Читать книгу Camp 21 - Rainer Wekwerth - Страница 9
ОглавлениеKayla saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf ihre Oberschenkel gestützt. Sie ließ den Kopf hängen. Seit über drei Stunden wartete sie nun auf diesem Krankenhausflur, dass jemand kam und ihr sagte, was mit Tom war.
Der Rettungsdienst hatte zwanzig Minuten gebraucht, bis er bei ihr und dem noch immer bewusstlosen Tom eingetroffen war. Ein Notarzt und zwei Sanitäter waren den Flur hinuntergerannt und hatten nach ihr gerufen. Kayla hatte die Tür zur Wohnung aufgerissen und ihnen gezeigt, wo sie waren.
Danach war alles sehr schnell gegangen. Der Arzt hatte Toms Blutdruck und den Puls kontrolliert und alarmierende Werte festgestellt. Rasch wurden über Kanülen zwei Infusionsbeutel an seinen Handrücken gelegt. Man befestigte eine Sauerstoffmaske auf Toms Gesicht, dann wurde er auf die Krankentrage gehoben und zum Rettungswagen gebracht.
Kayla lief neben der Trage her. Sie hielt Toms Hand, flüsterte ihm immer wieder zu, dass alles gut werden würde, aber sie hatte große Angst, dass es zu spät war und er es nicht schaffen würde.
Im Fahrzeug wurde Tom sofort an ein EKG-Gerät angeschlossen, das Atmung, Blutdruck und Herzschlag kontrollierte. Die Elektroden waren noch keine fünf Sekunden an seinem schmalen Brustkorb befestigt, als schon der erste schrille Warnton ausgelöst wurde.
Der Arzt, ein junger Afroamerikaner, dem bei diesem Wetter der Schweiß in Strömen über die Stirn lief, gab Tom daraufhin eine Spritze mit einem Wirkstoff, den er Kayla nannte, den sie aber noch nie gehört hatte.
Obwohl alles rasch ging, kam es Kayla dennoch so vor, als wate sie durch zähen Nebel. Die Zeit schien irgendwie langsamer als normal zu verlaufen, das Atmen fiel ihr schwer und ihr ganzes Sichtfeld hatte sich eingegrenzt. Sie nahm auf einer harten Bank Platz und legte den Sicherheitsgurt an, dann ging es in rasender Fahrt und mit apokalyptischem Sirenengeheul ins Krankenhaus.
Der Wagen hielt direkt vor dem Eingang der Notaufnahme. Die Sanitäter luden Tom aus und brachten ihn fort, ohne dass sie Kayla sagten, was jetzt mit ihm geschehen würde.
Kayla war wie betäubt zum Empfang der Notaufnahme gestolpert. Eine Frau mittleren Alters mit stark blondierten Haaren drückte ihr ein Klemmbrett und einen Stift in die Hand und forderte sie auf, den Patientenbogen für Tom auszufüllen.
Viel war es nicht, was Kayla eintragen konnte. Im Textfeld für Toms Anschrift trug sie die Adresse der Wohnung ein, in der sie ihn gefunden hatte, obwohl sie sich nicht vorstellen wollte, dass man in so einem Loch leben konnte. Es wurde noch nach dem Namen der Krankenversicherung und Personen gefragt, die im Notfall verständigt werden sollten. Hier schrieb sie den Namen seiner Mutter hin, aber sie kannte die aktuelle Telefonnummer oder ihre Anschrift nicht.
Irgendwann kam die blonde Frau wieder und nahm ihr den Fragebogen ab, dann führte sie Kayla in einen langen Flur, deutete auf eine Reihe Plastikstühle und sagte ihr, sie solle hier warten. Sobald es Neuigkeiten zu Toms Gesundheitszustand gäbe, würde jemand kommen und sie informieren.
Das war vor drei Stunden gewesen.
Während sie wartete und immer wieder leise vor sich hin weinte, vibrierte ihr Handy in der Tasche. Sie zog es heraus und ahnte schon, wer da versuchte, sie zu erreichen.
Drei Anrufe in Abwesenheit und eine Textnachricht. Von ihrer Mutter.
Wo bist du? Die Schule hat angerufen, du hast den Unterricht ohne Erlaubnis verlassen. Dad ist losgefahren und sucht dich. Ich mache mir Sorgen. Melde dich sofort!!!
Irgendwie schaffte es ihre Mutter mit den wenigen Worten dieser Nachricht, zugleich ängstlich und wütend zu wirken. So als könne sie sich nicht für ein Gefühl entscheiden. Es war offensichtlich, dass Kayla in Schwierigkeiten steckte und sie besser anrufen sollte, aber ihre Mutter würde sicher verlangen, dass sie augenblicklich nach Hause kam, und das konnte sie nicht. Sie konnte nicht gehen, ohne zu wissen, wie es um Tom stand, mochten ihre Eltern auch ausflippen. Sie beschloss, nicht auf die Nachricht zu antworten, denn es bestand durchaus die Gefahr, dass ihr Vater im Krankenhaus auftauchte und sie nach Hause schleppte.
Weitere zwanzig Minuten vergingen, während Kayla auf ihrer Lippe herumkaute und immer unruhiger wurde. Die Angst vor der Reaktion ihrer Eltern und die Sorge um Tom machten sie fast verrückt.
Sie kannte Tom von Kindesbeinen an. Sie hatten alles miteinander geteilt, waren zusammen in die Vorschule, die Grundschule und später auf die Highschool gegangen. Aber dann war etwas mit Tom geschehen, was sie sich nicht erklären konnte. Aus dem fröhlichen Jungen war ein düsterer junger Mann geworden, der seine Haare nicht mehr schneiden ließ und ständig dunkle Klamotten trug. Die natürliche Bräune vieler Stunden unter freiem Himmel verblasste und machte einer ungesunden Blässe Platz. Irgendwann hörte Tom auf, regelmäßig zu essen, und wurde immer dünner. In der Schule verpassten sie ihm den Namen »Spider«, aber das schien ihn nicht zu stören, denn außer Kayla hatte er inzwischen sowieso keine Freunde mehr. So war es mit Tom beständig bergab gegangen und Kayla hatte seinen Absturz weder verhindern noch verlangsamen können.
Sie fragte sich, wann alles begonnen und ob sie den Zeitpunkt verpasst hatte, als es noch die Chance gab, einzugreifen und mit Tom zu reden. Die Scheidung seiner Eltern mochte eine Rolle bei seiner Veränderung gespielt haben, aber sicher war sie sich nicht. Tom und sein Vater hatten ein schwieriges Verhältnis zueinander gehabt und er schien beinahe erleichtert gewesen zu sein, als sein Dad das Haus verließ und nach Chicago zog. Allein mit seiner Mutter schien alles bestens zu laufen.
Doch dann kamen die Veränderungen. Erst in kleinen Schritten, fast unmerklich, schließlich immer auffälliger. Als Tom begann, sich die Augen dunkel zu schminken und schwarzen Lippenstift aufzulegen, konnte niemand mehr übersehen, dass etwas mit ihm geschah.
Zu dieser Zeit hatte er angefangen, ihr aus dem Weg zu gehen. Jeden Tag rief Kayla bei ihm an, schickte ihm unzählige Nachrichten, flehte ihn an, ihr zu erzählen, was mit ihm los war, aber niemals kam eine Antwort zurück. Schließlich hatte sich Kayla verletzt zurückgezogen.
Irgendwann hieß es, Tom wäre von der Schule geflogen. Am selben Tag fuhr sie mit dem Bus in die Robert Adams Street, rannte zu dem kleinen Haus, in dem sie so viel Zeit verbracht hatte, aber da war niemand mehr. Keine Gardinen hinter dem Fenster, kein Leben, keine Geräusche, kein Tom.
Das war vor sechs Monaten gewesen.
Kayla wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ein Arzt in grünem OP-Kittel auf sie zukam. Sie versuchte, in seinen Augen zu lesen, entdeckte aber nur Erschöpfung darin. Der Mann war vielleicht Ende zwanzig, wahrscheinlich ein Assistenzarzt, der Notdienst hatte. Seine Wangen waren eingefallen, so als habe er seit Tagen nicht geschlafen. Der Geruch von Seife und Desinfektionsmittel stieg Kayla in die Nase, als er vor ihr stehen blieb und sie ernst anblickte.
»Sind Sie die junge Frau, die Tom Wyler begleitet hat?«
Kayla nickte. »Wie geht es ihm?«
»Nicht gut, aber er wird durchkommen. Ist er Ihr Freund?«
»Nein, ein normaler Freund.«
»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte der Arzt.
Kayla schüttelte den Kopf. »Er hat mir eine Nachricht geschickt und mir gesagt, dass er Hilfe braucht, da wusste ich aber noch nicht, was mit ihm los war. Ich habe ihn dann bewusstlos in einer Wohnung gefunden. Neben der Matratze, auf der er lag, habe ich eine benutzte Spritze und andere Sachen entdeckt. Da war es nicht schwer zu erraten, dass er Drogen genommen hat.«
»Heroin. Er hat sich eine Überdosis gesetzt. Wissen Sie etwas über seine Drogensucht?«
»Nein, wir hatten seit Monaten keinen Kontakt. Seine Nachricht kam für mich völlig überraschend.«
»Glauben Sie, er hat versucht, Selbstmord zu begehen?«
Kayla dachte kurz darüber nach. »Dann hätte er sich nicht bei mir gemeldet. Es war ein Hilfeschrei. Vielleicht hat er beim Spritzen gemerkt, dass irgendetwas anders ist als sonst, dass es schiefläuft.«
»Ja, danach sieht es aus«, sagte der Arzt. »Tom hatte einen Zusammenbruch aller Vitalsysteme. Während wir uns um ihn gekümmert haben, ist sein Herz stehen geblieben, aber wir konnten ihn zurückholen und stabilisieren.«
Kayla hielt erschrocken die Luft an.
»Er liegt jetzt auf der Intensivstation und wird beobachtet. Sobald es ihm ein wenig besser geht, machen wir Tests mit ihm. Wir vermuten bei ihm Hepatitis B oder C, aber er kann sich auch mit HIV infiziert haben. Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen können? Sie haben angegeben, dass Sie die Adresse seiner Mutter nicht kennen. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Was ist mit seinem Vater?«
»Toms Eltern sind geschieden. Sein Vater lebt in Chicago, glaube ich.«
»Die Behörden werden seine Eltern ausfindig machen. Sonst noch jemand? Irgendwelche Verwandte?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Das ist eine ernste Sache. Ihr Freund hat sich strafbar gemacht. Ich muss einen Bericht schreiben. Die Polizei wurde von der Krankenhausleitung verständigt und schickt jemanden, der Sie nach Hause bringt und Ihre Aussage aufnimmt.«
Kayla erschrak. Polizei? Ihre Eltern würden durchdrehen.
»Muss das sein?«, fragte sie zaghaft.
»So ist die Vorgehensweise in diesen Fällen. Ihr Freund ist noch minderjährig und ich vermute, Sie auch. Der Staat hat eine Fürsorgepflicht.«
Das klang gut. Es klang verständnisvoll, aber Kayla wusste, dass es so nicht war. Auf Tom, vielleicht sogar auf sie selbst kamen unangenehme Dinge zu, und wie ihre Eltern reagieren würden, wenn sie das Wort »Drogen« hörten, konnte sie sich lebhaft vorstellen. Wahrscheinlich hatte sie die restlichen acht Monate bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag Hausarrest, und Tom wiederzusehen, würden sie ihr auch nicht erlauben, dabei brauchte er sie gerade jetzt.
»Kann ich Tom sehen?«
»Nein, er schläft. Rufen Sie morgen an, die Stationsschwester wird Ihnen Auskunft über seinen Zustand geben. Sie sollten jetzt nach Hause gehen.«
»Wann kommt der Polizist?«, wollte Kayla wissen.
»Ich denke, der ist schon da«, sagte der Arzt und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür.
Eine junge Frau in Uniform kam auf Kayla zu. Unter der schwarzen Schirmmütze wippte ein brauner Zopf. Sie hatte ein offenes Gesicht und reichte Kayla die Hand.
»Ich bin Officer Sandra Smith. Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen.«
»Mein Auto steht in der Hickary Street. Können wir es abholen?«
»Nein, leider nicht, das kannst du später mit deinen Eltern machen. Ich muss dich jetzt begleiten und deine Aussage aufnehmen. Okay?«
Kayla nickte.
»Dann lass uns gehen.«