechslung sein. Das hier ist doch nur ein Traum. Also nix da mit Benjamin, ich knabbere schon mächtig an der vierzig. Und meinen Lebensunterhalt bestreite ich mitnichten als Werktätiger im engeren Sinne eines Arbeiter- und Bauernstaats, sondern als Freiberufler und Einzelunternehmer. An jeder Werkbank wäre ich auch die glatteste Fehlbesetzung mit meinen linken Händen. Die beiden sind doch schon heilfroh, wenn sie unfallfrei den Lenker festhalten können. Also geben Sie Ihre Nadel ruhig einem der Kollegen. Die freuen sich bestimmt. Und überhaupt: Der einzige Mutmacher, der mir etwas bedeutet, ist das Plakat, das meine Kinder mir mit Handreichung ihrer Mutter vor der Abreise gemalt haben. Als Abschiedsüberraschung hing es neben der Haustüre, als ich aufbrach: Papa, komm bald wieder.«

Doch protokollgemäß antworte ich nur: »Ich möchte mich für die Auszeichnung bedanken und hoffe, dass ich mich dieser Ehre auch auf den Straßen des Friedens würdig erweise.« Im Klartext soll das heißen: Ab morgen lasse ich es dann richtig krachen.

Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt

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