Читать книгу Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt - Rainer Sprehe - Страница 7
In den Lodden
ОглавлениеDie Lage ist offenbar mächtig angespannt im Nahen Osten der Stadt. Als ich morgens die Tür zum Garten öffne, sausen im Viertel gleich reihenweise Dachlawinen zu Tal. Halbgefrorenes klatscht spratzend auf Pflaster und Asphalt, trommelt düster auf ein Autodach. Wie ein Gewitter in der Realschul-aufführung von King Lear. Der Wind bläst mit gestrengem Gleichmut eine übellaunige Mischpoke von Aggregatzuständen in ein verdattertes Halbschlafgesicht. Feinste Partikel mit der Wirkung von Flüssigstickstoff. Über den Firsten dümpelt der Teutokamm im Hochnebel. Bah, watt üsselich, wie man in diesem Landstrich sagt. Tauwetter in der Geschmacksrichtung nass-kalt. Das misslungene Sorbet unter den Witterungen.
Die verrutschte Grimasse, die der stockende neuronale Funkverkehr in Wangen, Kinn und Schläfen meißelt, fühlt sich ein wenig an, als hätte ein dubioser Dentist seine unheilige Neigung ausgelebt, frisch ausgebohrte Wurzelkanäle mit Frozen Daiquiri durchzuspülen. Einigen Synapsen gelingt es dennoch, die ungemütlichen äußeren Reize zu dechiffrieren: »Verpiss dich, Jüngelchen! Husch, husch, mein Freund, ab ins Körbchen. Das lohnt sich heute nicht. Echt nicht. Leg dich einfach noch mal hin.«
Jeder Vernunftbegabte hätte sofort gehorcht. Hätte die Haustür seufzend ins Schloss gedonnert, sich die Treppe hochgeschleppt und die Decke über den von Gefrierbrand versengten Schädel gezogen – in der Hoffnung, vielleicht noch ein wenig im eigenen Mief schnorcheln und schmurgeln zu dürfen, bevor die Schutzbefohlenen am Schlafrockzipfel zerren und ihre Rechte einfordern.
Ich bin nicht vernunftbegabt. Ich bin schließlich Radfahrer. Rennradfahrer. Einer von denen, in deren Kulturbeutel sich weitaus mehr Salben und Tübchen für die Pflege des Dammbereichs finden als für die Pflege des Gesichts. Die ihr Gesäß, obschon Hintern keine Hornhaut entwickeln können, über Stunden freiwillig auf einem klingenartigen, praktisch ungepolsterten Gestell wiegen. Die auch beim Stromern durch Fußgängerzonen instinktiv an die Hacken eines Shoppingprofis sprinten, der beim Slalom um Tütenträger und Straßenmusikanten augenscheinlich guten Windschatten liefert. Deren Schmutzwäsche zu 85 Prozent nicht mit in den Trockner darf, weil eingenähte Sitzpolster und mit Silberionen behandelte Funktionsfasern sich äußerst pingelig gerieren, wenn man sie nicht bei Dreiviertelmond und maximal siebenundzwanzig Grad von zarter Hand wäscht. Einer von denen, die sich nicht wie normale Menschen mit Name, Alter, Beruf und Steckenpferden vorstellen, sondern mit den Rädern der Saison, den zuletzt abgeleisteten Jahreskilometern und der aktuellen Kotzgrenzenleistung in Watt pro Kilogramm Körpergewicht.
In meinem Fall heißt das: a) »Specialized Roubaix (Straße) und Stevens X8 (Gelände); b) »Sechstausendfünfhundert – stich!« und c) »Ich glaube nicht, dass die Entwicklung unserer persönlichen Beziehung bereits so weit gediehen wäre, als dass ich derart intime Details preisgeben möchte.« Wer derweil nach den Hobbys fragt, erntet von unsereins eh nur entsetztes Augenrollen und die ruppige Gegenfrage: Wieso Plural?
So genügt die schemenhafte Wahrnehmung, wie sich der Niesel auf den windschiefen Platten vorm Haus in kleinen Rinnsalen sammelt und nicht augenblicklich wieder gefriert, dass ich angesichts der Vorgeschichte von vier Wochen Permaglätte und kommunalem Streusalzmangel von einem aberwitzigen Schauer gepackt werde, der am Firmament meiner Innenwelt ein Feuerwerk in schaurig-grellem Telemagenta zündet.
Die vage Aussicht auf ein paar eisfreie Rennradkilometer lässt meinen gerade noch dumpf und matt sein Morgenwerk verrichtenden Reaktor in unkontrollierter Vorfreude verglühen. Ich hechle von Sinnen, befremde die treppab herannahenden Mitbewohner mit überdrehtem Japsen, zerre an der Leine. Auf diesen Tag habe ich so lange gewartet. Endlich geht es wieder raus. Raus auf die Straße.
»Papa, geht’s dir gut?«
Die Tochter will das wissen.
»Und wie!«
Möchte ich sagen, herausschreien, jubilieren. Möchte den Nachwuchs am Zauber des besonderen Moments teilhaben lassen. Möchte den beiden einen ähnlich überraschenden Schauer der Glückseligkeit schenken. »Greta! Konrad!«, würde ich gern rufen. »Wie wär’s wenn ihr zur Feier des Tages gleich mal alle restlichen Kläppchen am Adventskalender plündert? Und danach zum Frühstück: Nutella-Stullen bis zum Abwinken! Und ’ne Riesenschüssel mit den als Cerealien getarnten Einfachzuckersnacks. Wer will, auch gern mit Gummibärcheneinlage.«
Doch ich bleibe stumm, muss mich erst mal setzen, um das plötzliche Waffenstillstandsangebot des Winters zu verdauen und im Schnelldurchlauf die Vorbereitungs-Checkliste für Ausfahrten bei diesen Bedingungen durchzugehen – zwei Grad Celsius, miese Sichtverhältnisse, Dauerregen wechselnder Intensität, Straßen voller Rollsplitt und Streusalzlauge.
Die wintertauglichen Reifen mit Reflexstreifen und ein paar Millimetern mehr im Profil? Sind schon seit Wochen aufgezogen und warten immer noch auf ihre Jungfernfahrt. Die Sockenaufkleber aus dem Jägerbedarf, die auch unter arktischen Bedingungen die Zehen und das Fußgewölbe mehrere Stunden lang vor schmerzhaftem Durchblutungsstreik bewahren? Lagern einsatzbereit in der Badezimmerkommode. Das Paar Überschuhe, das im unauflösbaren Interessenskonflikt zwischen richtig warm und richtig wasserdicht auf die Qualitäten von Neopren setzt? Müsste sich direkt nebenan im Regal zwischen diversen Handschuhen, Trinkflaschenhaltern und Warnwestenumhängen verstecken. Ein guter Grund, warum der Adventsendspurt vorerst ohne meine Hilfe bei Besorgungen, Backwerk und Kinderbelustigung beginnen muss? Händeringend gesucht.
Die Mutter der beiden lugt ins Treppenhaus. »Kaffee?«
Sie erntet lediglich ein mit viel Wohlwollen als Zustimmung zu entschlüsselndes Murmeln, das eigentlich ein Lob der perfekten Idee im rechten Moment sein müsste, aber als solches noch nicht ausgesprochen werden darf: »Oh gern, Biggi. Normalerweise stellt zwar selbst die milde Sorte eine Überforderung meines Sextanermagens dar; aber Koffein in seltenen, genau bemessenen Dosen gilt ja als legale EPO-Kur des kleinen Mannes, ja, selbst der Bohnenkaffee aus hanseatischer Röstung soll sich schon als wirksame Starterklappe für den Kleinkaliber-Diesel so manchen Hobbyfahrers bewährt haben, und das kann ich gleich da draußen im Regen ob meiner ausgedehnten Sattelpause gewiss gut gebrauchen, wovon du aber natürlich noch nichts ahnst, weil ich gerade erst verzweifelt überlege, mit welchen Argumenten ich dir dieses Vorhaben auf so schonende und diplomatische Weise vermitteln kann, dass niemand von seinem Vetorecht Gebrauch macht …«
Letztendlich genügt ein kurzer, sehnsüchtiger Blick in Richtung des Kellergewölbes, in dem der beste Freund des unausgelasteten Mannes deponiert ist.
»Du willst aufs Rad?«
»’Ne kleine Runde nur.« Einen Augenblick lang ist es still.
»Schön«, sagt sie dann. In einem beinahe geschäftsmäßig klingenden Tonfall, in dem weder Zorn noch überbändige Freude mitschwingen. Es mag sein, und es wäre sehr nachvollziehbar, dass ihre wahren Gedanken ehrlicherweise eine Replik erfordert hätten, die auf »… für dich!« endet. Doch sie behält es tapfer für sich. Das muss Liebe sein. Oder Verzweiflung.
Handgestoppte fünfeinhalb Minuten später stehe ich komplett verkleidet in der Küche. Das Gesäß antiseptisch gebuttert. Die Beine mit jener streng nach Sanitätszelt riechenden, heringssalatroten Paste eingerieben, die Haut und Poren so sehr reizt, dass es den angrenzenden Muskelfasern glaubwürdig ein Gefühl von Wärme vorgaukelt. Thermohose und -trikot plus Windweste übergestreift. Die empfindlichen, auf anhaltende Kälte mit noch länger anhaltender Leichenblässe reagierenden Füße lehrbuchmäßig nach dem Zwiebelprinzip in fünf Schichten verpackt. In der Hand der frisch gebrühte Kaffee, im Mund ein darob frisch verbrühter Gaumen. Ich habe es eilig, denn ich fürchte die rasche Rückkehr des so lange Regentschaft führenden Sibirien-Tiefs. »Danke dir! Bis gleich dann!«
Zuverlässig schnee- und eisfrei sind lediglich die Hauptstraßen. Und deren rechter Fahrbahnrand gleicht an diesem Morgen keineswegs den vorhersehbaren Geraden US-amerikanischer Weststaatengrenzen, eher der Küstenlinie von Norwegen. Variantenreich in Form und Ausdehnung mäandrieren dreckig-weiße Hügel aus Altschnee, Splitt und Hundekot in den ergo verknappten Verkehrsraum hinein, was die Koexistenz von Klick- und Gaspedal nicht unbedingt vereinfacht.
Die Route bestimmt sich folglich beinahe von selbst und nimmt dabei keine Rücksicht auf zimperliche Befindlichkeiten. Auf der Suche nach Hauptverkehrsadern, die erfahrungsgemäß halbwegs sicher mit dem Rad befahrbar sind, geht es ständig kreuz und quer, links und rechts, rauf und runter. So nimmt sich mein Stimmungsbarometer auf verwinkeltem Parcours durchs zunehmend wellige Terrain rasch aus wie das EEG von Professor Hastig. Keine Diva könnte launenhafter sein als der außer Form befindliche Radfahrer unter dem stetig wechselnden Einfluss von Wind und Steigungsprozenten.
In einem Moment fühle ich mich – berauscht von Schiebewind und abschüssigem Gelände – wie der Herrscher der Welt, wie Kaiser Bushido in Funktionsfaserstrumpfhosen. Doch dann, nur einen Kreisverkehr später, frischt der Wind aus denkbar ungünstiger Richtung wehend merklich auf, und der neue Star am Radsporthimmel wird wieder unsanft zur Ruhe gebettet. Die Beine degenerieren im Nu zu falsch montierten, hilflos herumeiernden Pleuelstangen, mein Ego bläst ein düsteres Medley aus Händels Largo, Psalm 130 und Chopins Trauermarsch. In den Funktionsfaserstrumpfhosen steckt nur noch ein besserer Fußabtreter, der insgeheim lediglich darauf wartet, vom nächsten Räumfahrzeug zur Zwischenlagerung auf einen der dreckig-weißen Haufen gekehrt zu werden. »Opfer« heißt so etwas wohl im ausufernden Gangsterrap-Jargon.
Ein solches hätte auch beinahe die erste Teutopassage gefordert. Die kurze Kletterpartie hinauf zum Haus Ascheloh beschert die Erfahrung, dass die wärmende Wirkung einer solchen Belastung kürzer anhält als ihre atemraubenden Folgen, die im Rahmen einer Runde Activity wohl als Interpretation eines hyperventilierenden Rehpinschers gedeutet worden wären. Hätte ich meine Pulsuhr umgeschnallt, wüsste ich jetzt meine maximale Herzfrequenz.
Das Ravensberger Hügelland. Halbherziges Almoränengeschiebe, an diesem Morgen zudem noch basaltgrau gedünstet. Sanft geschwungene Berge der fünften Kategorie. Trocken gelegte Moore. Verwaiste Steinbrüche. Alles ganz nett, aber vor allem ganz schön ausdruckslos. Pathologisch nichtssagend. Verstummt. Hat das etwa Symbolkraft, die über das Tagesereignis hinausreicht? Ich wähne mich als Mann ohne Mumm in einem Land ohne Mumm, stimme kurzerhand den Ostwestfalen-Blues an. Das Klagelied vom Nicht-hü-nichthott-Landstrich, der seine dröge Unentschlossenheit schon im Namen trägt.
Wann haben sie denn hier zum letzten Mal etwas in Städte oder Walachei gepflanzt, was wirklich nach Beachtung kreischt: »Hier, seht her, das sind wir«? Weit mehr als hundert Jahre ist das her. Und herausgekommen ist, hoch droben über Detmold, ein riesiger Blechkamerad, dessen Anblick jeden Betrachter in seiner Krötenperspektive eher peinlich berühren muss. Hermann, der olle Cheruskerfürst. Massive Bahnsprinterschinken unterm Schurz. Ein bizarrer Flügelhelm. Der Schwertphallus drohend gen Welschland gerichtet. In Anbetracht dieses landschaftsgestalterischen Desasters zieht man hier seither lieber stur und kleinlaut den Kopf ein und überlässt Hanseaten und Rheinländern die Leuchtturmarchitektur und alle Aufmerksamkeit.
Und ich? Wann habe ich das letzte Mal wirklich etwas gewagt? Wann habe ich das letzte Mal die zunehmend karge Komfortzone verlassen? Wann bin ich zum letzten Mal aus mir herauskommen? Kein Wunder, dass es in Körperregionen, in denen ich gerade mein Gewissen zu verorten glaube, bisweilen so unangenehm juckt und beißt und zwickt. Das wird der Zweifel sein, ob ich unseren Kindern in der Leier des Alltags denn nicht mehr mitgeben kann als »Eeehh, du kleine Pottsau, nimmt doch mal Besteck«-Gemoser, frühkindlichen Matheunterricht mit »Und die letzte Zahl heeeiiiiiiiißßt …«-Mantren oder ein paar der auch eher unentspannten Neue-Mitte-Werte. Diesen Haltungsödnis-Sud aus Freelance-Fatalismus und Food-Watch-Urteilen – beweise deinen Style vorm Balsamessigregal, dazu ein Spritzer Holoferneshysterie, dezent und wohldosiert.
Mit dem Wechsel auf die pottebene, münsterländische Seite des Teutobur-ger Waldes haben sich immerhin die Straßenverhältnisse gebessert. Alsbald werde ich mutiger, riskiere hier und da auch einen Abstecher auf weniger frequentierte Straßen. Die Rhedaer Mark ist erreicht, rein landwirtschaftlich genutzter Außenbezirk meines Geburtsstädtchens. Sandige Äcker, verstreute Gehöfte, in denen die wandelnden Backsteinmoden der letzten hundert Jahre wild durcheinander verbaut sind, karge Nadelholzforste. Dazwischen schmale, bisweilen vom Wurzelwerk der Bäume wellig aufgebockte Flickenteppichsträßchen, gerade mal breit genug für ein Auto. »In den Lodden«, »Kattenstroth« oder »Im witten Sande« heißen solche Wege, auf denen meine Ausfahrt zusehends zu einer Übung der technischen Fahrfertigkeiten ausartet.
Vermögen es die schmalen Reifen nicht, exakt in einer der zwei Spuren zu bleiben, die Auto- oder Traktorenpneus zuvor in den Schneematsch gefräst haben, geraten Zweibeiner und -rad sogleich unweigerlich ins Rutschen. Doch was ist das? Zwanzig Meter weiter, an der kleinen Lichtung, verlieren sich die Fahrrinnen plötzlich in einem einzigen See aus Eis. Oh Gottchen, und was will der jetzt da? Plötzlicher Gegenverkehr! Das erste Auto seit einer Viertelstunde! Ausgerechnet jetzt?!? Bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann, was im Fahrtechnik-Ratgeber unter »Bremsen und Ausweichen auf seifigem Untergrund« vermerkt war, gibt mein Rad mir zu verstehen, dass beides gleichzeitig tunlichst zu vermeiden ist, rutscht schwungvoll zur Seite und verschafft mir einen öffentlichen Auftritt als Dachlawine. Klatschend spratze ich ins Sorbet.
»Alles in Ordnung?« Der Autofahrer ist gleich ausgestiegen und mimt glaubwürdig Empathie.
»Danke«, sage ich möglichst gelassen und vielsagend, während ich mich pitschnass aufrappele und die elementaren Radfahrergelenke betaste. Und für ostwestfälische Verhältnisse ist das ja tatsächlich bereits viel gesagt und ausreichende Auskunft.
Das Glück und die polsternde Wirkung der Thermofaser sind mir hold gewesen – es ist nichts passiert. Weder Ross noch Reiter müssen zum Abdecker. Nur ein paar minimale Kratzer an Schaltwerk und Pedal. Ein dumpfer Schmerz pocht in Knie und Hüfte, aber die allzu offene Fleischbeschau bleibt mir erspart.
So wünscht der Autofahrer ein frohes Fest und rauscht von dannen. Ich will es ihm gleich tun, bin aber vorerst zu Gemach verdammt. Erst muss ich den heiklen Streckenabschnitt auf spitzen Zehen durchwaten, dann eine fest mit Eis ummantelte Pedalplatte einer langwierigen Operation mit den Reifenhe-bern unterziehen. Als ich endlich wieder fahrtüchtig bin, hat die Hülle aus eiswassergetränktem Elasthan-Mischgewebe die Körperkerntemperatur bereits in kritische Bereiche heruntergekühlt.
Um warm zu werden, gebe ich meinen Beinen richtig Auslauf und die Sporen, sobald ich wieder eine breite Chaussee unter den Reifen habe. Und auch weil vom Horizont ein anderer, tief über seinen Boliden gebeugter Velofahrer herannaht. Alte Rennfahrerregel: Im Windschatten sparst du bis zu dreißig Prozent an Energie, aber im Angesicht von Konkurrenz bist du bereit, bis zu dreißig Prozent mehr zu verpulvern.
Dennoch vernehme ich keine Minute später direkt hinter mir eine Kette über die Ritzel klettern. Der Drecksack ist offenbar im Turbomodus heran-geflogen und versucht jetzt, es sich in meinem Windschatten gemütlich zu machen. Na, warte, dir werd’ ich’s zeigen. Ich entsinne mich einer der alten Geheimwaffen, liebäugele damit, im Zuge eines Präventivschlags leicht das Gesäß zu heben … Doch spätestens infolge des jüngsten Eisbades dürfte den Pobacken so viel Gefühl abhanden gekommen sein, dass ihnen statt eines »Schleichers« bestimmt ein locker-flockiges Tröten entwichen wäre, das sich auch mittels eines hektisch heraufbeschworenen Verschalters nicht mehr hätte übertönen lassen – und eh zu spät gekommen wäre. Denn der Verfolger ist längst auf gleicher Höhe und macht sofort deutlich, dass er gewillt ist, meine lang ersehnte Rennradrunde nun endgültig im Fiasko münden zu lassen. Als seien eine nach nur wenigen Wochen Trainingspause schon massiv angegriffene Milchsäuretoleranz und der Diver im Schneematsch nicht schon genug. Jetzt muss ich auch noch den enormen Geschwindigkeitsüberschuss eines weder viel leichteren und schon gar nicht jüngeren Herausforderers anerkennen. Der überdies noch genug Atem und kommunikative Begabung für einen lockeren Plauderton besitzt.
»Mehr Nägel, ich rutsche!«, zitiert der Kerl quasi zur Begrüßung aus der Sprechblase eines sattsam bekannten Jesus-Cartoons und weist zur Erklärung zunächst auf meine sturzbedingt verdreckten Klamotten, dann auf seinen deutlich vernehmbar summenden Vorderreifen. Ein breites Grinsen macht meine Schmach endgültig perfekt. Der Typ ist im Gegensatz zu mir auf Spikes unterwegs. So legt er sich zwar selbst in den Lodden nicht auf die Klappe, muss aber ob des spürbar größeren Rollwiderstands fürs gleiche Tempo auch weitaus mehr Strom aus den kleinen Kraftwerken in seinen Muskelzellen ziehen.
Zum Trost bilde ich mir ein, das entfernt bekannte Gesicht gehöre einem der mit beneidenswert viel Freizeit gesegneten Heizstrahler, die das Trainingspensum von Halbprofis abspulen, um dann Sonntagmorgen für Sonntagmorgen bei allen organisierten Rennradtreffen im Umland schon eine Viertelstunde vor dem ehedem unmenschlich frühen Startschuss mit dem Vorderrad am Flatterband zu scharren.
Immerhin schlägt der Heizstrahler nun Töne an, die seinen Tempo- und Testosteronüberschuss in einem etwas versöhnlicheren Lichte erscheinen lassen. Er müsse in der anstehenden Saison früh in Topform sein. So sei es unabdinglich, sich schon im Advent mit ein paar Tempointervallen an diesen ekligen, metallischen Blutgeschmack im Mund zu gewöhnen. Kein Gedanke daran, die der Jahreszeit angemessene Jan-Ullrich-Gedächtnis-Diät zu halten und die Arterien inwandig mit einer sämigen Glühwein-Spekulatius-Masse auszukleistern. Schließlich habe er den berühmtesten aller Frühjahrsklassiker als Höhepunkt in seinem Rennkalender auserkoren.
»Paris–Roubaix«, sagt er.
»Die Legende«, sagt er.
»Gibt’s nun zum ersten Mal auch als Challenge für Jedermänner«, sagt er.
»Anfang April, nur einen Tag vor dem Profirennen«, sagt er.
»Bienvenu en enfer«, sagt er. »So stand’s schon bei der Anmeldung. Willkommen in der Hölle des Nordens.«
»Aha«, sage ich.
Was genügt, um einen wort- und juchzerreichen Exkurs zu provozieren. Einen Monolog über historische Wurzeln und moderne Realitäten dieses Radrennens auf groben Granitpflastersteinen, die krumm und schief zwischen den Äckern und Wäldern, Soldatenfriedhöfen und einstigen Schützengräben am Rande des nordfranzösischen Kohlenreviers im Morast stecken. Einen Monolog, der rasch in einem Geschwurbel aus Versatzstücken der Mobilmachungspropaganda mündet: »… bei Regen wie auf Schmierseife … am besten immer vorneweg … wie zuletzt der Cancellara … der Spartakus aus Bern … und hinter dir die Schmerzensschreie … der Versehrten … wie bei einer Splitterbombe … wenn’s aber trocken bleibt … dann lass sie Staub fressen … mach den Lawrence von Arabien … jaaaaaaharrharr, das wird ein Gemetzel!«
Derart beängstigend entzückt klingt dieses Kriegsgeheul, dass irgendetwas in mir – vielleicht der einstige Wehrdienstverweigerer? – die nahe liegende Antwort verweigert, als die Gegenfrage nachgeschoben wird: »Und? Was sind deine Saisonziele dies’ Jahr?«
Ich hätte durchaus einen angemessen martialischen Konter in petto gehabt. »Ach, mal schauen … zwei Anmeldungen sind bisher raus. Im Frühjahr die Flandernrundfahrt. Du weißt schon – mit Kinderköppen gepflasterte Zwanzig-Prozent-Rampen. Und im Sommer dann die 24 Stunden bei Rad am Ring. Als Viererstaffel durch die Grüne Hölle …« Doch irgendetwas reitet mich, der überdrehten Splitterbombenstimmung ein möglichst eindeutiges Kontra zu entbieten. »Ach, ich mach dies’ Jahr die Friedensfahrt«, höre ich mich sagen. Und weiß nicht, warum.
Mein Gedächtnis hat wohl spontan Fetzen eines eigentlich längst wieder vergessenen YouTube-Vierteilers ausgegraben, damit ich das Kriegsgeheul angemessen erwidern kann. Monate ist’s her, da lief sie tagelang in der Heavy Rotation auf dem heimischen Rechner, die frühe Gemeinschaftsproduktion von Wytwórnia Filmów Dokumentalnych Polska und DEFA Dokumentarfilm.
Wyścig pokoju 1952 Warszawa–Berlin–Praha. Knapp fünfzigminütige Reportage über die erste Ausgabe der Internationalen Radfernfahrt für den Frieden, die dereinst – vier Jahre nach der Premiere – auch über deutschen Boden führte. Das Ganze in der polnischen Originalversion ohne Untertitel. Aber mit diesem klassischen Fastforward-Effekt von Wochenschauen, der wirbelnde Beine auf sehr reizvolle Weise in ratternde Nähmaschinennadeln verwandelt. Und so manchen Fahrer, dem sein Mechaniker ein etwas zu kleines Rennrad präpariert hatte, in einen ekstatischen Wackeldackel.
In Bruchstücksequenzen flackern sie nun wieder auf. Bilder von einer Veranstaltung, die – in einem undurchschaubaren Techtelmechtel von eher anarchischem Freiluftsport und generalstabsmäßig durchexerzierter Mai-parade – schier unglaubliche Menschenmassen zu mobilisieren verstand.
Kopfsteinpflaster und staubige Chaussee. Warschau ein einziges Trümmerfeld. Straßenüberspannende Banner und Bögen mit eindeutigen Botschaften. »Sportler kämpfen für Frieden und Völkerverständigung«, »Die Werktätigen von Buna grüßen die Teilnehmer der V. Friedensfahrt«, auf dem Weg nach Chemnitz das Wort »P R Ä M I E« in mundgemalten Riesenlettern. Unentwegte Antritte und Gegenattacken, die Hatz der Windstaffeln auf freier Fläche, rasante Kurvenfahrten hinein in riesige Stadionschüsseln, bis auf den letzten Platz besetzt, hauchdünne Ellbogensprints auf der Aschenbahn. An jedem Alleebaum ein überdimensionales Politikerporträt. Gottwald. Bierut. Pieck. Stalin. Der junge Gustav-Adolf Schur wagt einen Vorstoß, pumpt wie ein Maikäfer; Jan Veselý, schon im Ziel, lacht gewinnend, von Damenhorden bestürmt und angehimmelt. Blumensträuße, aufsteigende Tauben, aufgeregtes Winken allgegenwärtig. Ebenso Sportskamerad Ullbricht. Hält Reden, schüttelt Hände, verteilt beim Abendmahl, nach getaner Etappenfron, Präsente an die Aktiven. Vasen, Plüschhunde, Herrenschuhe. Musik-kapellen und Schlote als Kulisse für die eilige Fahrerschlange. Auch die Tonspur ist wieder da. Dramatische Streicher, Arbeiterlieder im Kastratenchor. Und überall diese Menschen, so viele Menschen, hellauf begeistert. Im dichten Spalier. Aus den Fenstern der Hochhäuser hängend. Auf Bäumen, Straßenschildern, Strommasten, Baugerüsten. Kinder und Jungtraktoristen, die über Äcker und Hänge sprinten, um den Lindwurm ein zweites Mal vorbeirauschen zu sehen. Sie alle sind – auf eine Weise, die schwerlich als »verordneter Antifaschismus« zu rezipieren ist – wahrhaftig aus dem Häuschen.
Doch bevor ich ein paar erklärende Worte anschließen und referieren kann, was in meinen grauen Speicherzellen für die in ebensolcher Vorzeit so populäre »Tour de France des Ostens« an Eckdaten hinterlegt ist – zwei Wochen hinterm Eisernen Vorhang, knapp über 2.000 Kilometer durch Volkspolen, Deutsche Demokratische Republik und Tschechoslowakei –, beweist der Heizstrahler bereits, dass er mit der Friedensfahrt bestens vertraut ist. Und dass offenbar eine Ost-Sozialisation der Grund für seine im witten Sande doch ungewohnt offenherzige Art ist.
»Oho, Wyścig Pokoju. Course de la Paix. Warschau–Berlin–Prag. Das waren noch Zeiten. La Paloma am Moldaustrand und Kettenklemmer in Katowice. Jedes Jahr im Mai. Ach ja, schade, dass es vorbei ist. Die weißen Tauben sind halt müde geworden …«, sprudelt es nun auch in eindeutig friedlicherer Mission mit einem Elan aus ihm heraus, der Ehrfurcht gebietet. Und derweil ich noch mühsam seinen musikalischen Anspielungen auf Picassos Taube hin-terherhinke, die der Friedensfahrt traditionell als Logo auf Winkelementen und Wertungstrikots diente, schickt er schon das nächste Jukebox-Quiz hinterher. Diesmal in gepfiffener Form.
»Das ist doch bestimmt die viel beschworene Friedensfahrt-Fanfare«, mutmaße ich. Und der Heizstrahler, eben noch ganz der Krieger im Rennsattel, schaut mich plötzlich an wie Spartakus auf Süßgras und Salbei. »Nee, war ja nicht alles schlecht damals … bei uns im Osten … und die Friedensfahrt … ach, ja, die war eigentlich sogar richtig dufte.«
Seine Kette klackert wie beiläufig auf kleinere Ritzel. »Hat bestimmt seinen Reiz, so etwas heute mal mit ’nem modernen Plasteschwein nachzufahren«, sagt er noch, entschwindet dann mit lauthals surrenden Spikereifen und lässt mich mit dementen Beinen und plötzlich munterem Kopf allein. Und mit drei schwierigen Fragen.
Friedensfahrt! Pah! Wie in aller Welt kommst du gerade auf so einen Mist? Was zur Hölle willst du mit dem Fahrrad ausgerechnet in Polen und Pilsen? Und wie bitteschön könnte man so was Frau und Kindern, Gesäß und Rücken beibringen, ohne es sich mit allen dauerhaft zu verscherzen? Doch je näher ich wieder Bielefelder Boden komme, desto näher komme ich auch den Antworten. Antworten, die beflügeln. Nicht mal Gegenwind und durchnässte Klamotten können dem mit Mentaldoping aus dem körpereigenen Giftschrank aufgeplusterten Gemüt noch etwas anhaben. Ein fieser Möpp von Nieselregen fliegt mir um taubgefrorene Ohrmuscheln, doch auf die Hirnrinde prasselt nur Freude schöner Götterfunken, und euphorisierte Haxen trommeln Beethovens Neunte ins Tretlager.
Die mit der ökologisch vorbildlichen Verkehrsmittelwahl kompatibelsten Zeilen gröle ich sogar lauthals mit. Sturm und Drang mit allem Bombast. Ohne Furcht vor der Irritation etwaiger Passantenohren. Ein verfrühter, irrradelnder Silvesterböller kurvt dem Nahen Osten der Stadt entgegen. »Freude trinken alle Wesen / An den Brüsten der Natur«, tiriliert er. »Freude heißt die starke Feder / In der ewigen Natur / Freude, Freude treibt die Räder …«
Was ich in Polen und Tschechien will, in Bad Schandau und Bitterfeld? Mit dem Rennrad auf den Spuren der Internationalen Fernfahrt für den Frieden? Was für Fragen?! Na, das liegt doch auf der Hand, ja, geradezu auf der Straße!
Zwei Wochen nichts als Radfahren. 2.000 Kilometer durch ferne, mir völlig fremde Lande. Auf einer Route, die mir Ziele vorgibt, ohne Touristenströmen zu folgen. Mal wieder reisen, wie ich es stets am liebsten tat. Ohne Sinn und Verstand, aber mit einem festen, wenn auch abwegigen Plan.
Fand ich London nicht auch am beeindruckendsten, als ich mir einfach vornahm, binnen zwei Tagen alle Fußballstadien der Stadt abzuklappern? Als ich kein Auge hatte für Glockentürme und Brücken, lieber die religiös schwer verminte Tottenham High Road und ihre dreizehntausend Friseursalons abschritt bis zur »White Hart Lane«. Als ich den Kitzel genoss, als einziges Bleichgesicht im Bus zum »Upton Park« zu sitzen, und noch mehr dann zu später Stunde das Adrenalin, während ich am Themsestrand vor sehr zupackend klingendem Gebell wieder aus dem stockfinsteren, versehentlich unabgeschlossenen »Craven Cottage« floh.
Was mir das Beste scheint, am spontan gereiften Plan von einer Radreise durch einstigen Ostblock: Für all das wird eine griffige Formel gleich frei Haus mitgeliefert, ein Tour-Motto, das wenig Widerspruch zulässt. Friedensfahrt! Ein Wessi auf Friedensfahrt!
Mag doch ruhig die komplette Restbelegschaft der radelnden Sinnkrisler auf bewährte Konzepte vertrauen. Sollen sich doch alle gern in den Sommerferien mit der Bezwingung von Transalp-Routen oder legendären Tour-de-France-Bergen für den Rest des Jahres gegen die Ebbe an fühlbaren Erfolgs-erlebnissen immunisieren. Warum nicht? Es funktioniert ja. Doch mich und meine Räder soll die Freude, Freude in diesem Mai einmal auf weniger ausgefahrene Spuren treiben, zumindest auf heftig verstaubte.
Das scheint mir gerade der Reiz zu sein, der wahre Kitzel, der diese fixe Idee von einer Polka der Pedale im wilden Osten gleich in stürmische Vorfreude auf das perfekte Abenteuer ummünzt. Mal etwas wagen. Dem ostwestfälischen Mürrschädel mal wieder ein wenig Frischluft zuführen. Gezwungen sein, mich auf gänzlich neue Eindrücke einzulassen … Denn, ja, ich gestehe freimütig: Was die Nachbarländer im Osten angeht, bin ich eine Ausgeburt bundesdeutscher Ignoranz.
Mein aktuelles Polenbild? Bestenfalls eine gar schröööcklich verzerrte Karikatur. Deren Protagonisten: Penibel aufgebrezelte Damen, die mit langen Beinen und sonstigen Reizen so wenig geizen, dass Heines Hymnen auf die »Weichselaphroditen« auch nach einhundertsiebenundachtzig Jahren noch ziemlich taufrisch klingen. Und danebst eine Herrenriege, bei der es sich durch die Bank um Brüder von Adam Malysz handeln muss. Jenes so netten Hänflings im berufsbedingt überdimensionierten Anzug, der ungeachtet des jüngsten Schnauzbart-Revivals in angesagten Metrosex-Clubs bis zum letzten Tag seiner Karriere stets wirkte, als sei er direkt aus den finsteren Achtzigern auf den Aufsprunghügeln von Garmisch-Partenkirchen oder Lahti gelandet.
Doch glücklicherweise gibt es ja noch das wunderbare, real existierende Damenterzett, das einmal wöchentlich unsere Wohnung und Laune mit eifrigem Feudel und charmantem Witz erlesener polnischer Schule auf Vordermann bringt. Und sich vermutlich gerade sehr über meine Abwesenheit freut: »Ach, das Büro von Herrn Rainer putzen wir doch immer am liebsten. Da sieht man immer gleich … Ergebnisse.«
Denn sonst könnte ich mich womöglich allein auf jene Grobschnittklischees stützen, die doch nur das Schwarz-Weiß der Extreme kennen. Die Häme des dürren Witzchens vom Ironman Gdańsk – zu Fuß zum Schwimmbad und mit dem Fahrrad zurück – oder aber die stürmische Lobpreisung des Polen als perfektem Gastgeber und Improvisationstalent. Der, wenn jemand mit einer Panne vor seinem Haus liegen bleibt, den Gestrandeten sofort in die beste Stube bittet, um ihn bei konsonantenlasztyghen Trinkliedern mit einer hochprozentigen Emulsion aus Brennspiritus und Waldhonig bis zum Scheitel abzufüllen, derweil irgendein entfernter, technisch versierter Onkel im Schuppen nebenan aus einem Karabinerhaken, dem Lauf einer alten Weltkriegs-pistole und den Innereien eines Tampons in filigraner Handarbeit das gesuchte Ersatzteil drechselt.
Nicht viel anders sieht es auf meinem mentalen Europa-Atlas dort aus, wo Tschechien eingezeichnet sein müsste. Auch dort nur dürftige Assoziationen, die sich in diesem Fall vornehmlich aus diversen Kinderfilmen und -serien speisen. Krtek, der kleine Maulwurf. Lolek und Bolek. Luzie, der Schrecken der Straße. Pan Tau. Die Märchenbraut. Drei Nüsse für Aschenbrödel. Die Besucher. Zumeist Machwerke, die mit überraschend wenigen Besetzungswechseln auskommen und von einem leisen, liebenswert verschrobenen Humor künden, der mich hoffen lässt, als Radfahrer zwischen Ústí nad Labem und Prag nicht wie Luzifer, der Schrecken der Landstraße, begrüßt zu werden. Zumal ich mich einer Nation, die sich in Imagevideos stolz mit Selbstgebrautem zuprostet, doch insgeheim stets ein wenig verbunden fühlen werde. Mehr zumindest als etwa den Gastgebern der Tour de France, die doch immer gleich ihre feinen, auf die Degustation blumiger Aromen gedrillten Näschen rümpfen müssen, wenn sie mitbekommen, dass irgendwer seine Kohlenhydratdepots mit Hopfen und Malz aufzufüllen gedenkt.
Als Ausrede für meine völlige Unwissenheit über die einstigen Friedensfahrt-Gastgeber kann ich höchstens vortragen, dass ich für Aufenthalte in Polen und Tschechien vielleicht bisher einfach zu jung war oder zu alt. Als Prag und Breslau, Krakau und Budweis als Ziele für Klassenfahrten ins Blickfeld rückten, hatte ich meine Jahre auf Schulbänken bereits abgesessen. Und mich treibt weder Heimweh nach Schlesien, noch verlangt ein Gebrechen die Teilnahme an Busreisen nach Marienbad samt achtzehn Kurbehandlungen mit Sumpfmoor und abführend wirkenden Heilquellen.
Allerhöchste Zeit also für ein wenig Brachialnachhilfe. Für Frontalunterricht in Slawistik und kleinem Grenzverkehr. Jetzt will ich’s wissen: Was ist wohl geworden aus den Originalschauplätzen, an denen sich einst die Schurs und Veselýs, die Szurkowskis und Amplers um Etappensiege balgten – oder um Butterbemmen an der Verpflegungskontrolle? Wie sieht es aus mit der Verständigung der Völker? Mit dem praktizierten Frieden zwischen Deutschen, Tschechen und Polen?
Allesamt Fragen, an deren Beantwortung man sich womöglich gar nicht besser heranschleichen könnte als eben aus der Perspektive des Radfahrers. Mit Reisetempo siebenundzwanzig und auf Straßen, die nicht von Tourismus-Managern nach gängigen Sightseeing-Kriterien ausgewählt wurden. Sondern schon vor sechs Jahrzenten aus rein pragmatischen bis willkürlichen Beweggründen.
Ich sehe mich schon mit rasselnder Lunge im neuen Herzen Europas. Mit schwer beladenem Plasteross im oberschlesischen Industrierevier nach Sauerstoff schnappen und an der steilen Wand von Meerane verzweifeln. Ja, der Selbstversuch als Friedensfahrer, er verheißt mir echtes Abenteuer, das aber dennoch von überschaubarem Risiko bleiben dürfte. Ist ja heute alles Schengenraum.
Vor diesem Hintergrund wirken auch die nackten Zahlen von zwei Wochen und zweitausend Solokilometern im Fahrradsattel geradezu als Idealmaß. Als Strapaze, die geeignet ist, den guten Willen und die Unterstützung von Gesäß, Rücken und Beinen sowie insbesondere der Familie zwar bis an ihre Grenzen auszuloten, aber vielleicht nicht überzustrapazieren.
Als ich nach knapp neunzig Kilometern wieder auf unseren Hof einbiege, übermannt mich ein zutiefst romantischer Anflug jener Euphorie des großen Entdeckungsreisenden, die mich vor mehr als dreißig Jahren bei meinen allerersten ganz allein unternommenen Fahrradtouren beflügelt hatte. Ich bin beseelt von dem Gedanken, dass es kein idealeres Vehikel gibt, um ein wenig Marie Kingsley zu spielen und gänzlich neue Horizonte zu erschließen, als eben das Velo. Auch heute noch, wo es heißt, jeder Winkel der Erdkruste sei nur einen Mausklick entfernt.
Und während ich mich müde, aber glücklich aus dem Sattel hieve, singt es noch immer aus mir heraus – wenn auch nun, aus Rücksicht vor der Nachbarschaft oder vielmehr meinem Ruf in derselben, eher im Flüsterton. Des Freiherrn Schillers Lyrik zu Beethovens Komposition geht nahtlos über in das Frühwerk von Vicky Leandros: »Stets der gleiche Trott / Nur hüh und hott / Das hält keiner aus / Ich will hier raus / Gib dir einen Stoß / Und dann geht’s los / Theeeeeeooooo, wir fahr’n nach Lodz …«
Der erste eilige, patschklackende Gang in triefenden Radschuhen führt mich auf direktem Weg in die Küche.
»Wem gehört das Käse-Schinken-Croissant, wem der Laugenzopf?«, fragt es aus dem unterzuckerten Leib.
»Ich«, sagt der dreijährige Sohn.
»Mir«, verbessert die doppelt so alte Tochter.
»Perfekte Antwort«, denke ich.
»Mir« ist Russisch und heißt Frieden …