Читать книгу Camp 21 - Rainer Wekwerth - Страница 11

Оглавление

6.

Kayla saß auf dem Sofa und blickte betreten auf ihre Füße. Vor dreißig Minuten war die Polizistin gegangen, nachdem sie ihre Aussage zu Toms Auffinden aufgenommen hatte. Seitdem musste sie sich vor ihren Eltern rechtfertigen.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, fuhr ihr Vater sie an.

Kayla sah auf in sein zornesrotes Gesicht. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, an der Schläfe pochte eine Ader. Es sah aus, als krieche ein Wurm darüber. Der Blick seiner Augen verhieß nichts Gutes. Diesmal würde er sie hart bestrafen, ganz gleich, was sie antwortete.

»Er ist mein Freund. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen«, sagte sie trotzig.

»Dein Freund?«, zischte ihr Vater. »Der Junge nimmt Drogen. Harte Drogen! Nicht irgendwas. Kein Gras. Nein, Heroin jagt er sich in den Körper. Und so etwas nennst du einen Freund?«

»Ja.«

»Die Schule ist dir anscheinend egal. Dass wir dir verboten haben, Tom zu sehen, ist dir egal. Die Polizei kommt in dieses Haus und das ist mir nicht egal.«

»Ich habe nichts falsch gemacht. Ohne mich wäre er vielleicht gestorben. Sie konnten ihn nur retten, weil ich rechtzeitig da war«, beharrte Kayla.

Ihr Vater kniff die Augen zusammen. »Der Junge ist verloren, so oder so. Er wird es nicht packen, aber er wird dich mit in den Abgrund ziehen, und das lasse ich nicht zu. Niemals!«

»Tom ist mein Freund, er braucht mich jetzt.«

»Ich verbiete dir den Umgang mit ihm.«

»Das kannst du nicht machen.«

»Du wirst ihn nicht wiedersehen.«

Kayla sprang auf. Ihr Herz klopfte wild in der Brust. »Ist es wegen David? Weil er gestorben ist?«

»Dein Bruder hat damit nichts zu tun.«

Kayla schüttelte den Kopf. Seit dem Tag, als David in Afghanistan gefallen war, ließen ihre Eltern sie nicht mehr aus den Augen. Es war kaum zu ertragen. »Ihr habt zugelassen, dass er zur Armee ging. Ja, richtig stolz wart ihr, als er seine Ausbildung zum Marine abgeschlossen hat. Und jetzt macht ihr euch Vorwürfe, dass ihr es nicht verhindert habt, und ich muss dafür büßen.«

»So ist das nicht«, sagte ihr Vater. »Und das weißt du ganz genau.«

»Oh doch. So und nicht anders. Ihr beobachtet mich. Aus Angst, mir könnte ebenfalls etwas zustoßen, kontrolliert ihr mich bei allem, was ich tue.«

»Und wie sich herausstellt, zu Recht!«

»Ich habe kaum noch Freunde, weil ihr mich zu keiner Party lasst, und jetzt wollt ihr auch noch verhindern, dass ich mich um Tom kümmere.«

»Ich habe dir gesagt, du wirst ihn nicht wiedersehen, und dabei bleibt es.«

»Mom, sag doch auch mal was«, wandte sich Kayla Hilfe suchend an ihre Mutter, aber die hielt den Blick gesenkt und flüsterte nur: »Mach, was dein Vater dir sagt.«

Für einen Moment schloss Kayla die Augen, dann stürmte sie nach oben in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür heftig ins Schloss und warf sich aufs Bett. Tränen stiegen in ihr auf und diesmal hielt sie ihre Gefühle nicht zurück, sondern weinte bitterlich. Um Tom, um sich, um dieses verdammte Leben, das immer schwieriger wurde.

Irgendwann schlief sie erschöpft ein.

Kayla wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie erwachte. Von unten drang die tiefe Stimme ihres Vaters herauf, der mit irgendjemandem telefonierte. Kayla schaute auf ihren Wecker. Es war schon nach zehn Uhr abends, mit wem sprach ihr Vater da? Sie konnte nur Wortfetzen verstehen, aber sie hörte die Eindringlichkeit, mit der ihr Dad sprach.

»In Ordnung, wir bereiten alles vor … Morgen früh? Okay, ich dachte nicht, dass das so schnell …«

Wahrscheinlich der Job, überlegte Kayla. Ihr Vater war IT-Manager und arbeitete oftmals bis spätabends. Anscheinend war heute so ein Fall.

Kayla zog sich aus und schlüpfte in ihre Schlafboxershorts und ein bequemes T-Shirt. Noch immer müde, tappte sie mit nackten Füßen hinüber ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.

Im Flur hörte sie, wie ihre Mutter sagte: »Ist das wirklich die richtige Entscheidung?«

Ihr Vater schwieg.

Irgendwie klingt das merkwürdig. Um was geht es da?

Um mich?

Hat Dad sich irgendeine Strafe für mich ausgedacht?

Egal, damit würde sie sich morgen auseinandersetzen. Im Moment war sie einfach vollkommen erschöpft. Die Aufregungen des Tages hatten sie körperlich mitgenommen und Kayla fühlte sich zu schwach zum Denken. Mechanisch putzte sie sich die Zähne, dann trottete sie zurück in ihr Zimmer und kuschelte sich ins Bett.

Ihr letzter Gedanke galt Tom, der nicht weit von ihr entfernt auf der Intensivstation lag.

Kayla hatte die Augen noch geschlossen, als sie Tumult von unten hörte. Schwere Schritte ertönten im Haus. Ein Mann und eine Frau sprachen mit ihrem Vater, der leise antwortete. Träge und etwas verwirrt öffnete Kayla die Lider.

Oh mein Gott, schon neun Uhr. Sie hatte verschlafen. Gestern Abend war sie müde gewesen und hatte vergessen, den Wecker zu stellen, aber warum hatte ihre Mom sie nicht geweckt? Seltsam, dabei hatten sich ihre Eltern gestern noch darüber aufgeregt, dass sie Unterricht versäumt hatte, und nun ließen sie Kayla verschlafen.

Sie richtete sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und versuchte dahinterzukommen, was hier los war. Ihr Vater, der jeden Morgen spätestens um sieben das Haus verließ, war an einem normalen Wochentag nicht ins Büro gefahren. Ihre Mom ging täglich um diese Zeit ins Fitnessstudio. In den letzten fünf Jahren hatte sie keinen einzigen Trainingstermin verpasst. Nun waren beide zu einer Uhrzeit daheim, an der sie nicht daheim sein sollten. Niemand hatte sie geweckt und fremde Menschen waren im Haus.

Was ist hier los?

Noch während sie auf dem Bett saß und grübelte, wurde ihre Zimmertür geöffnet und ihre Mutter trat ein. Ihr Gesicht war eingefallen und es sah aus, als habe sie die ganze Nacht geweint.

Schreck durchfuhr Kayla.

Ist jemand gestorben? Ist was mit Grandpa?

Ihr Großvater wohnte mit seiner zweiten Frau in Boston. Kaylas Großmutter lebte schon seit zehn Jahren nicht mehr und andere Großeltern hatte sie nicht, denn ihr Vater war als Waisenkind in einem Heim aufgewachsen.

Kayla suchte den Blick ihrer Mutter, aber die wich ihr aus, starrte auf irgendetwas, was sich hinter ihrem Rücken befand. Dabei knetete sie ihre Hände.

»Ist was, Mom?«, fragte Kayla vorsichtig.

Zuerst antwortete sie nicht, dann sagte ihre Mutter leise: »Du musst dich anziehen.«

Kayla verstand nicht. Warum sollte sie sich anziehen? Für die Schule war es zu spät. Wohin wollten ihre Eltern? Und warum musste sie mit?

»Was ist los?«

Ihre Mutter wandte sich ab und ging zu ihrem Kleiderschrank. Sie öffnete die Holztüren und zog Kaylas Reisetasche heraus. Wortlos begann sie, Kleidungsstücke hineinzupacken.

»Was machst du da?«, wollte Kayla wissen.

»Du gehst für eine Weile weg«, kam es zurück.

»Ich tue was?«

»Dein Vater hat es so beschlossen. Er sagt, es ist das Beste für dich.«

»Was? Wer … wohin soll ich? Zu Tante June? Zu Grandpa nach Boston? Ich habe Schule …«

»Du gehst nicht zu deinem Großvater und auch nicht zu June. Wir schicken dich in ein Jugendcamp.«

Kayla kapierte immer noch nicht. »Ich verstehe nicht, was du meinst. Wohin wollt ihr mich schicken? In ein Camp?«

»Ja, es wird dir guttun. Du wirst dort wieder zu dir selbst finden. Norman Geddrick war auch in einem Jugendcamp und diese Zeit hat ihn positv verwandelt. Heute ist er ein ganz anderer Junge, trinkt und raucht nicht mehr und hat die Highschool mit Auszeichnung abgeschlossen.«

»Norman ist ein Arschloch, war immer ein Arschloch und wird immer eines sein.«

»Mag sein, aber er ist kein kriminelles Arschloch mehr, das ständig Ärger mit der Polizei hat, weil er sich prügelt und Autos klaut. Es war abzusehen, dass es mit ihm kein gutes Ende nimmt, und jetzt geht er sogar aufs College. Das Camp wird auch dir helfen zu erkennen, was wichtig im Leben ist.«

»Ich will aber nicht weg.«

»Das entscheidest du nicht.« Plötzlich klang die Stimme ihrer Mutter hart wie zerbrechendes Glas.

»Ihr könnt mich doch nicht einfach wegschicken! Für wie lange überhaupt?«

»Sechs Monate.«

»Sechs Monate? Seid ihr verrückt geworden? Jetzt beginnen die Prüfungen. Wenn ich die versäume, verliere ich dadurch ein ganzes Schuljahr.«

»Das ist uns bewusst.«

»Ihr könnt das nicht machen.« Kayla warf den Kopf zurück. »Ich gehe nicht. Auf keinen Fall.«

»Unten sind zwei Betreuer. Sie werden dich ins Camp bringen. Sie haben gesagt, entweder du ziehst dich an oder sie nehmen dich so mit, wie du bist.«

»Ihr seid verrückt!«

Ihre Mutter verschloss die Reisetasche und stellte sie neben der Tür ab. »Kayla, diesmal gibt es keine Wahl für dich. Zieh dich an.«

»Mom«, versuchte es Kayla noch einmal, aber ihre Mutter wandte sich ab, nahm die Tasche und sagte: »Du hast zehn Minuten.«

Wie betäubt saß Kayla auf dem Bett und versuchte zu begreifen, was ihre Mutter ihr gerade eröffnet hatte. Weil sie sich ihren Eltern widersetzt hatte, wurde sie fortgeschickt. Für sechs Monate. Einhundertachtzig Tage. Sie würde an einen Ort kommen, an dem sie nicht sein wollte, mit Menschen, die sie nicht kannte.

Sie war noch nicht einmal nach ihrer Meinung gefragt worden. Der Gedanke war bitter.

Und Tom? Was war mit Tom?

Er brauchte sie. Gerade jetzt.

Mach dir nichts vor. Du kannst ihm nicht helfen. Er wird vom Krankenhaus aus direkt zum Entzug in eine Klinik gebracht werden. Und vielleicht kommt er sogar ins Gefängnis.

Kayla fluchte stumm. Gestern um diese Zeit war noch alles in Ordnung gewesen und heute war sie auf dem Weg in ein Jugendcamp.

Ein metallischer Geschmack hatte sich in ihrem Mund ausgebreitet. Sie schluckte. Mit schwerfälligen Schritten ging sie zu ihrem Kleiderschrank und suchte eine Jeans, Unterwäsche und ein bequemes Sweatshirt aus. Als sie in ihre Turnschuhe schlüpfte, wich der Schock der Traurigkeit.

Warum hatten ihre Eltern nur so wenig Verständnis für sie?

Was ist mit uns schiefgelaufen?

Liebt ihr mich nicht mehr?

Dann kann ich auch gehen.

Kayla putzte sich noch schnell die Zähne und richtete ihren Beautycase. Schließlich holte sie tief Luft und ging nach unten.

Im Wohnzimmer standen ein hochgewachsener Mann und eine hart aussehende Frau neben ihrem Vater, der ihr ohne jede Gefühlsregung entgegenblickte. Kaylas Mutter saß auf dem Sofa. Sie weinte nicht, hatte aber das Gesicht abgewandt.

Kayla straffte die Schultern. »Ich bin so weit.«

Camp 21

Подняться наверх