Читать книгу Camp 21 - Rainer Wekwerth - Страница 8
ОглавлениеDer Gestank war atemberaubend. Es roch nach kaltem Rauch und abgestandenem Essen. Darunter mischte sich der Geruch von saurem Bier und Erbrochenem.
Es war düster im Zimmer. Nur durch die Schlitze der zugezogenen Vorhänge fiel ein schmaler Lichtstreifen, der kaum ausreichte, um etwas zu erkennen. Kayla nahm nur grobe Formen wahr, aber immerhin stellte sie fest, dass der gesamte Fußboden mit Abfall bedeckt war. Ihr Fuß stieß gegen einen leeren Pizzakarton, als sie vorsichtig einen Schritt nach vorn machte.
Es war still hier drin. Unnatürlich still.
»Tom?«
Ein Rascheln drang an ihr Ohr. Kayla wirbelte herum, entdeckte eine weitere Tür.
»Tom, bist du da?«
Nebenan stöhnte jemand.
»Tom? Bist du dadrin? Sag bitte etwas!«
Ihre Stimme zitterte. Kayla fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, allein hierherzukommen.
Erneut erklang ein Stöhnen.
Verdammt!
Kayla raffte ihren Mut zusammen. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Sie schaute sich um, suchte sich einen Weg ins andere Zimmer. Dafür musste sie einem umgekippten Sofa und einem schweren Sessel ausweichen.
Schließlich stand sie vor der Tür zum Nebenzimmer. »Ich komme jetzt rein, okay?«
Niemand antwortete ihr. Sie legte die Hand an die Tür und schob sie auf.
Was sie sah, ließ ihr Herz erstarren.
Die Vorhänge waren auch hier zugezogen, aber es fiel genug Licht ins Zimmer, damit Kayla ihren Freund sehen konnte.
Er lag da, auf einer alten, stinkenden Matratze, wie eine achtlos weggeworfene Puppe, und rührte sich nicht. Tom hatte sich wie ein Embryo zusammengekrümmt. Sein Kopf ruhte auf dem rechten Arm, mit dem linken bedeckte er sein Gesicht. Beide Knie waren angezogen.
Er sah so dünn aus.
Er ist tot, war ihr erster Gedanke. Kayla erschrak bis in ihr Innerstes, aber dann hörte sie ein leises Keuchen. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass das Geräusch von Tom kam.
Hastig kniete sie sich neben ihn. »Tom?«
Nichts.
Sie fasste nach seiner Schulter. Noch immer bewegte er sich nicht.
Kayla rüttelte ihn.
»Tom!«, rief sie.
Dann schrie sie seinen Namen.
Ein kaum hörbares Stöhnen war die Antwort.
Sie packte Tom fest und wälzte ihn auf den Rücken. Sein Kopf kippte nach hinten, aber er zeigte noch immer keine Reaktion. Seine Augen standen offen, leer starrten sie zur Zimmerdecke. In seinen Mundwinkeln hatte der Speichel Schaumblasen gebildet.
Kayla war kurz vor einer Panik. Alles in ihr vibrierte. Sie blickte auf ihren Freund nieder. Was war mit ihm geschehen? Er lebte, aber er war bewusstlos. Ihr Blick fieberte umher.
Plötzlich stutzte sie. Neben der Matratze lagen eine benutzte Spritze, ein verrußter Löffel und verbrannte Alufolie. Nicht weit davon ein leeres Plastiktütchen. Drogenbesteck!
Oh Tom, was hast du nur gemacht?
Schlagartig wurde ihr bewusst, wie ernst die Lage war. So wie es aussah, hatte sich Tom einen Schuss gesetzt. Was auch immer in dem Tütchen gewesen war, anscheinend hatte es bei ihm für eine Überdosis gesorgt.
Kayla fasste an seinen Hals, suchte den Puls.
Schwach und flatternd.
Tom brauchte sofort einen Arzt. Hier ging es um Leben und Tod.
Kurz dachte sie daran, dass sie durch diese Sache in große Schwierigkeiten geraten würde, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie musste dafür sorgen, dass ihm geholfen wurde. Alles andere war im Moment zweitrangig.
Kayla fingerte ihr Handy aus der Hose. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer der Notrufzentrale ein.
Zwei Sekunden später meldete sich eine weibliche Stimme.
»Ich brauche Hilfe«, sagte Kayla.
Sie saßen in einem fensterlosen Raum, rechts und links von einem Tisch, der im Boden festgeschraubt war. Die Stühle waren aus Metall, ebenfalls fest verankert.
Seit Stunden saßen sie hier. Menschen kamen und gingen. Stellten ihnen Fragen. Fragen zu den Vorkommnissen auf der Landstraße, Fragen zu ihrer Lebenssituation. Irgendwie schien jeder alles von ihnen wissen zu wollen.
Ricky und er waren auf die Toilette geführt worden und hatten eine Urinprobe abgeben müssen. Das Ergebnis der Auswertung hatte man ihnen nicht mitgeteilt.
Mike hatte gefragt, ob er seinen Vater anrufen dürfe. Das hatte man verneint, aber eine Polizistin hatte sich die Handynummer geben lassen und gesagt, er werde verständigt. Etwas später hatte sie ihnen mitgeteilt, er wäre auf dem Weg hierher.
Das war vor drei Stunden gewesen. Warum sein Vater nicht sofort kam, konnte sich Mike nicht erklären.
Ricky hatte beide Arme auf den Tisch gelegt und sein Gesicht darin vergraben. Sie sprachen nur wenig miteinander und das wenige ließ Mike bewusst werden, dass sein Bruder mit der Situation nicht umgehen konnte.
Das High des Joints war verflogen und hatte einer kindlichen Traurigkeit Platz gemacht. Ricky weinte nicht, aber er war wie betäubt. Mike war zweimal zu ihm hinübergegangen und hatte ihm tröstend den Arm um die Schultern gelegt, doch sein Bruder hatte nicht darauf reagiert, genauso wenig wie auf die Worte, die ihn beruhigen sollten. So hockte er nun auf seinem harten Stuhl und schloss die Welt aus.
In Mike sah es ganz anders aus. Er war unruhig. Eine finstere Ahnung hatte sich in ihm breitgemacht. Die Vorgänge auf dem Polizeirevier machten deutlich, dass niemand diese Sache auf die leichte Schulter nahm.
Noch immer war er der Meinung, dass nichts Schlimmes geschehen war. Sie hatten niemanden verletzt oder gefährdet und bis auf die Geschwindigkeitsüberschreitung keine Straftat begangen, aber hier wurde ein ganz anderes Bild vermittelt. Die Männer, die mit ihm sprachen, blickten durchweg ernst und ließen keinen Zweifel daran, dass Rickys Gegenwehr bei der Festnahme keine Lappalie war. Niemand ging auf Mikes Fragen ein. Er saß mit seinem verzweifelten Bruder in diesem Raum und grübelte, was mit ihnen geschehen würde.
Wird man uns anklagen?
Vor einen Jugendrichter stellen?
Und dann? Was dann?
Eine Strafe auf Bewährung? Ein Bußgeld? Sozialer Dienst? Oder Jugendgefängnis?
Alles schien möglich. Und das beunruhigte ihn von Minute zu Minute mehr.
Mike trommelte mit seinen Fingern auf der Tischplatte.
»Lass das«, knurrte Ricky und hob den Kopf an, um ihn anzusehen.
»Ich bin nervös.«
»Ich auch. Trotzdem.«
»Wo bleibt Dad nur?« Es war keine Frage, denn Ricky kannte auch keine Antwort darauf.
»Ich bin nicht wild drauf, ihn zu sehen.«
»Sie haben das Auto beschlagnahmt.«
»Ich hab’s gehört.«
Mike schaute in Rickys gerötete Augen. Er wusste nicht, ob er geweint hatte, aber es sah so aus. »Wie geht es dir?«
»Ich bin okay.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich will nur nach Hause. Denkst du, sie lassen uns bald gehen?«
Mike zögerte. Was sollte er antworten? Er machte sich Sorgen, dass man sie über Nacht hierbehalten würde. In einer Zelle. Aber das konnte er Ricky nicht sagen.
»Sie werden warten, bis Dad hier ist.«
»Ob er einen Anwalt mitbringt?«
»Nein, denke ich nicht«, meinte Mike. »So wild ist die Sache nun auch wieder nicht.«
Eine Lüge. Das Ganze war sehr ernst.
»Ich habe Hunger«, sagte Ricky.
Mike sah ihn an. Hunger? Wie konnte Ricky in dieser Situation ans Essen denken? Sie hatten beide ein Dr Pepper bekommen, um ihren Durst zu löschen, aber mehr hatte es nicht gegeben.
»Ich frag mal nach einem Sandwich, wenn sie zurückkommen.«
»Das dauert alles ganz schön lang.«
»Ja, Ricky. So ist das nun mal.«
Danach verfiel sein Bruder wieder in Schweigen.
Ungefähr dreißig Minuten später öffnete sich die Tür zum Vernehmungsraum und ihr Vater trat ein. Man hatte ihnen die Handys abgenommen, daher wusste Mike nicht, wie weit der Tag vorangeschritten war, aber er vermutete, dass es früher Abend war.
Der Anzug seines Vaters war verknittert und sah aus, als habe er darin geschlafen. Die Krawatte hing schief, sein Gesicht war so grau wie die schütteren Haare an den Schläfen. Um die Mundwinkel lag ein harter Zug. Frustration sprach aus jeder seiner Bewegungen, als er mit einem Polizisten hereinkam, der den Raum aber gleich wieder verließ. Dann waren sie allein.
Mike und Ricky standen auf.
»Dad …«, setzte Mike an, aber sein Vater gebot ihm zu schweigen.
»Geht es dir gut?«, fragte er. Seine Stimme klang beherrscht und ernst.
»Ja, Dad.«
»Was ist mit dir, Ricky?«
»Alles okay.«
»Ich muss euch nicht sagen, dass ihr in Schwierigkeiten steckt.«
Beide schüttelten stumm den Kopf.
»Setzt euch.«
Er selbst blieb stehen.
»Können wir gehen, Dad?«, wollte Ricky wissen.
»Nein.«
Ein Wort. Nur wenige Buchstaben, aber es hallte wie Donner durch Mikes Bewusstsein.
»Wie lange müssen wir noch hierbleiben?«, fragte er und fürchtete die Antwort.
»Ihr kommt nicht nach Hause.«
»Was meinst du damit?«
»In Rickys Urin wurde THC nachgewiesen. Man hat mir gesagt, das ist der Wirkstoff von Marihuana.«
»Dad«, mischte sich Ricky ein. »Es war nur ein wenig Gras. Ich …«
»Das ist in diesem Bundesstaat verboten. Sie können dich deswegen anklagen, aber ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen, darum komme ich auch so spät. Ich musste zwei Stunden in seinem Büro warten, bis er fünf Minuten Zeit für mich hatte.«
Mike spürte wieder dieses seltsame Gefühl im Magen. Es war, als würden zwei Kugeln hin und her rollen und immer wieder aneinanderstoßen. Er schaute zu Ricky hinüber, aber der hatte den Kopf gesenkt und starrte auf den Fußboden.
»In dieser Sache hängt ihr beide drin. Ricky wegen Drogen, du wegen Verkehrsgefährdung. Dazu der Widerstand, als man euch angehalten hat.«
Mike wollte etwas einwenden, aber sein Dad hob die Hand.
»Es gab zwei Möglichkeiten für euch«, fuhr er fort. »Entweder eine Anklage und eine Verhandlung vor einem Jugendrichter oder die freiwillige Teilnahme an einem Erziehungsprogramm. Staatsanwalt McCormick hat mit dem zuständigen Richter telefoniert, der sein Einverständnis gegeben hat. Ihr werdet an einem Erziehungsprogramm teilnehmen.«
Mike atmete tief aus. Alles würde gut werden. Ein Erziehungsprogramm? Kein Problem, sie würden ein paar Wochen lang irgendeinen Kurs besuchen, über ihre Fehler sprechen, Rollenspiele und Übungen in Sozialverhalten machen. Das alles hatte er schon im Fernsehen gesehen. Sie hatten noch einmal Glück gehabt.
Ricky hob den Kopf. Irgendetwas Merkwürdiges lag in seinem Blick. »Du hast gesagt, wir gehen nicht nach Hause, Dad. Was hast du damit gemeint?«
»Ihr werdet in ein Erziehungscamp am anderen Ende des Staates geschickt. Dort verbringt ihr die nächsten sechs Monate. Danach entscheidet ein Therapeutenteam, ob ihr in den Alltag zurückkehren könnt. Ich habe dem zugestimmt. Die Papiere sind unterzeichnet. In einer Stunde geht es los. Ich war auch schon zu Hause und habe eure Sachen gepackt. Die Taschen stehen draußen.«
Die Worte kamen beherrscht. Vielleicht war es die Ruhe, mit der sein Vater sprach, die Mike erschütterte. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie wurden fortgeschickt. Sechs Monate lang. In ein Camp?
Damit konnte nur eines dieser Bootcamps gemeint sein, von denen man immer wieder Gerüchte hörte.
Nein, nein, nein, brüllte es in ihm.
Ein rascher Blick zu Ricky zeigte ihm, dass sein Bruder nun offen weinte. Er hätte ihn gern getröstet, aber es ging nicht. Irgendwie konnte er sich nicht bewegen.
Eine Minute verging in Schweigen, dann sagte Mike: »Warum tust du uns das an?«
Sein Vater sah ihn an. Härte lag in seinem Blick. »Du fragst mich das? Ich habe mich auf dich verlassen, dir vertraut, und was machst du? Nimmst mein Auto, rast damit herum. Verantwortungslos gefährdest du dich, deinen Bruder und andere. Ricky nimmt Drogen und du lässt das zu. Und wenn man euch bei euren Ausflügen schnappt, widersetzt ihr euch auch noch der Polizei.«
»So war das nicht, Dad. Wir …«
»Wie war es dann?«
»Wir wollten nur ein wenig Spaß haben.«
»Geht es darum? Immer nur darum? Spaß haben.« Sein Vater trat vor ihn. »Eure Mutter ist tot. Jeder Tag ohne sie kostet Kraft. Das Leben ist kein Spaß, je früher ihr das erkennt, desto besser. Ich dachte, wir kommen klar, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Vielleicht lernt ihr in diesem Camp ja etwas für die Zukunft.«
»Was ist mit der Schule?«, fragte Ricky kläglich. »Wir können nicht einfach fehlen, sonst müssen wir das Schuljahr wiederholen.«
»Ich spreche mit der Rektorin. Uns wird schon etwas einfallen.«
»Mann, Dad, wenn das in der Schule rumgeht, sind wir erledigt«, meinte Mike.
Zehn Sekunden lang sagte sein Vater nichts, dann zischte er: »Übertreib es nicht! Meine Entscheidung steht und jetzt will ich nichts mehr hören. Ihr habt einen Fehler begangen, also lebt mit den Konsequenzen.«
»Ist das jetzt echt wahr?«, hakte Ricky nach. »Du willst uns nicht nur Angst machen?«
»Ja, Ricky, so ist es.«
Ricky schüttelte ungläubig den Kopf.
»Kommst du uns besuchen?«, fragte Mike gepresst. Wut war in ihm aufgestiegen, brannte heiß in seiner Kehle. Am liebsten hätte er seinen Dad angeschrien, aber das würde alles nur noch schlimmer machen.
»Nein, das ist nicht vorgesehen«, sagte sein Vater. »Man hat mir erklärt, es wäre kontraproduktiv, also sehen wir uns erst in sechs Monaten.«
»Dad!«
»Ihr zieht das jetzt durch. Ich will nichts mehr hören.«
Für eine Minute schwiegen alle drei. Dann umarmte sein Dad erst ihn, dann Ricky.
»Wir sehen uns bald wieder«, sagte er, dann ging er.