Читать книгу Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt - Rainer Sprehe - Страница 15
Von Königen und Hexen
ОглавлениеChristoph Dieckmann ist es zu verdanken, das auch in der hanseatischen Zeit noch gelegentlich an die kleinen, großen, ganz privaten Momente des DDR-Sports erinnert wird, erlebt mit der bebenden Brust des Stehtraversen-besuchers. Oder eben mit staunenden I-Dötzchen-Augen, die den lärmenden Lindwurm der Friedensfahrt vorbeirasen sehen. »Du sitzt im alten Klassenzimmer, über dem Schulaufsatz. Du schreibst mit fliegender Hand, denn wer fertig ist, darf gehen. Du rennst: zum Brauereiberg, wo das Volk sich ballt. Schon jagen die Fahrer heran, durch Jubel und Fähnchengeschwenk.« Ließe sich schöner in Worte fassen, dass die Internationale Friedensfahrt stets auch eine Art Schneekönigreich war? Der Kondensationspunkt lange währender Vorfreude. Ein alljährlich wiederkehrendes Frühjahrsmärchen.
Für ganze Generationen von Schülern zwischen Rostock und Riesa gab es im Mai nur ein Thema. Zwei Wochen lang bestimmte die Friedensfahrt alle Gespräche auf dem Schulhof. Und auch den freien Nachmittag. Wer das Glück hatte, in einem Etappenort zu wohnen, stand mit Programmheft bewaffnet am Streckenrand, um in dem Irrsinn, der in Armlänge vorbeirauschte, den persönlichen Favoriten auszumachen. Wer nicht, schwang sich selbst aufs Tourenrand, um bei Rund-um-den-Pudding-Rennen in die Rolle seiner Helden zu schlüpfen. Oder er eilte wie der junge Christoph Dieckmann »rasch heim, ans Radio. Fanfare, dann beorgelt Waldefried Vorkefeld aus dem rollenden Übertragungswagen das Auf und Ab der Etappe. Und nun nur noch ein Kilometer bis hinein in das Erfurter Stadion …« Gegen Abend dann, wenn die letzten Fanfaren verklungen und alle aufgeschürften Knie versorgt waren, ging’s an die Bastelarbeit. Eilig wurden Schere und Duosan Rapid ausgepackt, um das private Friedensfahrt-Album auf den aktuellen Stand zu bringen oder die Wandzeitung fürs Klassenzimmer.
Aber auch im Tross des Rennens herrschte allenthalben Ferienlagerstimmung. Insbesondere die Herren Pressevertreter – und offenbar handelte es sich ausschließlich um Herren – ließen bei ihrer internationalen Maitour wenig anbrennen. Da kreiste schon mal der Hochprozentige in den kleinen IFA-Omnibussen, in denen die schreibende Zunft das Rennen verfolgte. Und selten dürfte die Gelegenheit für einen kleinen Flirt ungenutzt verstrichen sein, dem sich vornehmlich die für Dolmetscherdienste abgestellten Hostessen zu erwehren hatten. »Ich schätze sie auf 22 Jahre, […] und was ich noch mehr schätze: Sie ist bildhübsch«, schrieb mit ordentlich Testosteron in den schlimmen Fingern der Ostberliner Journalist Horst Schubert in seinem Etappengeflüster: »Danuta heißt sie und ist ein goldrichtiges Warschauer Kind.« Wen wundert’s da, dass auch der westdeutsche Handwerker nicht untätig blieb. Zumindest, wenn man der Friedensfahrt-Reminiszenz glauben darf, die ein rheinischer Amateur auf seine Internetseite gestellt hatte. Demnach habe der Mechaniker seines Teams nicht einmal einen Werkzeugkasten dabeigehabt, nur ein paar Inbusschlüssel im Kulturbeutel, derweil er sich aber als ausdauernder Freund der für West-Devisen preiswert käuflichen Liebe erwiesen habe.
Die Teilnehmer selbst dürften, unter dem gestrengen Regiment der Regeneration für die nächste Etappe, größere Enthaltsamkeit an die Nacht gelegt haben. Doch auch ihnen bescherte die Friedensfahrt reichlich Stoff für »Mein schönstes Ferienerlebnis«-Aufsätze. »Eine glänzende Idee der Organisatoren sind die beiden Postkarten, die man frankiert jeden Abend in seinem Hotelzimmer findet«, lobte zum Beispiel im Mai 1976 der Schweizer Michael Kühn. »Ich habe sie dringend gebraucht, um meine vielen Eindrücke nach Hause zu schreiben.« Was umso mehr für die vielen Rennfahrer aus exotischen Landen gegolten haben mag, die bei der Friedensfahrt starten durften, obschon ihr Abstand zur Weltspitze sich eher in Lichtjahren bemaß. Denn aufgrund eines Reglements der offenen Arme bot sich bei Warschau–Berlin–Prag so manchem Coureur aus der Radsport-Diaspora die einmalige Möglichkeit, seinem Hobby vor großem Publikum zu frönen. Jahr für Jahr standen Fahrer in den Start-listen, die das Peloton stets sehr bald ziehen lassen mussten. Und doch durften auch diese einsamen Nachzügler mit der Gewissheit in die Pedale treten, dass am Etappenziel noch etliche tausend Zuschauer lange ausharrten, um auch die Letzten einfahren zu sehen. Fahrer mit Namen wie Nambaldorch und Chajanchjarvaa, die sich im Angesichte der Kreidelinie dann bisweilen sogar noch energische Ellbogenduelle um den vorletzten Etappenplatz lieferten …
Umso verdutzter bin ich nun, dass meine Beine nach dem scharfen Start keineswegs in euphorischer »Jetzt geht’s los«-Manier in die Pedale langen. Ich undankbarer Tropf. Da fährt der Kerl doch so gern Fahrrad. Da beklagt er sich laufend ganz bitterlich, dass ihm die Pflichten des Alltags zu oft einen Strich durch derlei Ambitionen machen. Da hat er nun zwei volle Wochen zur freien Verfügung, in denen er nichts weiter tun muss, als seine Kräfte in genüsslicher Sinnlosigkeit auf eben diese Weise zu zertreten. Da sollte man doch meinen, dass er ob dieser Aussicht im Nu so aufdrehen müsste wie ein Red-Bull-Männchen, das nicht nur Glukose und Taurin im Tank hat, sondern auch ausgiebig aus der Olympia-Apotheke der Freiburger Universitätsklinik naschen durfte.
Aber nichts da. Keine Freude, Freude treibt die Räder … Ich rolle mit spürbar gebremstem Schaum. Finde keinen Rhythmus. Bin seltsam bedrückt. Drei Gründe, drei Miesepeter verhageln mir den beschwingten Tour-Auftakt. Die Sonne. Die Straßen. Die Schergen der SS.
In gehetzter Mutation schwillt die Verlängerung der Grochowska hauptstadtauswärts zu einem tosenden Strom an, der die Alarmglocken schrillen lässt: Uuuiiiuuuiiiuuuiii! Bald fürchte ich ernsthaft, mich samt Legohr schon in Kürze zwischen Ölspuren, gesperrten Ausfahrten oder unfreiwillig auf der Fahrbahn gestrandeten Metallteilen und Wiederkäuern einreihen zu müssen. Im Verkehrsfunk des polnischen Radios. So nutze ich die erste Gelegenheit, die Europastraße 30 zu verlassen, um mich auf weniger befahrenen Routen durchzuschlagen. Wawer steht auf dem Ortsschild, dem erstbesten.
Wawer? War da nicht wer? War da nicht was? Im Nu schaufeln die zur Reproduktion abgestellten Hirndrähte manch gräuliche Gedächtnisspur frei. Weih-nachten ’42. Das Massaker von Wawer. Willkürterror der deutschen Besatzer. Der schreckliche Max Daume. Das Standgericht. Mehr als einhundert wahllos exekutierte Opfer …
Mich packt und lähmt das ungute Gefühl, das auch bei Reisen durch Belgien oder Frankreich mitunter unvermittelt zuschlägt. Radsportfieber am Kemmelberg, der Schlüsselstelle des klassischen Eintagesrennens Gent–Wevelgem. Massensturz mit Ziehharmonikaeffekt auf der Abfahrt, offenes Fleisch in zerfetzten Radhosen, zertrümmerte Schlüsselbeine, gestandene Profis schreien zum Gotterbarmen. Nach ihrer Mutter. Und nicht mal einen Steinwurf entfernt: der lähmende, der lautlose Schrei. Ein französischer Soldatenfriedhof, überragt von einem Obelisken. Ein anderes Erlebnis, 250 Kilometer weiter südwestlich. Kameralächeln im Dunstkreis von Notre Dame. »Cheeeeeese« und »Ameisenscheeeiiiiiße« vor der pittoresken Kulisse der Île de la Cité. Und erst zu Hause, wenn Schlecker den Film entwickelt hat, merkst du, dass ihr in Paris wie irre vor dem Mahnmal für die Deportierten grient.
Ich ahne, dass polnische Straßen diesbezüglich schwer vermintes Terrain sein könnten. Dass ich in hoher Frequenz auf Relikte und Mahnmale der Hölle stoßen dürfte, der von Menschen, von Landsleuten gemachten Hölle.
Roman Sieminski fällt mir ein, der polnische Rennfahrer. Zweiter war er bei der Friedensfahrt-Premiere 1948. Doch erst viele Jahre später kann er über das sprechen, was davor gewesen ist. Mit neunzehn gehört er zu den großen Talenten des Landes, wird erstmals in die Nationalmannschaft berufen, doch dann überfallen die Deutschen seine Heimat, und an eine Fortsetzung der Karriere ist nicht mehr zu denken. Um halbwegs in Form zu bleiben, besorgt sich Sieminski eine Art Rikscha. Mit der schmuggelt er auch Lebensmittel nach Warschau hinein, für die darbende Bevölkerung. Bis ihn eines Tages die Polizei der Besatzer schnappt. Sieminski wird deportiert, ins KZ Mauthausen-Gusen. »An mir wurden medizinische Experimente durchgeführt, Löcher in die Nieren gebohrt«, lesen wir in den 100 »Highlights« Friedensfahrt des Autorenduos Hönel und Ludwig. Sieminski überlebt die Hölle, wieder zu Hause tauscht er die letzte Habseligkeit der Familie – eine Fotokamera – gegen ein Fahrrad. Und fährt wieder Rennen, wird zwei Mal Landesmeister auf der Straße, vertritt sein Land mehrfach bei der Friedensfahrt …
»Hast auch du noch Dreckreste am Stecken?«, frage ich mich da unweigerlich. »Du, als Pillenknicker, auf den Tag genau dreißig Jahre nach Hitlers Einzug in die Wolfsschanze geboren? Klebt noch Blut an deinen Reifen? Hast auch du was gutzumachen?« Nein, das wohl nicht. Wie sollte das auch gehen? Etwas wieder gutmachen? Wie vermessen wäre das? Aber … aber … es bleibt dieses große Aber. Ein Aber, das mich in die Pflicht nimmt, lieber leise zu treten. In Wawer schwöre ich mir, während der ersten Tage dieser Expedition keines der Pauschalvorurteile neueren Datums leichtfertig zu bedienen, die der gemeine Pole gegen den gemeinen Deutschen hegen könnte. In Wawer nehme ich mir vor, mich möglichst an Marie Kingsleys berühmte Begrüßungsfloskel zu halten: »Ich bin’s nur.«
Glücklicherweise ist die Ausgangsposition nicht die schlechteste. Die mit viel Gröhlen verbundenen Urlaubsabenteuer der Deutschen halten sich ja im Allgemeinen von Ressorts fern, die schon in den Weltkriegen von ihren Opas mit Artilleriefeuer überfallen wurden, kaprizieren sich lieber auf österreichische Hüttengaudi oder spanische Bierstraßen – mitnichten auf Weichselstrände oder böhmische Dörfer. Theo, wir fahr’n nach Lodz hat es vermutlich noch nicht auf einen Ballermann-Hit-Sampler zusammen mit Olé, wir fahr’n in’ Puff nach Barcelona geschafft. Außerdem sitze ich nicht auf der Überholspur im Mercedes mit Kennzeichen D, der schnell den Verdacht nähren könnte, er sei mit den eBay-Erlösen aus geraubten Kunstschätzen bezahlt worden und befördere eine Vorhut des Erika-Steinbach-Fanclubs. Ich hocke auf einem schlicht schönen Fahrrad. Mithin auf einem Vehikel, das seinen Passagier qua international einvernehmlicher StVO überall zur Randfigur macht. Zu einer Randfigur, der nicht viel anderes übrigbleibt, als widerstandslos zu schlucken, was Autofahrer und Straßenverkehrsbehörden an Emissionen und Erschütterungen für sie in petto haben.
Da kommt in Warschaus Ausläufern eine Menge zusammen. Noch in den Grenzen Wawers lerne ich im Eilverfahren, nach welchem Muster in polnischen Ballungsräumen die Arterien des Straßennetzes gestrickt sind: Ein Band aus grobem Asphalt, durch jahrelangen Gebrauch seitens Fuhrwerk und Winterwitterung kunstvoll zum Schlagloch- und Spurrillenteppich verwebt, fällt an seinem einfallsreich Haken schlagenden Rand abrupt in eine zwei, drei Meter breite Sandkuhle ab, eine Art Multifunktionsfläche, die als Park- und Spielplatz dient. An diese schließt vor den privaten Grundstücksgrenzen dann ein schmaler Pfad aus Waschbetonplatten an, die paarweise nach dem Vorbild tektonischer Verschiebungen verlegt sind. Was hätte wohl Friedensfahrt-Pionier Karel Tocl in seiner Kladde notiert, wenn man ihn sechzig Jahre später zur Streckenerkundung geschickt hätte: »Rund um Warschau mit dem Rennrad?!? Ach Gottchen, die Straßen sind so beschaffen, dass vielleicht Mountainbikes mit extradicken Stollen vorankämen, ohne unterwegs liegenzubleiben.«
Zumindest wundere ich mich jetzt nicht mehr über den Hinweis, den ich in einem renommierten Globetrotter-Kompendium unter dem Stichwort »Polen« gefunden hatte: Hier existiere die – ausländischen Touristen allerdings erlassene – Pflicht, einen Fahrradführerschein zu erwerben und im Sattel stets mit sich zu führen. Die beiden vornehmsten Aufgaben der Fahrprüfung dürften im Volksmund als »Windschiefe Ebene« und »Rüttelsieb« gefürchtet sein.
Ist dies eigentlich schon der Speckgürtel der Hauptstadt? Der Massenwohnraum in Form von Block, Silo, Zeile hat dem Einfamilienhaus mit Garten Platz gemacht. Im Großraum Warschau ist derlei offenkundig nur im »Bundle« erhältlich. Zu einem solchen Paket gehört nebst dem Gebäude zunächst mal ein imposanter Zaun. Vornehmlich das beliebte Modell »Gutsherrenart«, dem trotz aller kunstvoll gedrechselten Zinnen und Streben aber kaum Feudales anhaftet. Der Fertigungsweise aus rasch verwaschenem Gussbeton ist’s geschuldet. Abgerundet wird der Kaufvertrag fürs Eigenheim dann mit einem Pflicht-Abo für die »Systemy Alarmowe«- und »Monitoring Objektów«-Dienste eines per Gewerbeschein legitimierten Knochenbrecherkommandos, dem der Ruf vorauseilt, eher zackig denn zimperlich aufzutreten.
Zur Abschreckung etwaiger Tage- und Unterhaltungselektronikdiebe hängen an jedem Zaun also kinderhandtuchgroße Äquivalente zu den »Hier wache ich«-Schildern in deutschen Landen. Illustriert allerdings nicht mit dem Antlitz der wachsamen Senta, sondern mit schnabelfletschenden Adlerköpfen. Oder mit Logos, die schamlos bei den Uniform-Abzeichen amerikanischer Prügelcop-Serien abgekupfert wurden. Die Botschaft ist eindeutig: Finger weg, sonst auch in deinem Schmerzzentrum bald ziemlich Alarmowe.
Das Heilbad Otwock, beliebtes Ausflugsziel gestresster Hauptstädter, bringt ein wenig Luftveränderung. Mächtige Kiefern von beträchtlichem Alter, die teils direkt an die Straße rücken. Herrschaftliche Sanatorien, die einst Tuberkulosekranke verwahrten. Die Świder, wie verwunschen in braunem Modder dahindümpelnd. Manch putzig verwachsene Holzvilla. Und ein ganzes Geschwader an Senioren vom Stamme Janek-guck-in-die-Luft, die es sich im Abstand von exakt hundertfünfzig Metern auf dem Rumpelpflaster des ge-meinsamen Rad-Fuß-Wegs gemütlich gemacht haben. Und dort der Dinge harren. Oder des nächstbesten Radfahrers, dem sich etwas hinterherrufen lässt.
Den ersehnten Rhythmus beschert mir auch das nicht. Als Radreisenovize, der erstmals mit prallen Packtaschen ganz allein durch fremde Lande juckelt, stehe ich gerade in der Pflicht, mich mit einem ganz neuen Weltbild anfreunden zu müssen. Sie ist sehr seltsam, diese Erfahrung, aber so sehr ich auch in die Pedale trete, habe ich doch – wie es unter Radfahrern heißt – nur das Gefühl, »höchstens die Erdrotation zu beschleunigen«. Und dabei keineswegs die Welt aus den Angeln zu hebeln, sondern höchstens wichtigen Knorpel-Sehnen-Einheiten dauerhaft Schaden zuzufügen.
Ich komme nicht voran. Die Suppe läuft mir aus dem Helm. Mein Trikot schreit schon nach Rei aus der Tube. Mein Motor ist trotz der noch mehr als überschaubaren Zahlen auf dem Taxameter bereits heiß gelaufen. Die Worte, die Stanislaw Krolak nach seinem ersten Friedensfahrt-Etappensieg in die Mikrofone hechelte, liegen mir auf der sandpapiernen Zunge: »Meine Lunge kocht wie ein Samowar.« Sol imnia regit. Die Sonne regiert alles. Aber in einer Klima-Demokratie, da würde ich den Schatten wählen.
Die Karte verheißt eine schmale graue Linie, die sich durch einen ansehnlichen grünen Klecks in Richtung des designierten Wendepunktes Kołbiel windet. »Mazowiecki Park Krajobazowy« ist darauf vermerkt. Ein Naturpark. Bestimmt herrlich dichter Wald, der die direkte Sonneneinstrahlung verschlingt und ein reichhaltiges Sortiment frisch aufbereiteten Sauerstoffs darbietet. Doch kaum fünfhundert Meter nach der Einfahrt in den Park wünsche ich mir bereits das Reifenprofil und die Kräfte eines Schaufelradbaggers. Nach weiteren fünfhundert Metern resigniere ich. Die Aussicht, noch zehn Kilometer schlingernd durch tiefen Treibsand würgen zu müssen, lässt rasch die Erkenntnis reifen, dass dies mehr PS und Fahrfertigkeiten verlangen würde, als ich zu mobilisieren verstünde.
Ohne Bindemittel verzehrt der Heidesand im Nu jedweden Vortrieb. Hier hat es seit Wochen nicht geregnet. Umso suspekter wirkt der Wetterschutz über dem Haltepunkt von Waldprozessionen, den ich auserkoren habe, Zeuge eines fulminant missglückten Wendemanövers zu werden. Mehrere Bäume wurden auf Volleyballnetz-Höhe gekappt und mit Bauteilen von Vogelhäuschen versehen, als Baldachin für allerlei Kruzifixe, Nippesfiguren und Miniaturgemälde mit dem Antlitz der Mutter Gottes. Einen Meter weiter ertrinken vier leere Bierpullen im Wüstensand.
Eigentlich ist der öffentliche Genuss von Alkohol, so war per eindringlich formuliertem Dekret zu vernehmen, in Polen mittlerweile unter Geldstrafe verboten. Doch entweder rangieren im Lande drehzahlresistenter Wodkaliebhaber die läppischen fünf bis sieben Volumenprozente, die ein Braumeister im Hause Tatra oder Tyskie zuwege bringt, noch nicht unter Alkoholika. Oder aber das Dekret treibt die Verzweifelten zum Saufen in den Wald.
Der nächste Versuch, Kołbiel mit Hilfe der GPS-Uhr nach dem Himmelsrichtungsprinzip anzusteuern, führt mich mittenmang hinein in das benachbarte Industriegebiet. Weiträumig ist es und verlassen. Von Gott und den Menschen. Straßen so holprig, dass man sein Gleichgewichtsgefühl auch ohne Saufgelage ausschalten kann, und so breit, dass selbst ein Trucker, der sich zuvor im Wald auf Betriebstemperatur getankt hat, noch problemlos in einem Zug wenden könnte. Am linken Fahrbahnrand steht einsam ein Anhänger in der prallen Sonne. Irgendwer schlägt von innen panisch gegen die Plane. Dann fängt es an zu schnattern. Aus dutzenden von langen Kehlen.
Bald darauf endet der Brummiboulevard vor einer verrammelten Tor-einfahrt. Dahinter ragt ein mächtiger Schlot in den Himmel, wie ein Leuchtturm in seinem rot-weiß-gestreiften Dress. Als Landmarke wird er mich in der nächsten halben Stunde auf Tritt und Tritt begleiten. Mich gruselt. Denn als ich den Anhänger zum zweiten Male passiere, schweigen die Gänse. Hinter der Plane ist nun Ruh’.
Die hat sich auch auf Brzezinka und Lukowiec gelegt. Verstreute Weiler, in denen selbst die Hunde den Eindruck machen, als seien sie soeben zurück von einem Kuraufenthalt in Otwock. Freilaufende kleine Bertis, auf deren Wadenbeißermentalität sich vor Reiseantritt viele meiner Manschetten kaprizierten, traben nun klag- und zahnlos neben mir hier. An der prägnantesten Weggabelung jeder Ortschaft hockt ein gemauerter Marienschrein, geschmückt mit Bändern und Fähnchen, wie die Tiefparterre-Ausführung eines bajuwarischen Maibaums.
Vielleicht hätte ich mich beim Anblick dieser heiteren Arrangements vorsichtshalber noch ein Mal bekreuzigt, hätte ich bereits geahnt, was die nächste Stoppschildkreuzung bringen wird. Das Armageddon für Radfahrer. Die »rote 50«. Eine Straße zum Frommwerden. Fest in der Hand des Schwerverkehrs. Der einzige Weg nach Kołbiel. Fünfzehn alternativlose Kilometer schnurstracks geradeaus durch ausgedehnte Äcker und Kiefernforste. Mir bleibt ein schmaler, maroder Seitenstreifen, der sich bisweilen kritisch verjüngt oder unversehens in Rollsplittverwehungen auflöst. Unter »Sicherheitsabstand«, so viel steht rasch fest, brauche ich gar nicht erst in meinem Pocket-Langenscheidt nachzuschlagen. Das polnische Äquivalent fände sich vermutlich nicht mal in der fünfbändigen Komplettausgabe.
Was machen eigentlich die Hühner da direkt an der Straße? Das frage ich mich gleich zwei Mal. Und: Worauf warten die? Auf den Tod. Und auf Kundschaft. Die einen picken im Gras der Böschung nach Gewürm und schwanken noch, ob sie in den Freitod unterm mannshohen Pneu gehen sollen. Die anderen harren im kreischfarbenen Polyester der erigierten Dinge und sinnieren genervt, warum sie eigentlich schon wieder die Mittagsschicht erwischt haben. Und warum ihrem Antrag auf Versetzung in den Innendienst noch nicht stattgegeben wurde. Im Rotlicht bräuchten sie keinen Sonnenschutzfaktor 40.
Endlich, in der Ferne: ein Ortschild. Es muss das von Kołbiel sein. Nur noch die finale Prüfung der »roten 50«. Der letzte Nervenkitzel. Der Seitenstreifen verabschiedet sich: »Auf Nimmerwiedersehen!«
Legohr bleibt nichts anderes, als sich in die Stampede der Dreißigtonner einzureihen. Dann plötzlich ist es vor mir. Das Loch! Das finstre Loch. Das tiefste, das fieseste Schlagloch seit Fernfahrergedenken. Ein ausweichender Schlenker nach links wäre mir im späteren Unfall- oder Obduktionsbericht fraglos als Suizidversuch ausgelegt worden. Von hinten dröhnt ein Sattelzug heran, und der dichte Gegenverkehr kennt auch keine Gnade. Also Augen zu und durch. Der Schlag ist heftig, geht durch Sitzrohr, Mark und Bein. Schon einen Meter weiter spüre ich es im Gesäß, dem für dieses sensorische Erlebnis nicht mal nennenswerte Feinfühligkeit abverlangt wird. Die Hälfte der ausgetüftelten Federung mittels pneumatischer Reifen ist mir abhanden gekommen. Ich rolle hart auf der Felge.
Schwitzend, missmutig, entgeistert schiebe ich Legohr nach Kołbiel hinein. Meine einzige Destination: ein schattiges Plätzchen für den Schlauchwechsel. Und so hat es doch sein Gutes, dass sich dieser Landstrich damit abgefunden hat, dem Kraftverkehr wohlfeile Kulisse zu sein. Gleich hinter der Kreuzung am Ortseingang unterhält eine Tankstellenkette eine Dependance. Der ideale Ort, um das Gemüt zu kühlen und den Motor. Gleich drei 0,5-Liter-Gebinde krame ich aus den wunderbar eisigen Regalen. Kohldampf habe ich nicht. Das Fasten auf Rädern, es funktioniert offenbar in Masowiens Heide. Angst essen Hunger auf.
Das Corpus Delicti und sein plattes Opfer. Noch vor dem Wendepunkt der ersten Etappe hat sich der Hinterreifen atemloses Stillschweigen erbeten. Pssssssttt.
Das Reglement der Friedensfahrt proklamierte dereinst in Paragraf 18 in ausdrücklicher Abgrenzung zum Profiradsport, der für so was empfindliche Zeitstrafen vorsah: »Um die Idee der Freundschaft auch während des Rennens zu bekunden, wird die gegenseitige Hilfe der Mannschaften untereinander durch besondere Anerkennung gewürdigt.« Es wurde sogar Tag für Tag der beste Mechaniker gekürt. Wichtigste Qualifikation für diese heiß umkämpfte Auszeichnung: ein spontaner Pannendienst, mit dem man der Konkurrenz wieder aufs Rad verhalf. Fast so, als würde der kicker sein Benotungssystem auf die Zunft der Platzwarte oder die Gilde der Müller-Wohlfahrts ausdehnen.
Von der sprichwörtlichen, ach so patenten Hilfsbereitschaft der Polen ist an diesem Nachmittag indes nichts zu spüren. Der bullige junge Herr, der sich gleich nebenan in einem Fahrschulauto bei offenem Fenster vom Gebläse der Klimaanlage verwöhnen lässt und nun aus seinem Nickerchen erwacht, reibt sich bei meinem Anblick verdattert die Augen. Und grinst. Als ich seine gewiss sehr komischen Ausführungen nur mit Achselzucken zu beantworten vermag, beweist er fortgeschrittene Englischkenntnisse. »Puncture?«, fragt er pfeifend. »Tak«, nicke ich mit gespielter Verzweiflung. Dann grinst er wieder, ausgelassener denn je, kramt sein Handy heraus und ruft nacheinander seine fünfzehn besten Freundinnen an, um ihnen von dem hilf- und heillosen Schauspiel zu berichten, das sich nun direkt vor seinen Augen abspielt.
Es ist ein Schauspiel, das mich bei einer Aufführung im Kreiswehrersatzamt zu Bielefeld weitaus schneller und nachhaltiger von der Wehrpflicht befreit hätte als jeder Besinnungsaufsatz, der meine pazifistischen Adern erörtert. Die schmutzigen linken Hände, frei nach Sartre.
Normalerweise gehört ein Schlauchwechsel ja zu jenen Übungen, die sich mit ein paar routinierten Handgriffen in wenigen Minuten erledigen lassen – selbst wenn man sonst für jeden Pipifax die Werkstatt des örtlichen Fahrradschraubers bemüht und über das technische Geschick eines Zweifingerfaultiers verfügt. Nun aber gerät die simple Reparatur zur nervenaufreibenden Operation. Vielleicht hätte es sich ja doch gelohnt, zu Hause brav die Radreise-Anleitung für Anfänger zu lesen.
Die Ursache des Schlamassels ist noch schnell ergründet. Eine ansehnliche Schraube, die im tiefen, finsteren Loch auf der Lauer gelegen hatte, steckt bis zum Anschlag in der Karkasse. Aber wo zur Hölle ist die Pumpe? In welcher der beiden Packtaschen? Und warum ganz unten? Wie lässt sich ein malades Hinterrad ansatzweise elegant aushängen, wenn ständig wahlweise Gepäckträger oder Schutzblech im Weg sind? Warum fällt mir, als nach unzähligen Pumpenhieben endlich ausreichend Atü im Gummi sind, nicht ein, wie und wo man eigentlich so eine Mini-V-Brake aushängen kann?
Also noch mal von vorn: die Luft wieder rauslassen, Hinterrad reinwürgen, Kette auflegen und zum wiederholten Male pumpen, bis der Arzt kommt und warnt, dass der Tennisarm ein äußerst hartnäckiges Leiden sei und weiß Gott nicht nur Anhänger des Weißen Sports heimsuchen könne. Auch Gesellen mit pottdreckigen Händen sollen ihm schon anheimgefallen sein.
Ach, hätte ich das Ganze doch wenigstens ein Mal zu Hause geübt. Hätte ich mich doch nur halb so akribisch vorbereitet wie 1953 die Friedensfahrt-Vorauswahl der DDR bei ihrem Lehrgang im Kurort Hartha. Dort wurde schon während des Trainingslagers extra auch ein Wettbewerb im Reifenwechseln ausgetragen: »Wer als Erster fertig war, erhielt den Titel: Meister aller Defekte.«
Ich fürchte, ich kann mich für diese Auszeichnung nur noch in einem anderen, vernichtenden Sinne qualifizieren. Wenn ich die Frequenz hochrechne, mit der die Defekthexe bis dato in Erscheinung getreten ist, komme ich bis Prag auf dreiunddreißig platte Reifen. Das könnte sowohl meine Reisekasse empfindlich löchern, als auch mein Zeitbudget über die Maßen strapazieren. Und ebenso meinen Vorrat an Babyfeuchttüchern, die gerade mal wieder beweisen, dass sie mit der berüchtigt widerspenstigen Emulsion aus Straßendreck, Bremsbelagabrieb und Kettenöl ebenso mühelos fertig werden wie mit hartnäckigem Kindspech.
Und noch etwas sorgt mich, als ich mein Gesäß wieder an den Sattel schmiege: Wird der durchlöcherte Reifen auch halten, wenigstens für den Rest der Etappe? Wird mich Legohr pannenfrei zurück nach Warschau tragen? Ich bin noch längst nicht angekommen. Nicht in Polen und nicht im vorgebuchten Hotel. Nicht im verfrühten Hochsommer und nicht in dieser Prüfung, die ich Friedensfahrt nenne, ohne eine konkrete Ahnung zu haben, was sie mir bescheren soll.