Читать книгу Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht - Rainer Wekwerth - Страница 12
5.
ОглавлениеDrei Stunden später war León bereit, diese Aussage infrage zu stellen. Er war mit einhundert anderen Jugendlichen zur Werkzeugausgabe und danach in einen Stollen geführt worden. Der Wärter hatte ihm grinsend eine Spitzhacke in die Hand gedrückt, ihm Lederhandschuhe gegeben und wortlos eine verdreckte Staubmaske aus Baumwolle überreicht, die so schwarz wie die Seele des Teufels war. Durch das Ding war es unmöglich, Luft zu bekommen. Weiterhin eine Plastikschutzbrille, die vollkommen zerkratzt war. Der Mann hatte ihm noch eine Plastikflasche in die Hand gedrückt und ihm geraten, sich das Wasser sorgfältig einzuteilen. Er musste den ganzen Tag damit auskommen.
Tian war bei den Abförderern eingeteilt worden, Mischa bei den Schleppern. Als León den großen Ledersack gesehen hatte, der von Mischa durch die Stollen gezogen werden sollte, hatte er Mitleid für den Russen verspürt. Wenn der Sack voller Erz war, konnte er sich kaum vorstellen, dass man das Ding auch nur einen Meter weit bewegen würde.
Der Lärm im Stollen war ohrenbetäubend. Mindestens zwanzig weitere Jugendliche befanden sich in Leóns unmittelbarer Nähe und trieben ihre Hacken in den Fels. Er konnte nicht weit sehen, da es im Tunnel recht düster war. Außerdem hatte er bemerkt, dass alle anderen Jugendlichen in seiner Nähe sich Klopapier in die Ohren gestopft hatten, aber er war zu stolz, einen der anderen um ein Stück zu bitten.
Das Felsgestein war hart. Jedes Mal wenn León die Hacke reinschlug, erzitterte sein Körper unter der Erschütterung. Eine Schmerzwelle jagte seine Arme hoch, in seine Schultern und dann direkt in den Schädel. Inzwischen hatte er höllische Kopfschmerzen und seine Hände brannten wie Feuer in den alten, steifen Lederhandschuhen.
Schweiß rann unablässig über sein Gesicht. Ihm war übel, da er kaum Luft durch die Staubmaske bekam. Schließlich riss er sie runter und stopfte sie in seine Hosentasche.
Ein Junge neben ihm ließ seine Hacke sinken und sah ihn an. »Mach das nicht. Lass die Maske dran, sonst kotzt du heute Abend Kohle.«
»Ich kann durch das Ding nicht atmen.«
»Trotzdem. Übrigens: Ich bin Sebastian.«
»León.«
»Neu hier?«
»Gestern angekommen.«
»Ich bin schon zwei Wochen da. Wie ich sehe, hast du keine Ohrpfropfen. Ist mir am ersten Tag auch passiert.« Er fasste in die Brusttasche seines Overalls und reichte León einige Blätter Klopier.
»Danke«, sagte León.
»Wenn es mit der Maske nicht geht, kannst du dir davon auch etwas in die Nasenlöcher stopfen.«
León nickte. »Was hast du ausgefressen?«
Der Junge lachte bitter. »Das willst du nicht wissen.« Dann wandte er sich wieder ab und arbeitete weiter.
León seufzte. Um seine Füße hatte sich bereits jede Menge Abraum gesammelt und er pfiff auf den Fingern nach einem Schlepper, so wie er es bei den anderen gesehen hatte.
Aus der Düsternis stapfte Mischa auf ihn zu.
»Was für eine verdammte Scheiße!«, fluchte er zur Begrüßung.
»Du kannst gern meine Hacke haben.«
»Mir tut jetzt schon der ganze Rücken weh und wir haben noch nicht mal Halbzeit.«
León musste husten. Der Auswurf war tatsächlich dunkelgrau und zäh. »Wie kann man das länger als einen Monat überleben?«
»Keine Ahnung.« Mischa zuckte mit den Schultern. »Du hast was für mich?«
León deutete auf die Felsbrocken vor ihm.
»Ah ja«, meinte der Russe. »Mal was ganz anderes. Schwarze Steine. Lange nicht gesehen.« Er lachte meckernd, aber es klang verzweifelt.
León reichte ihm etwas Klopapier. »Stopf dir das in die Ohren.«
»Woher hast du das?«
»Von dem Jungen neben mir.«
»Netter Bursche.« Mischas Augen leuchteten unnatürlich weiß im staubverschmierten Gesicht. »Ich habe auch schon einen Freund gefunden. Da ist so ein drei Zentner schwerer Fettsack bei den Abförderern, der zu mir gesagt hat, dass er sich meinen Arsch vornehmen will, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Wie man bei dieser Schufterei so fett bleiben kann, ist mir ein Rätsel.«
»Macht dir der Typ Sorgen?«, fragte León.
Mischa winkte ab. »Ich habe die meiste Zeit meines Lebens im Internat verbracht. Da gab es immer einen, der größer und stärker war als ich und glaubte, er hätte leichtes Spiel mit mir. Ich habe sie alle in Grund und Boden gestampft. Nein, nein, lass den Dicken nur kommen. Ein bisschen Bewegung wird mir guttun.« Mischas Zähne blitzten auf. »Ich boxe seit Jahren, der Wichser hat genau das gleiche Format wie der Sandsack, den ich täglich bearbeitet habe.« Er begann, den Abraum in den Sack zu laden.
»Komm, ich helfe dir«, meinte León und bückte sich.
»Danke, mal schauen, ob du morgen auch noch die Kraft dazu hast.«
»Du bist ein Optimist.« León grinste ihn an.
»Merkt man das so deutlich?«
Beide lachten.
Ein paar der anderen Jungs ließen die Hacken sinken und schauten zu ihnen herüber. Mischa winkte.
»Mit Freundlichkeit gewinnt man Herzen«, sagte er lächelnd. Dann schlüpfte er in die Tragegurte und warf sein Gewicht nach vorn. Offensichtlich ließ sich der Sack nur mit Mühe bewegen.
»Bis später«, keuchte Mischa.
León sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Dann griff er wieder zu seiner Hacke.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ertönte eine Sirene und alle Jugendlichen ließen ihre Hacken fallen. Jeder setzte sich dort auf den Boden, wo er sich gerade befand.
Klappern erklang im Stollen und León sah zwei Jugendliche auf ihn zukommen, die kurze Stangen auf ihren Schultern trugen, an denen große, runde Gefäße baumelten. Da er sich im hintersten Teil des Stollens befand, kam er als Letzter dran. Ein schmächtiger, kleiner Bursche reichte ihm eine Blechschüssel, in die er aus dem Behälter dicke Suppe goss, dann reichte er ihm noch ein großes Stück Brot.
»Mahlzeit«, sagte er.
»Löffel?«, fragte León, als sich der Junge bereits umwandte.
»Gibt’s nicht. Trink die Suppe und wisch den Rest mit dem Brot aus. In fünfzehn Minuten komme ich wieder und hole das Geschirr ab. Bis dahin muss alles leer und sauber sein. Schmeckt scheiße, aber schütt den Fraß nicht weg, sonst haben wir bald ein Rattenproblem.«
»Alles klar.«
Der Typ hastete davon.
Die Suppe war nur noch lauwarm und schmeckte nach Pappe, aber sie gab ihm etwas Kraft zurück. Zu seiner Überraschung war das Brot frisch und knusprig und León biss herzhaft hinein. Wie vorgeschlagen wischte er im Anschluss die Schüssel sauber und stellte sie auf einem Steinbrocken ab. Danach lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Felsen und schloss die Augen.
Irgendwie musste er eingenickt sein, denn plötzlich war der Junge wieder da und sammelte die Schüssel ein. Wortlos machte er sich auf den Rückweg.
Die Sirene ertönte. Die Pause war vorbei.
León nahm die Spitzhacke auf und erhob sich schwerfällig. Sein Rücken protestierte, als er sich zu ganzer Größe aufrichtete, aber er ignorierte den Schmerz und biss die Zähne zusammen.
Dann ließ er die Hacke in die Wand krachen.
Es war ein trauriger Zug, der sich aus den Tunneln schleppte und durch die Gittergänge schlurfte.
Niemand sprach, alle wirkten total erschöpft. Neben León trotteten Tian und Mischa kraftlos daher. Beide waren vollkommen verdreckt, ihre Gesichter staubverschmiert. Sie sahen aus wie Dämonen, die die Unterwelt ausgespuckt hatte.
Hinter ihm ging ein Junge, der leise weinte. León wandte sich um, betrachtete ihn und kam zu dem Schluss, dass er kaum älter als vierzehn sein konnte.
Er überlegte, ob er etwas Tröstendes sagen sollte, aber ihm fiel angesichts ihrer Situation nichts ein. Alle Worte würden hohl und leer klingen. Sie waren in der Hölle gelandet und es gab kein Entkommen.
Ein Trupp Wärter führte den Zug an, ein weiterer folgte am Ende. Schließlich hielten sie vor einer hohen Felswand, an der auf ganzer Breite quer verlaufende Rohre befestigt waren. Wortlos zog sich die erste Gruppe Jugendliche aus und warf die verdreckten Klamotten in bereitstehende Plastiktonnen, danach traten sie geschlossen an die Wand. Ein Pfiff ertönte. Dann erklang ein Zischen und Wasser sprühte auf sie herab.
León entdeckte erst jetzt, dass es kleine Ausbuchtungen im Felsen gab, in denen Seifenstücke lagen. Kaum fünf Minuten später erklang der Pfiff erneut. Die Wasserzufuhr erstarb und die Jugendlichen schritten nach links weg, wo sie von anderen Gefangenen Handtücher und frische Wäsche bekamen.
»Diesen Job hätte ich gern«, knurrte Tian neben ihm. »In der Wäschekammer Overalls bügeln und zusammenfalten. Ich hingegen habe den ganzen Tag wie ein Maultier diese verdammte Lore auf den Schienen gezogen oder geschoben.«
León war zu müde, um darauf einzugehen. Seine Arme brannten wie Feuer. Die Schultern fühlten sich an, als hätte man sie ausgekugelt, und seine Knie wackelten. Als er einen Blick auf seine Hände warf, die in der letzten Stunde vollkommen taub geworden waren, entdeckte er, dass die Haut an mehreren Stellen aufgerissen war und dicke Blasen, die klare Flüssigkeit absonderten, seine Handflächen bedeckten.
Irgendwann waren sie endlich an der Reihe. León zog die schmutzigen Sachen aus und stellte sich vor die Felswand. Als die Dusche einsetzte, war es eine unglaubliche Wohltat, sich den Dreck vom Leib zu spülen. Zwar war das Wasser kalt, aber León war von der harten Arbeit so verschwitzt, dass es ihm vollkommen egal war. Er seifte sich ein und schrubbte mit den Händen hastig über jede Stelle seines Körpers. In grauen Schlieren lief der Dreck an ihm hinunter und verschwand in vergitterten Abflüssen im Boden.
Es kam ihm wie Sekunden vor, bis der Pfiff ertönte und der Wasserstrahl erstarb. Fluchend schüttelte er sich und trottete zur Kleiderausgabe.
Ein Junge mit kurzen blonden Haaren und schmalem Gesicht reichte ihm stumm ein Handtuch. León rubbelte sich ab und warf dann das nasse Handtuch in einen Behälter.
»Steh gerade«, sagte der Junge und schätzte offenbar seine Körpergröße ab. Schließlich fasste er hinter sich, reichte León Unterwäsche, Socken, Turnschuhe und einen Overall.
»Dort drüben kannst du dich anziehen.« Er deutete nach rechts. »Danach bringen euch die Wärter zum Essen.«
Der Typ musste erkannt haben, dass er neu hier unten war, denn sonst hätte er ihm kaum den Ablauf erklärt.
León ging zu Mischa und Tian hinüber. Rasch schlüpfte er in die sauberen Sachen und fühlte sich wie neugeboren. Selbst seine Hände schmerzten nicht mehr so sehr, aber das dumpfe Pochen in seinen Schultern erinnerte ihn daran, dass er heute Nacht wahrscheinlich nicht wie sonst auf der Seite würde liegen können. Mit den übrigen Gefangenen stellte er sich nach dem Anziehen in einer Reihe auf. Ein Wächter kam heran.
»Abmarsch!«
Wie auf Kommando wandten sich alle Jugendlichen um und schritten dem Mann hinterher, während ein zweiter Wärter die Absicherung am Ende der Reihe übernahm. An die einhundert Häftlinge wurden so geordnet durch die Gittergänge geführt und erreichten zügig einen Speisesaal. Der große weitläufige Käfig sah zwar genauso aus wie der vom Vortag, aber León hatte das Gefühl, dass es sich um einen anderen handelte. Außerdem stand der blasse Junge nicht hinter der Ausgabe, aber das mochte nichts bedeuten.
Als León endlich an der Reihe war und seine Mahlzeit in Empfang nahm, blickte er enttäuscht auf den Teller. Reis, Bohnen und irgendetwas, das nach verbrannten Hackfleischbällchen aussah. Das Ganze schwamm in einer wässrigen Tomatensoße. Hinzu kam, dass die Portion ziemlich klein ausgefallen war und er einen Riesenhunger hatte.
»Ist das alles?«, fragte er den Jungen an der Ausgabe, der ihm nicht antwortete, sondern ihm nur ein Stück Brot in die Hand drückte.
León wandte sich ab und trottete mit Mischa und Tian im Schlepptau an den einzigen Tisch, an dem noch Plätze frei waren. Wortlos machte er sich über das Essen her.
»Meine Fresse«, knurrte Mischa neben ihm. »Heute Morgen der Haferbrei und jetzt das. Wer soll so was essen? Mal ehrlich, ich habe den ganzen Tag im Stollen geschuftet und dann gibt es diese Pampe hier.« Er hob mit dem Löffel ein vollkommen verkohltes Fleischbällchen an. »Und was soll das sein? Sieht aus wie Hundescheiße.«
»Iss es«, brummte León.
»Das kann man nicht essen.«
»Himmel, würg es einfach runter.«
»Verdammt!«
Trotzdem schob Mischa sich den ersten Löffel voll in den Mund. Tian schwieg. Wie meistens. Stumm schaufelte er das Essen, ohne dabei eine Miene zu verziehen.
»Wie war es bei dir?«, fragte León.
Tian hob den Kopf. Seine Augen waren vom Duschen gerötet. »Ist ziemlich hart.«
»Was musstest du machen?«
»Der Abraum, den die Schlepper bei uns abliefern, wird in Loren verladen. Das sind kleine Güterwaggons auf Rädern, die auf Schienen laufen. Diese Waggons werden von vier Jungs vorwärtsbewegt. Zwei hängen in Gurten und ziehen, die beiden anderen schieben. Nach jeder Fahrt wird gewechselt. In den ersten Stunden denkst du noch, dass der Wechsel eine einseitige Belastung verhindert, aber irgendwann kapierst du, dass dir schließlich alles wehtut. Meine Beine schmerzen, ebenso wie meine Arme. Das halte ich keine zwei Tage durch. Lieber wäre mir die Hackerei.«
»Nee.« León schüttelte den Kopf. »Glaub mir, ist auch nicht besser.« Er hob seine geschundenen Hände an, damit Tian sie sehen konnte. »Wie ich morgen weitermachen soll, ist mir ein Rätsel. Ich kann jetzt schon kaum die Hände öffnen oder schließen. Alles total verkrampft.«
»Meint ihr, die geben uns Schmerzmittel?«, fragte Tian.
Mischa lachte meckernd. »Du hast Ideen. Nein, natürlich nicht. Darum geht es ja: Wir sollen leiden. Für unsere Taten bestraft werden.«
»Habt ihr was von den Deepern gehört oder ihr Zeichen gesehen?« León schaute die beiden anderen an. Mischa und Tian schüttelten die Köpfe.
»Nein. Nichts«, meinte Tian. »Aber alle sprechen sehr ängstlich über sie. Reale Bedrohung oder nicht, die Leute fürchten sich.«
»Ich habe kaum mit jemandem sprechen können«, sagte Mischa, »und obwohl ich in einige Stollen gekommen bin, waren keine Zeichen an den Wänden.«
Die Sirene ertönte. Die Essenzeit war vorbei.