Читать книгу Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt - Rainer Sprehe - Страница 13
Eier im Glas
Оглавление»Verschlafen stieg die DDR-Mannschaft aus dem Zug. Zum Frühstück gab es weiße Brötchen und Eier im Glas, was allen als ein großartiger Auftakt erschien«, heißt im Episoden-Teil einer von Täve Schur herausgegebenen Friedensfahrt-Anthologie über die dritte Ausgabe des Rennens, die 1950 in Warschau auf die Reise geschickt werden sollte. Um dann – nach einer kleinen Kunstpause – die Einmaligkeit des historischen Moments herauszustellen: »Für Chronisten: Die sechs waren die ersten deutschen Sportler nach dem Krieg in Polen.«
Ich tue meine Bestes, um ebenfalls die Macht des besonderen Augenblicks zu spüren, als meine Füße erstmals polnischen Boden berühren. Das fällt nicht ganz leicht. Denn besagte Füße stecken in Radschuhen, mit denen man trotz Pedalhaken unterm Ballen halbwegs gehen und nicht nur watscheln können soll. Was die Designer bei Shimano zu dicken und folglich wenig feinfühligen Gummisohlen hat greifen lassen. Außerdem handelt es sich bei dem polnischen Boden um einen unterirdischen Bahnsteig von Warszawa Centralna. Und das beflügelt auch deshalb schwerlich himmlische Gefühle, da dieses verwinkelte Gebäude ob diverser Umbaumaßnahmen im Hinblick auf die Fußball-Europameisterschaft 2012 aktuell wie ein einziges Provisorium in Grau wirkt. Wie das Ergebnis eines Erstsemester-Workshops an der Posener Bauwesen-Fakultät: »Provozieren Sie mit einfachsten architektonischen Mitteln, preiswerten Werkstoffen und beliebig viel Kunstlicht das miese Gefühl absoluter Verlorenheit und den starken Drang, diesen geistlosen Ort möglichst schnell verlassen zu wollen.«
Letztlich erschöpft sich die Einmaligkeit meiner Situation also darin, dass kein anderer Depp im ganzen Zentralbahnhof sich damit abmüht, ein Fahrrad in einer Art Zeitlupen-Cyclocross über diverse, steile Treppen ans Tageslicht zu befördern. So müssen halt andere Schlüsselreize für angemessene Hochgefühle sorgen. Unbekannte Gaumenfreuden. Eier im Glas. Das male ich mir schon seit Lowicz in leuchtenden Farben aus, führungstrikotgelb und weiß wie Muskelproteine. Und muss dabei gar nicht mehr würgen.
Das war noch anders gewesen, als ich das erste Mal vom Warschauer Frühstücksglück des ersten DDR-Friedensfahrer-Sextetts gelesen hatte und spontan an eine Zeitungsschlagzeile aus dem Gesellschaftsteil denken musste, unter der dann Embryologen, Leihmütter und geklonte Dollys gestreift wurden. Kurz vor meiner Abreise hatte mich aber die schnelle Lektüre eines Wie-beiwerktätigen-Muttern-Nostalgiekochbuchs belehrt, dass es sich bei Eiern im Glas gar nicht um eine besonders abscheuliche Reagenzglas-Kreation der Molekularküche handelt. Sondern lediglich um einen lukullischen »Zweieinhalb Minuten sind genug«-Quickie, der ungewohnt serviert wird. Ein veritabler Flottmacher, so scheint mir, für die erste Etappe, die mich auf den Spuren von Täve & Co. nun in einer 105 Kilometer langen Schleife einmal in den Südwesten der Hauptstadt führen soll. Auch wenn dieser Tagesabschnitt in den damaligen Programmheften euphemistisch als »Rund um Warschau« verkauft wurde.
Im Tiefparterre von Warschau will man mir ebenfalls was verkaufen. In den verwinkelten Fußgängerröhren und Treppenhäusern des Hauptbahnhofs entblößt sich sofort in all ihrer kleinteiligen Pracht die große, die leidenschaftliche Krämerseele der Polen. Tante Emma ist nach Masowien ausgewandert und ihr Kollege Krempel gleich mit. Hier wird unermüdlich feilgeboten, gehandelt, verramscht. Wurst und Wundertüten. Grozsy-Hefte in der Zehnerbatterie. Gurken und anderes Gemüse von wächsernem Glanz. Alles gibt es im Vorübergehen, im Vorüberbücken. Nur keine Eier, keine Eier im Glas.
Unter Tage also Huschen und Handel, über Tage reichlich Reißbrett und Raum. Warschau will Wolken kratzen. Wenn es denn nur welche geben würde. Lichtblauer Himmel. Kein Blumenkohl, kein Schleier, keine Schäfchen. Eine für Seratoninhaushalt und Konzentrationsfähigkeit heikle Kombination aus Hochdruck und grellem Licht. Das ist der erste Eindruck des Reisenden, der an einem späten Vormittag im Finale des Aprils in Warschau aus dem Nachtzug gestiegen ist. Auf Augenhöhe überbreite Boulevards, aufgestelzte Schnellstraßen. In der ersten Reihe recken sich die schlanken Zinnen der globalen Turbo-Ökonomie. Mit selbstreinigenden Nanotech-Fassaden und den Logos von Marriott, Volkswagen Polska, Sharp. Erst in Reihe zwei oder drei schreit, mit weitaus mehr Inbrunst jedoch, die kommunistische Babylon-Architektur zum Himmel. Pałac Kultury i Nauki. Der Kultur- und Wissenschaftspalast. Ein wenig wirkt Polens Kapitale aus dieser Perspektive, als hätte man sie per Joystick, Maus und Funktionstaste zusammengesetzt. Mit einer Frühversion von Sim City, die auch auf Rechnern aus dem VEB Robotron lief. Der Mensch wird klein, der Passant ist Randobjekt, der Flaneur im Flächennutzungsplan gar nicht erst vorgesehen. Zumindest nicht in diesem Viertel, diesem Quadrat. Und der Radfahrer? Das muss sich weisen.
Der Radfahrer aus dem Westen muss sich eh erst einmal umkleiden. Vornehmlich entkleiden. Im schmalen Schatten einer Litfaßsäule, deren Kunden wenig Wert darauf legen, im passenden Werbeumfeld gebucht zu werden. Der großformatige Hinweis auf das ausgedehnte deutsch-polnische Freundschafts-Festival mit Zwergendatschi und Halbschwergewichtsboxer klebt Naht an Naht mit dem Plakat für die Tournee eines Todesmetallerkonsortiums, dessen Bandnamen-Schriftzüge unsägliche Dinge mit Föten treiben und jedes harmlose »t« durch ein umgedrehtes Kreuz ersetzen.
Während ich bei meinen halbnackten Verrenkungen vermutlich aussehe, als würde ich russischen Anthroposophen abwechselnd das große »lj« und das altkyrillische »f’« vortanzen, beseelt mich zusehends ein frommer Wunsch: Im Blick der Passanten – und vor allem der Passantinnen – möge nur ein klein wenig der offenen Bewunderung liegen, die Friedensfahrt-Berichterstatter Adolf Klimanschewsky 1952 nach einer Runde durch das Hotel Bristol gestand. Noch am Vortag des Starts hatte er dabei auch die britische Auswahl in ihrer Suite aufgesucht und sich zunächst gedulden müssen, bis die Abendgymnastik unter Leitung von Teamchef Persey Stallard erledigt war: »Mir ist das ganz recht, kann ich doch in aller Ruhe die sehnigen, gut durchtrainierten Gestalten der Engländer betrachten, an denen auch nicht ein Lot Fett zu viel zu sehen ist.«
Man hatte mich ja vorgewarnt, dass es in in der neugierigen Natur vieler Polen liege, das Fremde mit skeptischen Blicken auszuziehen. Doch diese pikierte Wonne, mit der nun die all alten und jungen Dinger, die in den zweieinhalb Minuten meines Trottoir-Striptease in Pumps und Pantinen vorbeischarwenzeln, vergeblich nach meiner Core-Muskulatur Ausschau halten? Eine derart brutale Erniedrigung hatte ich nicht erwartet. All die Damen, die mit ihren Augen geradezu akribisch den weißen Fleischranzen abtasten, der unter meiner Trägerhose hervorlugt. Das lässt mich für die kommende Woche, in der ich ohne Slip drunter durch ein erzkatholisches Land zu pedalieren gedenke, einiges befürchten.
Es ist quasi die Umkehrung dessen, was ich den Initialmoment der Täve-Legende nennen möchte. Jene »Fortan fühlte ich mich als Sendbote des neuen Deutschlands«-Szene, die er via Ghostwriter Klaus Huhn in jeder autobiografischen Erzählung aufs Tablett bringt. Jene bruderstaatliche Gefühlswallung, an die er sich auch während meines Besuchs in Heyrothsberge erinnerte. In eindringlichen Worten, bei denen es meinem Nervensystem bis zuletzt schleierhaft blieb, ob es nun die Signale für »warm ums Herz« oder »ein wenig bang ist mir schon« aussenden sollte.
Es war das einzige Mal in den zweieinhalb Stunden bei Kaffee aus vorgewärmten Tassen, bei Kuchen, Obstsalat und wegen allgemein grassierender mallorquinischer Rüsselseuche schnell noch aus der Garage herbeigezaubertem Heizstrahler, dass er wie aufgezogen für Rednerpult oder Aktuelle Kamera wirkte. Das einzige Mal, dass er für zwei, drei Minuten in jenes volkskammergeschulte Sendungsbewusstsein verfiel, von dem ich zuvor befürchtet hatte, ich müsste mich unter ihm die ganze Zeit wie unter Dauerfeuer ducken.
War das nun echtes, unverdünntes Herzblut? Oder doch nur die einstudierte Pose eines Mannes, dessen gesellschaftliche Aufgabe es lange Jahre gewesen ist, der Partei, die immer Recht hat, ein nettes Gesicht von tadellosem Sportsgeist und harmloser Leutseligkeit zu schenken – und bisweilen ein paar parabelfähige Pedalritter-Histörchen, die das Hohe Lied auf Arbeiter- und Bie-nenstaatwerte anstimmten, auf Kameradschaft und Kollektiv, Fleiß und Opferbereitschaft? Das literarische Werk, das im Laufe der Jahrzehnte unter dem Namen Gustav-Adolf Schurs erschienen war, mochte ja Letzteres nahelegen. Doch seine Augen drängten dem Gast aus dem Westen mit epochaler Strahlkraft erstere Lesart auf.
Da saß der junge Täve also nun, neunzehn war er gerade mal, auf dem Lenker seines auf die Seite gelegten Rennrads. Als »Benjamin der DDR-Auswahl«, wie das in den zeitgenössischen Berichten hieß. Zum ersten Mal im Ausland. Zum ersten Mal in Warschau. Oder was davon übrig war. »Wo du auch hingeschaut hast – puh, überall nur Trümmer und zerstörte Häuser. Alles kaputt. Junge, Junge. Scheibenkleister … Das Bild ist unauslöschlich in meinem Kopf, das kehrt immer wieder … Du hockst da auf deinem Rad, wartest auf den Ehrenstart, und denkst nur: Mensch, wer hat das alles kaputt gemacht? Da hast du soooo ein schlechtes Gewissen – bist ja nicht blöd, weißt ja genau, wer das war … hmmm, hier bedien dich noch … Und die Menschen da, so abgehärmt sahen die aus, weißt du … probier doch auch mal eine, hier die Schnecken sind gut … Und da steht da plötzlich ein altes Mütterchen, ganz verhärmt, und schaut dich durchbohrend an. Dich auf deinem Rad, in deinem schicken weißen Trikot. Mensch, was mögen die wohl von dir denken? Jetzt sitzt hier schon wieder einer von denen?!? Kerl, wurde mir da bewusst, auch du hast etwas gut zu machen. Das war eine unwahrscheinliche Verpflichtung, die ich mir damals auferlegt habe.«
Ich indes muss gestehen, dass ich mir im Angesichte durchdringender Blicke diverser Polinnen einen ganz anderen Schwur auferlege: Liebe Weichselaphroditen, das hier war gewiss mein letzter Kniefall in Warschau. Euch werd ich’s schon zeigen. Jahaha, auch unter einer stramm sitzenden Trägerhose kann sich ein halbwegs ansehnlicher Motor verbergen. Hey, und jetzt, wo ich endlich ein Trikot übergestreift habe, da könntet ihr eigentlich auch ruhig mal einen Blick auf jene Körperpartien werfen, auf die anhaltendes Radfahren eine ähnliche Wirkung entfaltet wie eine Feuerwehrspritze Botox. Schaut doch mal lieber auf meine Waden! Zwar nicht rasiert, aber für die Cruisergewichtsklasse der Senioren I durchaus akzentuiert … Fortan fühle ich mich als Sendbote des neuen Straßenrittertums.
Die erste Person, die von dem Angebot Gebrauch macht, mich von Kopf bis Fuß zu beäugen, trägt jedoch leider keineswegs die Züge einer Aphrodite, eher die eines astreines Bastards aus zwei einflussreichen Nebenfiguren der Sportgeschichte: Jacques Goddet und Jackie Charlton. Irgendwer scheint sie verrührt zu haben. Die Gene des langjährigen Tour-de-France-Direktors, der an heißen Renntagen gern in der Uniform eines Kolonialoffiziers aus dem Führungsfahrzeug ragte. Und die DNS des einstigen irischen Nationaltrainers, der vornehmlich für begeisternd stupides Kick & Rush und einen unsäglich langen Hals in Erinnerung geblieben ist. Vor dem ehrwürdigen Hotel Bristol an der mondänen Krakowskie Przedmieście patrouilliert als Wagenmeister eine hagere, giraffenartige Gestalt, die in die Paradeuniform der Fremdenlegion geschlüpft ist. So hat der zahlungskräftige Gast gleich bei der Ankunft das Gefühl, in dieser Fünf-Sterne-Herberge den Hauch glänzender Epochen atmen zu dürfen. Und es genügt ein einziger vernichtender Blick aus 2,10 Meter Höhe hinab auf nacktes Gebein, um einem Radtouristen den ersten Paragrafen der Hausordnung unmissverständlich einzutrichtern: An diesem Portal sollte nur Einlass begehren, wer mit mindestens 400 PS unter der Haube vorgefahren kommt.
Das Studium der Speisekarte erspare ich mir lieber gleich – in der sicheren Ahnung, dass im Kaffeehaus des Bristol selbst eine Kinderportion Eier im Glas mein komplettes Tagesbudget dahinraffen würde. Notgedrungen nulle ich mit weiterhin nüchternem Magen den Radcomputer. Denn auch das große gelbe Leuchtstoff-M, das ich auf dem Weg vom Bahnhof zu Warschaus berühmter Flanier- und Zungenbrechermeile passiert hatte, ließ mich nur kurz mit dem Gedanken spielen, die Frühstücksfrage in Manier des anspruchs- und risikoscheuen Globalbürgers zu lösen. In Form eines Egg McMuffin sollte mir das Zwei-Minuten-Ei dann doch nicht in die Tüte kommen. Nicht ins Glas, nicht in den Pappbecher.
Wenn Eier im Glas also nicht zu haben sind in Warschau, rede ich mir ein, so kann ich aufs Essen ja auch ganz verzichten. Warum nutze ich – auch eingedenk der vernichtenden Passantinnenblicke – den Tag nicht ganz bewusst für eine knallharte Fettverbrennungseinheit? Die notwendige Motivation für das Fasten auf Rädern ziehe ich schnell noch aus einem weiteren Zitat des eng-lischen Auswahltrainers. Aus Worten, drei Dutzend an der Zahl, die einst wohl deshalb so eifrig aus dem Hotel Bristol in alle Welt hinaustelegrafiert wurden, um das hartnäckige Vorurteil auszurotten, im Polen des Jahres ’52 ernähre man sich noch von dünner Suppe aus ausgekochten Hirschhornknöpfen: »Wir Engländer sind das viele Fleisch und das so reichhaltige Essen nicht gewohnt. Ich muss ordentlich aufpassen, dass meine Boys nicht zu viel essen und Fett ansetzen. Das wäre wirklich die einzige ›Beschwerde‹, die ich vorzubringen hätte.«
Wir Ostwestfalen indes, wir sind die vielen Fahrbahnen metropolitaner Boulevards und die reichhaltigen Spontanentscheidungen polnischer Straßen- und Bürgersteigbenutzer nicht gewohnt. Ich muss mächtig aufpassen, dass Legohr nicht unter Bus- und Breitreifen kommt. Immerhin, die praktische Quintessenz der Warschauer Verkehrserziehung wird mir binnen weniger Kilometer nach dem Hau-Ruck-der-falsche-Gang-ist-drin-Prinzip eingebläut.
§ 1: Als Herr berausche man sich an den klangtechnischen Möglichkeiten der Automobilindustrie. Wird die Ampel grün, dann möge der Motor jaulen wie ein regimentsstarker Klageweiberchor am Karfreitag – auch wenn daraus letztlich nur eine eher erbärmliche Jeder-Fiat-kann-ein-Dragster-sein-Nummer resultiert, die schon vierhundert Meter weiter vor der nächsten roten Ampel endet.
§ 2: Als Dame indes übe man sich in grenzenlosem Stoizismus. Das hat seine engelsgeduldigen Sonnenseiten, wenn die Hupe und das Reservoir an Flüchen auch dann unangetastet bleiben, wenn an der Kreuzung ein tumber Radfahrer mit packtaschenbedingter Überbreite die komplette, per grünem Pfeil freigegebene Rechtsabbiegerspur versperrt. Das kann aber auch heikle Ausweichund Bremsmanöver provozieren, wenn mal wieder ansatzlos allzu Hochhackiges quer über die Straße stöckelt. Ohne den geringsten Anflug eines Seitenoder Schulterblicks. Und in dem festen Glauben, wenn die Karfreitagsweiber nicht jaulen, dann käme schon keiner.
Als ich die Weichselbrücke und das Gerippe des Nationalstadions erreiche, das am Ostufer Gestalt annimmt, beneide ich die echten Friedensfahrer doch ein wenig. Rollten die doch damals nach der Eröffnungsfeier im Armeestadion unbehelligt von Lichtzeichenanlagen, Verkehrsrowdys und abrupt im Kiesbett endenden Fahrradwegen in einer lockeren, verfrühten Tour d’Honneur zum scharfen Start des Rennens auf der Grochowska-Straße. Durch ein dichtes Spalier von Menschen, die ihnen begeistert Blumensträuße und Kusshände zuwarfen. Andererseits lobe ich mir aber auch mein Dasein als gänzlich unerkannter Tourist und bekennender Held der Freizeit, der ohne offiziellen Botschafter-Auftrag einfach sein Tagespensum an Kilometern abzuspulen hat. So bleibt mir zumindest jenes ominöse, mit der reinen Lehre der Trainingswissenschaft kaum kompatible Oberkörper-Workout unmittelbar vor der Auftaktetappe erspart. »Viele Teilnehmer erklärten sich zu unbezahltem Arbeitseinsatz in der Trümmerlandschaft Warschaus bereit«, heißt es in den Chroniken: »Drei Stunden wurde geschippt und geschleppt.«
Der erste leibhaftige polnische Rennradfahrer, den ich zu Gesicht bekomme, im quietschgelben Dress fliegt er mir mühelos davon. Mit unbehelmt wehenden Zotteln. Und einer Eilsendung auf dem Rücken. Was auch erklärt, warum der effektive Geschwindigkeitsunterschied so eklatant ausfällt wie zwischen Rolls Royce und Rollator: Er ist Kurier und weiß wo’s lang geht – und sei’s im Slalom durch den vorfahrtsberechtigten Kraftverkehr. Ich bin Gast hier, noch dazu im Anfängerstadium, und halte mich vorerst tunlichst genau an Recht, Ordnung und Ampeln. Und Letztere diktieren viel Stop und wenig Go auf der zigspurigen Ausfallstraße, die leider nicht Grochowska heißt. Immer noch nicht.
Oder? Ja. Doch. Jetzt. Schon. Im Augenwinkel glaube ich, das Straßenschild wahrgenommen zu haben. Vollbremsung Nummer vierzehn auf den letzten zweieinhalb Kilometern. Die imaginäre Startlinie meiner ersten Etappe ist erreicht. Kein Banner, kein Menschenauflauf. Ein einsamer Passant strolcht in einen Verschlag mit der Überschrift »24h Alcohole«. Neben mir ein Laternenmast aus grobkörnigem Beton. Auf Augenhöhe hat jemand einen bunt lackierten Motoradhelm vertaut. Darunter welken die grauen Reste eines Blumengebindes.
Der Start zur großen Friedensfahrt, das war der ganz große Bombast vor vollbesetzten Rängen. Irgendwo zwischen Spartakiade-Ouvertüre und einer Militärparade ohne Panzer. Die Eröffnungsfeier 1952. Sechzigtausend im Armeestadion. Ministerpräsident Josef Cyrankiewicz lässt sich als Ehrengast beklatschen. Die eigentlichen Protagonisten der kommenden zwei Wochen machen vorerst brav Männchen. Aufgestellt in Riegenformation auf dem Rasenkarree. Schon zwei Tage zuvor hat, so Klimanschewsky, der legendäre Marschall Konstantin Konstantinowitsch Rokossowski, »heldenhafter Verteidiger von Stalingrad« und »Lehrmeister der polnischen Armee«, die versammelten Mannschaften willkommen geheißen. Als radelnde Bannerträger »des Friedenslagers, an dessen Spitze die unbesiegbare Sowjetunion steht«.
Nun aber ist Cassmann dran, Chefredakteur der mitausrichtenden Trybuna Ludu, die ihrem Namen »Volkstribüne« an diesem Tag auch buchstäblich viel Ehre macht. Bevor er die Eröffnungsformel aufsagt, buckelt er noch mal wie der sprichwörtliche Radfahrer vor dem großen Bruder mit Hammer, Sichel und Vierkantschnauz: »Ich hoffe, dass diese Friedensfahrt ein wichtiger Beitrag im Kampf der Völker um den Frieden sein wird, einem Kampf, an dessen Spitze die Sowjetunion steht mit ihrem Führer, Josef Wissarionowitsch Stalin.« Auf ein vereinbartes Zeichen hin öffnen Warschaus Geflügelzüchter ihre rund um die Laufbahn verteilten Verschläge. Zwanzigtausend Ratten der Lüfte erheben sich panisch flatternd in eben jene. Dann ist es so weit: »Der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik in der Republik Polen, Frau Änne Kundermann, zerschneidet um 15 Uhr das weiße Startband und gibt damit die 2.087 Kilometer lange Strecke frei zum friedlichen Wettkampf um den Sieg in diesem schweren Straßenrennen.«
In Anbetracht der Tatsache, dass zur Mittagsstunde weder Volk noch Tribüne am Beginn der Grochowska zugegen sind, kann ich es bei einer schnell dahingenuschelten Eröffnungsrede belassen, eigens gebastelt aus O-Ton Cassmann und dem Olympischen Eid, der 1952 zeitgemäß gewesen wäre. Aus der Trikottasche krame ich den Spickzettel hervor: »Hiermit erkläre ich meine I. Friedensfahrt Warschau–Berlin–Prag für eröffnet. Ich schwöre, dass ich diese Tour als ehrenwerter Kämpfer bestreiten, die Regeln des Verkehrs achten und mich bemühen werde, pedalritterliche Gesinnung zu zeigen, zur Ehre meiner Familie sowie meines Ausrüsters Stevens Bikes und zum Ruhme des Velosports.«
Sodann bekreuzige ich mich, wie es mir in Polen irgendwie schicklich erscheint, um mir dann selbst ein »All Heil« mit auf den Weg zu geben. Was ja immer – und auf Warschauer Boden umso mehr – ziemlich blöde, gestrig und daneben klingt. Aber es ist nun mal das »Hals- und Beinbruch« der Radfahrer. Unser Drei-Mal-über-die-Schulter-Spucken. Als ich zur Sicherheit auch Letzteres noch zu praktizieren versuche, treffe ich anderthalb Mal die noch ungewohnten Gepäcktaschen an Legohrs Heck. Woraufhin mich ein beinahe panischer Fluchtinstinkt übermannt. Meine Friedensfahrt, sie rollt.