Читать книгу Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht - Rainer Wekwerth - Страница 10

4.

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Nach dem Essen waren sie zurück in die Zelle geschickt worden, die sich noch an derselben Stelle befand.

Mischa klappte eine der Schlafpritschen herunter und legte sich darauf, während Tian die an einer Längsseite befestigten Schränke inspizierte.

»Ich weiß nicht, ob das tagsüber erlaubt ist«, meinte er und nickte Mischa zu.

»Tagsüber? Siehst du hier irgendwo die Sonne?«

»Ich meine, wenn nicht konkret Schlafenszeit ist.«

»Woher willst du so etwas wissen?«

»Fernsehen.«

»O Mann.«

»Ich denke nicht, dass es jemanden interessiert«, sagte León. »Was ist in den Schränken?«

»Bettwäsche. Handtücher. Zahnbürsten. Plastikbecher. Zahnpasta und Klopapier.«

Mischa warf einen Blick zu dem festgeschraubten Stahlklo, das einen minimalen Sichtschutz aufwies. »Ich weiß nicht, ob ich da draufgehen kann.«

»Ein Waschbecken gibt es nicht. Wahrscheinlich werden wir einmal täglich zu Duschräumen geführt.«

»Wie machen die das mit dem Abwasser?«, fragte León. »Die Käfige werden doch ständig bewegt.«

»Ich habe gesehen, wie sich ein flexibles Rohr automatisch andockt, wenn die Zelle in ihrer endgültigen Position einrastet«, sagte Mischa.

»Was soll das überhaupt? Dieses ganze Verschieben macht doch keinen Sinn.«

»O doch. So wird verhindert, dass sich Gruppen bilden, Gangs entstehen. Heute bist du hier, morgen ganz woanders«, sagte Tian. »Ich hab darüber nachgedacht. Die Sache ist ziemlich clever und ich bin mir sicher, dass da noch mehr ist. Wenn hier unten Tausende von Gefangenen sind, dann muss es weitere Speisesäle geben, denn selbst bei einem vierundzwanzigstündigen Schichtbetrieb könnten nicht alle in einem einzigen Raum versorgt werden. Wir sollten auch davon ausgehen, dass eine Krankenstation vorhanden ist. Räume, in denen das Werkzeug für die Bergarbeit aufbewahrt wird. Irgendwo müssen die Wachen wohnen und schlafen. Es sei denn, nachts ist hier unten nur eine kleine Truppe für den Wachdienst und die Männer von der Tagesschicht werden jeden Morgen heruntergebracht.« Er seufzte. »Ich denke, wir haben bisher erst einen kleinen Teil der gesamten Anlage gesehen.«

»Was hat der Junge bei der Essenausgabe mit Vogelkäfige gemeint?«, fragte León.

»Ehrlich, das will ich gar nicht wissen. Allein bei der Art, wie er das Wort ausgesprochen hat, habe ich eine Gänsehaut bekommen.«

»Sind in den Schränken auch Kissen?« León sah zu Tian hinüber.

»Ja.«

»Wirf mir mal bitte eins rüber. Ich glaube, ich lege mich auch auf die Pritsche.«

»Müde?«

»Nein, ich muss nachdenken.«

»Dafür hast du hier jede Menge Zeit.« Es klang bitter.

»Ja, und genau darüber muss ich nachdenken.«


Mary war in einer anderen Welt, die nur in ihrem Kopf existierte. In einer Welt aus Schatten, die zur Tür hereinfielen und das Zimmer eroberten, bevor ihnen der wahre Schrecken folgte.

Aber sie war nicht allein. Im Zimmer nebenan wimmerte leise ihr kleiner Bruder David.

Das Plätschern der Wellen gegen den Bootsrumpf verstummte und sie hörte die Schritte. SEINE Schritte. Wie er vor der Tür auf und ab ging, so als dächte er nach, als bereute er, aber das waren nur Augenblicke, denn es geschah immer wieder. Es gab keine wahrhafte Reue, nur seinen schweren Atem, wenn er ihr ins Ohr flüsterte, dass sie Papas kleines Mädchen sei.

Mary hörte, wie die Tür zum Zimmer ihres Bruders aufschwang, ein kaum vernehmbares Ächzen der Scharniere. Dann die flüsternde Stimme ihres Vaters.

Jetzt sagte er vermutlich, dass David schlafen solle, alles in Ordnung sei, aber nichts war in Ordnung. Niemals wieder. Nicht für David und auch nicht für sie.

Die Tür ächzte erneut, dann verklangen die Schritte.

Zurück blieb Einsamkeit.

Tränen.

Und das Gefühl unendlicher Demütigung.

Leise schob sie die Bettdecke zurück und erhob sich.

Der Boden war kalt unter ihren Füßen und sie fröstelte. Unsicher stand sie da. Sie musste zu David. Ihn in den Arm nehmen, halten und trösten. Ihm vorlügen, alles würde gut werden.


In der Nacht schlief León unruhig. Nicht nur die merkwürdige Umgebung sorgte dafür, dass er sich unruhig von einer Seite auf die andere wälzte, es war auch das Stimmengemurmel der Gefangenen, das wie das Summen eines Bienenschwarms durch die Höhle zog. Dazu das permanente Husten und das Fluchen, das ihn immer wieder aufschreckte.

All das wurde in der Nacht von Klopfgeräuschen überdeckt. Zunächst verstand León die Ursache des Klopfens nicht, aber mit der Zeit begriff er, dass es sich dabei um ein ausgefeiltes System zur Nachrichtenübertragung handelte. Ähnlich dem Morsealphabet, nur dass anscheinend keine Buchstaben, sondern ganze Wörter übermittelt wurden.

»Hörst du das auch?«, fragte Tian in der Dunkelheit, die immer nur kurz erleuchtet wurde, wenn das Licht eines der Scheinwerfer darüber hinwegstrich.

León nickte, aber dann fiel ihm ein, dass der andere es ja nicht sehen konnte. »Klingt, als würden sie sich etwas mitteilen«, meinte er.

»Da bin ich mir sicher«, sagte Mischa. »Ich denke, so bleiben Freunde und Gefährten in Kontakt, die getrennt wurden. Bei den Distanzen hier dürfte Rufen ziemlich sinnlos sein.«

León kratzte sich am Kopf. Das klang logisch. Und ihm fiel etwas auf: Die Gefangenen klopften nicht wild durcheinander. Jede Nachricht begann mit drei Klopfzeichen und endete mit vier Zeichen, erst danach wurden andere Botschaften gesandt. Nur wie sprachen sich die Gesprächspartner an? Gab es Zeichen für Namen? Er wusste zwar nicht, mit wem er Nachrichten austauschen sollte, aber die Sache interessierte ihn. Er würde versuchen, die Klopfsprache zu lernen.

Die Zelle hatte sich seit dem Abendessen, das sie in einem anderen Saal eingenommen hatten, nicht mehr bewegt. Zu Leóns großer Erleichterung waren sie den beiden negras nicht noch einmal begegnet. Das System zur Verhinderung von Gangbildung hatte also auch Vorteile.

Nach dem Essen hatte sie ein Wärter zu einer Doppelzelle geführt, die als Kleiderkammer diente. Man hatte ihnen Ersatzkleidung und jedem drei kleine Plastikflaschen Wasser ausgehändigt.

Der Wärter hatte ihnen auch das Nötigste zum kommenden Tagesablauf erklärt. Er war dabei ziemlich knapp geblieben und so wussten sie nun, dass sie am nächsten Tag zur Arbeit in die Stollen gebracht werden würden. Was sie dort erwartete, hatte er ihnen nicht verraten.

Entgegen Leóns Hoffnung hatte man sie danach nicht zu den Duschräumen, sondern sofort wieder zurück in die Zelle geführt. Da es kein Waschbecken gab, hatte er sich über der Toilette die Zähne geputzt und mit dem Trinkwasser den Mund ausgespült. Mischa und Tian hatten es ebenso gemacht.

Kurz darauf waren die Lichter an der Höhlendecke erloschen und nur noch die Scheinwerfer strichen mit ihren bleichen Fingern über die Käfige.

Seitdem lag León mehr oder weniger wach auf seiner Pritsche. Wenn überhaupt, nickte er nur kurz ein, um gleich darauf wieder aufzuschrecken. Er dachte an seine Tätowierungen, die zeigten, dass er ein harter Kerl gewesen war, der bestimmt keiner Auseinandersetzung aus dem Weg ging, aber hier, an diesem merkwürdigen, bizarren Ort, fühlte er sich schwach und verloren.

Die fehlenden Erinnerungen setzten ihm ebenso zu wie der Gedanke, die nächsten fünfundzwanzig Jahre in einem verlassenen Bergwerk zu verbringen. Er würde ein Mann in mittleren Jahren sein, wenn er das nächste Mal den Himmel sah, den Duft einer Blume roch oder ein Mädchen küsste. Neben ihm begann Tian leise zu schnarchen. León gönnte ihm die Auszeit, aber gleichzeitig beneidete er ihn darum, dass er diesem Ort für ein paar Momente entfliehen konnte, und sei es nur in seinen Träumen.

Tian und Mischa schien es ähnlich wie ihm selbst zu ergehen. Beide behaupteten seltsame Sachen über sich, ohne Erklärungen dafür zu haben, wie sie nach Hell’s Kitchen gekommen waren. Im Gegensatz zu ihm schienen sie sich jedoch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, aber vielleicht täuschte das auch.

Und dann war da noch Mischas Erzählung von dem Traum, in dem León vorgekommen war. Die Bilder, die Mischas Worte erzeugt hatten, schwangen in ihm nach und er hatte das Gefühl, tatsächlich an diesem Ort in der Steppe gewesen zu sein, aber das war natürlich vollkommen unmöglich, denn er hatte es nie aus Los Angeles hinausgeschafft.

Nach dem Essen, noch bevor das Licht erlosch, hatte er Mischa beobachtet und festgestellt, dass ihm seine Art, sich zu bewegen, aber auch seine Mimik irgendwie bekannt vorkam. Besonders sein schiefes Grinsen weckte in León etwas, das er nicht benennen konnte.

Als die Dunkelheit gekommen war, hatte er aufgegeben, darüber nachzudenken. Aber anstatt Ruhe zu finden, jagte eine Frage nach der anderen durch sein Gehirn.

Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf, aber kurz darauf erklang eine Sirene, die ihn zusammenschrecken ließ.

»Gefangene aufstehen!«, dröhnte es aus den Lautsprechern.

León rappelte sich übermüdet auf und schlüpfte in seinen Overall und die Turnschuhe. Dann wurde der Container angehoben.

Beim Frühstück saß León nur da und glotzte stumpfsinnig in seine Plastikschüssel mit Haferbrei.

»Du siehst scheiße aus«, meinte Tian. »Iss etwas.«

»Keinen Hunger. Ich bin hundemüde.«

»Das sind wir alle. Nachher müssen wir in die Stollen, du brauchst deine Kraft.«

Lustlos schob León seinen Löffel in den Brei, der aussah, als hätte ihn jemand kurz zuvor erbrochen.

»Können die in diesen Fraß keinen Zucker reinmachen?«, beschwerte sich Mischa. »Wie soll man denn diesen Mist ohne Zucker runterbekommen?«

»Halt die Fresse«, erklang es vom Nebentisch. Ein hünenhafter Typ mit wirren schwarzen Haaren starrte herüber. Sein Freund, ein schmaler Wicht mit vogelartigem Gesicht und zurückweichendem Haar, kicherte.

»Habe ich mit dir geredet?«, schnauzte Mischa zurück.

»Halt trotzdem das Maul oder ich komme rüber und stopfe es dir.«

Noch bevor Mischa etwas entgegnen konnte, erklang die Stimme eines Wärters, der auf dem Drahtgeflecht des Saales patrouillierte. »Robertson, keine Drohungen, oder es geht in den Käfig.«

Sofort nahm der Hüne eine unterwürfige Haltung ein und sagte: »Ja, Sir.«

»Ist das klar?«

»Ganz sicher, Sir.«

Der Typ ließ den Kopf sinken, aber seine Augen blitzten, als er Mischa hasserfüllt anstarrte. Der blonde Junge hatte also auch einen neuen Freund gefunden.

»Die quatschen immer wieder etwas von Vogelkäfigen«, sagte Tian. »Irgendeine Idee, was damit gemeint sein könnte?«

Sowohl Mischa als auch León schüttelten die Köpfe.

»Ist sicher eine Bestrafung«, sagte der Russe.

»So weit waren wir schon«, meinte Tian. »Hier besteht doch alles aus Käfigen, was soll an diesen Vogelkäfigen so besonders sein?«

»Ich denke, das finden wir besser nicht heraus.«

Noch während León den letzten Löffel Haferbrei herunterwürgte, ertönte eine Sirene und eine Stimme erklang. »Alle Gefangenen zur Ausgabe der Werkzeuge einfinden. Die Neuzugänge der letzten vierundzwanzig Stunden folgen den anderen.«

An sämtlichen Tischen sprangen die Jugendlichen auf und brachten hastig ihr Geschirr zur Ablage. Danach strömten sie in einem eiligen Zug durch die Hauptröhre des Speisesaales in einen Gittergang.

León, Mischa und Tian folgten ihnen und erreichten eine gigantische, kreisrunde Plattform, auf der sich die Gefangenen sammelten. Hunderte und Aberhunderte von jungen Männern flossen wie das Meer aus allen Richtungen in diese metallene Bucht, die der riesigen Landeplattform eines Raumhafens ähnelte.

Obwohl sich hier nun so viele Menschen drängten, herrschte eine seltsame Stille. Kaum jemand sprach und wenn, dann nur leise mit seinem Nebenmann. Lediglich das Rascheln der Kleidung und das Schlurfen der Turnschuhe waren zu hören. Der Geruch ungewaschener Körper lag in der Luft.

León hatte erwartet, dass man sie nach dem Frühstück zu den Waschräumen bringen würde, aber nun wurde ihm klar, dass dieser Gedanke unsinnig war. Warum sollten sich die Häftlinge waschen, wenn sie im direkten Anschluss in die Stollen zum Arbeiten mussten?

Hinter der Plattform konnte León die Eingänge in die Stollen sehen, die den hohen Fels wie einen grauen Schweizer Käse aussehen ließen. Eine steile Rampe, so breit wie ein Highway, führte nach oben, wurde aber im Moment noch von einem Dutzend schwer bewaffneter Wärter blockiert.

Die Männer trugen schwarze Kampfmonturen, kugelsichere Westen, Helme und Schutzgläser vor ihren Augen. An ihren Gürteln baumelten Gasmasken, Funkgeräte und Handschellen. Die Waffen in ihren Händen sahen wie kurzläufige Gewehre aus, hatten aber wesentlich breitere Mündungen. León hatte solche futuristisch wirkenden Schusswaffen noch nie gesehen.

Er wandte sich an einen schmalen Jungen mit blonden Haaren, der neben ihm stand. »Was verschießen die für eine Munition?«, fragte er leise.

»Dizzer«, flüsterte der andere.

León hob ratlos die Hände.

»Elektromunition. Daumengroße Kugeln, die sich an deinen Körper heften und eine elektrische Ladung abgeben, die dich sofort aus den Schuhen haut. So ähnlich wie bei einem Elektroschocker, nur viel stärker. Sämtliche Muskeln verkrampfen sich. Du kannst dich nicht bewegen und hast das Gefühl zu ersticken, da du nicht mehr richtig atmen kannst. Die Wirkung hält eine Stunde lang an. Wer das einmal mitgemacht hat, vergisst es nie wieder.«

»Wie heißt du?«

»Samuel.«

»Ich bin León. Das sind Tian und Mischa.« Er streckte ihm die Hand hin.

Der Junge zögerte zunächst, dann ergriff er sie vorsichtig. »Freut mich. Ihr seid neu?«

»Ja, gestern angekommen.«

»Ich bin schon vier Monate da.«

»Na, dann weißt du ja, wie es läuft. Was passiert jetzt?«

»Wir werden nach unseren Nummern aufgerufen und den Stollen zugewiesen.«

»Wie viele Gefangene gibt es hier unten?«

»Das weiß niemand so genau, aber ich schätze an die zweitausend.« Er schaute auf Leóns Overall, dann wanderte sein Blick weiter zu Tian und Mischa. »Ihr habt fortlaufende Neunzehnhunderternummern, also wahrscheinlich Nummern, die davor noch nicht vergeben waren, das spricht für das, was ich gesagt habe. Wenn der Boss euch aufruft, geht ihr nach vorn und holt euer Werkzeug ab. Ein Wächter bringt euch in den Stollen.«

»Wer ist der Boss?«

»Der da. Der Große.« Samuel nickte in Richtung eines Mannes, der an die zwei Meter groß war und seine finsteren Blicke über die Menge schweifen ließ. »Vor dem müsst ihr euch in Acht nehmen. Er ist gnadenlos. Ballert gern mit den Dizzern herum und schickt euch beim kleinsten Vergehen in die Vogelkäfige.«

»Was ist das?«

»Wisst ihr nicht, dass …« Samuel korrigierte sich selbst. »Könnt ihr ja nicht, ihr seid ja erst seit gestern da.« Er zuckte mit den Schultern. »Darüber spricht man nicht. Es bringt Unglück und man landet selbst dort, wenn man davon redet. Sorry.«

»Okay, was erwartet uns in den Stollen?«

Samuel grinste und drehte seine Handflächen nach oben, die von Schwielen bedeckt waren. »Harte Arbeit und Staub. Jede Menge Staub. Man frisst das Zeug geradezu. Wenn du dir die Nase putzt, ist dein Rotz genauso schwarz wie deine Scheiße, die wie Steinkohle aussieht. Der Dreck setzt sich in die Poren und trocknet deine Haut aus. Tagsüber geht es noch, aber nachts, wenn du auf dem Rücken liegst, fängt die Husterei an. Und jedermann hier unten schnarcht, weil die Nase verstopft ist. Manchmal mache ich kein Auge zu, aber irgendwie gewöhnt man sich auch daran. Ist eh egal, wir gehen sowieso alle drauf. Hier ist noch keiner rausgekommen. Entweder du krepierst an einer Staublunge oder die Deeper holen dich.«

»Was soll das heißen?«, mischte sich Tian ein. »Es muss doch Gefangene geben, die ihre Strafe abgesessen haben.«

»Möglicherweise.« Samuel verzog den Mund. »Ich habe noch keinen kennengelernt oder von einem gehört, aber wer weiß das schon, hier unten macht man kaum Bekanntschaften. Vielleicht wird doch ab und zu jemand entlassen.«

»Was meinst du mit Deeper?«, fragte Mischa.

»Es heißt, sie würden in den Stollen hausen. Ist so eine Art Legende. Noch nie wurde einer von ihnen gesehen, aber man kann sie hören. Eine Art Jaulen. Manche sagen, es wäre der Luftzug, der durch die Stollen zieht. Das ist die offizielle Version der Gefängnisleitung. Wenn jemand verschwindet, und das passiert öfter, heißt es, er wäre in eine Felsspalte gefallen oder hätte sich in den Gängen verlaufen. Vielleicht ist es aber auch ein paar Jungs gelungen zu fliehen. Es gibt Gerüchte, dass manche der Gänge an die Oberfläche führen. Aber da keine Karten von dem Bergwerk existieren, weiß eigentlich niemand so genau, wie verzweigt die Anlage ist und welcher Gang abseits der Haupttrassen wohin führt.«

»Glaubst du, es gibt die Deeper?«, fragte León.

Samuel sah ihn ernst an. »Ich weiß nicht. Ich denke schon. Zum einen sind da diese merkwürdigen blauen Zeichnungen an den Felswänden, die sich niemand erklären kann, so eine Art Graffiti oder Symbole. Zum anderen trauen sich selbst die Wärter nicht weit in die Stollen hinein, und das, obwohl sie schwer bewaffnet sind. Das könnte bedeuten, dass sie mehr wissen, als sie zugeben und uns verraten. Allerdings spielt ihnen die Furcht vor den Deepern auch in die Hände, denn trotz der beschissenen Situation hier unten versucht fast niemand zu fliehen. Die Angst vor den Monstern sitzt allen im Nacken und jeder ist froh, wenn er nach der Schicht die Stollen wieder verlassen kann.«

Die Sirene erklang erneut.

Dann sprach der Boss: »Gefangene mit den Nummern unter einhundert, begebt euch in Stollen 1. Dort erhaltet ihr euer Werkzeug und werdet für die Arbeit eingeteilt.«

Dutzende Jugendliche lösten sich aus der Menge und gingen auf die Linie der Wärter zu, die eine Gasse für sie öffneten.

León schaute in ausgemergelte Gesichter, bar jeder Hoffnung. Die Overalls schlotterten an den Körpern der meisten und alle schlurften wie alte Männer voran. Das mussten die Häftlinge sein, die von Anfang an hier unten waren. Die ersten, die man in die Tiefe gebracht hatte. Wie viele Jahre war das jetzt her? León konnte sich nicht daran erinnern, ob Samuel oder Tian darüber gesprochen hatte, aber wenn er diese Jugendlichen so betrachtete, musste es eine lange Zeit sein.

Danach wurden die Gruppen von einhundert bis zweihundert aufgerufen.

»Wir bauen Kobalt ab. Es gibt drei Arten von Arbeit in den Stollen. Die Hauer, die mit ihren Spitzhacken die Felsbrocken lösen. Die Schlepper sammeln das Zeug in riesigen Ledersäcken ein und schleppen sie wie Lastesel hinter sich her zu den Abförderern, die die Säcke in kleine Loren schütten, die dann von mehreren Jungen über ein Schienennetz zu den Sammelstellen gebracht werden. Von dort geht es mit schwer bewachten Aufzügen an die Oberfläche. In den Stollen gibt es keinen Strom. Alles wird durch reine Muskelkraft erledigt. Wir erhalten Helme mit Akkulampen. In den Stollen hängen weitere Leuchten. Tragt immer eure Atemmasken, auch wenn sie dreckig sind und stinken, als kämen sie direkt aus der Hölle. Sonst macht euch der Staub fertig. Es gibt eine einzige Pause, in der man uns Essen bringt. Fast zweitausend Mann zurück in die Speisesäle zu führen, würde zu lange dauern, also nehmen wir unser Mittagessen in den Stollen ein. Wenn ihr scheißen oder pissen müsst, sucht euch einen aufgegebenen Stollen. Ich hoffe, ihr habt Klopapier mitgenommen.

Alle drei schüttelten den Kopf.

Samuel seufzte. »Dann müsst ihr bis zum Abend durchhalten.«

»Sind wir allein da drin?«, fragte Mischa.

»Die Wächter bleiben in den Hauptstollen und am Sammelplatz für das Erz. Die Gänge sind permanent einsturzgefährdet, da trauen die sich nicht rein. Außerdem gibt es ja auch noch die Deeper. Aber glaubt nicht, dass ihr euch einen faulen Lenz machen könnt. Die Fördermenge jeder Gruppe wird gewogen. Bleibt man unter dem Tagessoll, geht es ab in die Vogelkäfige.«

»Wie hoch ist das Tagessoll?«

»Das erfährt man erst am Ende der Schicht. Ist ziemlich clever. Es wechselt jeden Tag. Mal mehr, mal weniger. Alle Gruppen sind gezwungen, so hart wie möglich zu schuften, damit auf keinen Fall das Ziel verfehlt wird. Eine verdammte Sauerei, wenn ihr mich fragt, aber man kann sich beschweren. Jede Woche haben wir einen freien Tag und einmal im Monat kommt ein Sozialarbeiter runter, dem man sein Herz ausschütten kann. Bringen wird es kaum etwas, aber vielleicht fühlt man sich ja danach besser. Das System ist perfekt durchdacht, da ändert sich nichts, und seit wir den neuen Präsidenten haben, sieht es sogar danach aus, als würde alles schlimmer werden.«

León wollte gerade noch eine Frage stellen, aber da wurden die Nummern tausendsechshundert bis tausendsiebenhundert aufgerufen.

»Das bin ich. Ich muss los. Okay, Leute, vielleicht sieht man sich bald mal. Viel Glück.« Samuel hastete nach vorn durch die inzwischen stark gelichteten Reihen.

»Fuck!«, fluchte Mischa leise.

»Klingt nicht gut«, stimmte Tian ihm zu. »Aber da müssen wir jetzt durch.«

León sagte nichts, sondern spuckte auf den Boden. Was auch immer ihn in den Stollen oder diesem beschissenen Gefängnis erwartete, die würden ihn nicht kleinkriegen. Das schaffte keiner.

Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht

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