Читать книгу Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht - Rainer Wekwerth - Страница 8

3.

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Der Fahrstuhl hielt rumpelnd. Das schwere Gitter wurde aufgeschoben und León hinausgestoßen. Was er sah, verschlug ihm den Atem.

Unzählige Scheinwerfer beleuchteten eine gigantische Höhle, deren kuppelartige Decke sich in mindestens einhundert Metern Höhe über ihm erstreckte. An den Felswänden waren Schienen befestigt, die in alle Richtungen verliefen, sich kreuzten und überlagerten. Riesige Baukräne breiteten ihre Ausleger aus wie die Flügel prähistorischer Vögel.

Es herrschte ohrenbetäubender Lärm, der von großen Metallkäfigen erzeugt wurde, die sich unablässig über das Schienengewirr bewegten. Ein Lufthauch strich über Leóns Gesicht. Es roch nach Rost, Eisen und … Schweiß. Erst jetzt bemerkte er, dass die Käfige nicht leer waren. In jedem von ihnen befanden sich junge Männer. Manche hockten stumpfsinnig vor sich hin glotzend auf dem Boden ihrer Zellen, andere umklammerten die Gitterstäbe, brüllten zornige Verwünschungen und Flüche heraus.

Immer wieder schwangen die Ausleger der Kräne herum, hoben einen der Käfige hoch und setzten ihn auf einem anderen Schienensystem wieder ab. Der Krach war kaum auszuhalten. Das tiefe Brummen der von Elektromotoren betriebenen Baukräne vibrierte in Leóns Körper, brachte alles in ihm zum Schwingen. Übelkeit stieg in ihm auf und er erbrach sich auf den nackten Felsboden.

Einer der Wärter lachte meckernd. Der Typ mit dem gutmütigen Gesicht meinte: »Fast jeder, der das zum ersten Mal sieht, kotzt.«

Was in ihrem Fall nicht stimmte, denn weder Mischa noch der schwächlich aussehende Tian mussten sich übergeben, obwohl beide kreidebleich geworden waren. León sah, dass der Asiat zitterte. Krampfhaft knetete der Junge seine Hände, als könnte er damit einen bösen Fluch vertreiben.

Mischa hatte inzwischen seine Lippen so fest zusammengepresst, dass es aussah, als hätte jemand eine Linie quer über sein Gesicht geschnitten.

»Okay, raus jetzt!«, brüllte einer der Wächter gegen den Lärm an. Er deutete nach vorn. Dort saßen zwei Männer in Arztkitteln an einem Tisch.

León und die beiden anderen Gefangenen wurden untersucht und nach Vorerkrankungen befragt. Es gab keine Blutabnahme, dafür trat einer der Ärzte nach vorn. Er hielt ein merkwürdiges Gerät in der Hand, das wie eine Druckluftpistole aussah.

»Jeder von euch bekommt jetzt einen Chip eingepflanzt, der all eure Daten enthält. Dieser Chip öffnet euch zu bestimmten Zeiten Zugänge, andere werden durch ihn verweigert. Wenn ihr die Zelle verlasst, speichert er das ab und sorgt dafür, dass die gleiche Zelle bei eurer Rückkehr wieder bereitsteht. Der Sensor an der Tür registriert eure Anwesenheit. Die Tür schließt sich erst, wenn ihr alle drei in der Zelle seid. Jeder Versuch, das System zu manipulieren oder es auszutricksen, wird hart bestraft. Habt ihr das verstanden?«

Mischa, Tian und León nickten stumm.

»Gefangener, deine Inhaftierungsnummer ist 1912.«

Der Arzt presste die Mündung des Gerätes an Leóns Hals. Kurz durchzuckte ihn ein Schmerz, nicht schlimmer als ein Wespenstich, dann war es vorbei. Der andere Arzt kam heran und hielt ein kleines Kästchen an Leóns Hals. Etwas summte.

»Aktiviert!«, sagte der Mann.

Der Arzt winkte Tian heran. »Gefangener, deine Inhaftierungsnummer ist 1913.«

Die Prozedur wiederholte sich.

Dann war Mischa an der Reihe. »Gefangener, deine Inhaftierungsnummer ist 1914.«

Als alle gechippt waren, deutete der erste Arzt auf eine Rampe mit Schienen, auf denen gerade ein unbesetzter Käfig heranruckelte. »Da rein! Miller, nehmen Sie ihnen die Fesseln ab.«

Ein Wärter kam und befreite León und die beiden anderen, dann wurden sie vorangetrieben. León stolperte in die Zelle. Als alle drei drin waren, hob der Wärter eine Hand und die Gittertür schloss sich automatisch.

León schaute sich um. Ihre Zelle war etwa zwölf Meter lang, drei Meter breit und drei Meter hoch. An den Wänden waren ausklappbare Pritschen befestigt. Es gab ein Metallklo und ein Stahlwaschbecken, ferner einen im Boden verschraubten Tisch mit vier ebenso verschraubten Hockern. Oben an der Decke lief ein vergitterter Rotor, der wohl für die Luftumwälzung sorgen sollte.

Kaum hatte León sich orientiert, ertönte ein heulendes Signal und die Zelle setzte sich ruckelnd in Bewegung. Er musste sich festhalten, während der Container auf eine der Höhlenwände zusteuerte. Mehrere Minuten glitten sie über Schienen, dann wurden sie von einem gigantischen Kran, der an der Höhlendecke befestigt war, angehoben und etwas später wieder abgesetzt. Schließlich kam der Käfig mit einer Erschütterung zum Stehen. Die Gittertür öffnete sich und ein Metallgebilde, das wie Flechtwerk aussah, dockte an. Von einer unerreichbaren Rampe über ihnen blickte ein Wächter auf sie herab.

»Raustreten!«

Vor León entfaltete sich ein unglaublicher Anblick.

Hunderte von Käfigen, die aufeinandergestapelt oder durch vergitterte Drahtröhren miteinander verbunden waren, auf deren Oberseiten schwer bewaffnete Wärter patrouillierten. Durch das Gitternetz unter seinen Füßen starrte León in eine bodenlose, schwarze Tiefe.

»Vorwärts!«

León stolperte nach vorn und erreichte eine Kreuzung, dann befand er sich in einem weitläufigen Käfig, auf dessen Boden meterlange Metalltische und Metallbänke verschraubt waren.

Essenszeit.

»In einer Reihe anstellen!«

Die drei folgten dem Befehl wortlos. Aus allen Richtungen drängten Jugendliche heran, die in den Käfig strömten, um Essen zu fassen.

Über Leóns Kopf kreisten weitere Container, die herabgesenkt und durch bewegliche Gitterröhren mit dem Speisesaal verbunden wurden. Zum kreischenden Lärm der Container gesellte sich nun auch das Gemurmel der Gefangenen. Alle Hautfarben und Rassen waren vertreten. Ein breites Spektrum der Gesellschaft, aber niemand schien jünger als vierzehn Jahre zu sein und keiner wirkte älter als achtzehn. Zudem waren es alles Jungs.

Als León sich in der Reihe vor der Essenausgabe anstellte, warf er vorsichtige Blicke in die Runde. Die meisten Insassen sahen wie ganz normale Jugendliche aus, die man jederzeit in einem Club oder auf dem Schulhof treffen könnte, aber es gab auch ein paar finstere Gestalten, deren Blicke ihn trafen. Insbesondere die ebenfalls im Gesicht und am Körper tätowierten Jugendlichen, die Gangzeichen wie er trugen, starrten ihn hasserfüllt an. Zwei Latinos hatten ihn ins Auge gefasst. Ihre Tattoos wiesen sie als Mitglieder der muerte negras aus. Einer Gang, die einen Großteil der Straßen von Los Angeles kontrollierte und mit den hijos verfeindet war.

Na toll, das geht ja gut los.

León wandte den Blick ab und versuchte, entspannt zu wirken, während in ihm das Adrenalin tobte. Er war noch keine fünf Minuten im Saal und wusste bereits jetzt, dass es bald Probleme geben würde. Vielleicht nicht heute, denn die negras würden erst einmal abchecken, ob er Verbündete auf seiner Seite hatte und mit wie vielen Gegnern sie rechnen mussten, aber irgendwann würden sie ihn attackieren, da war er sich sicher.

Die beiden Latinos hatten inzwischen die Ausgabe erreicht, ihr Essen abgeholt und kamen nun direkt auf ihn zu. Einer von ihnen fuhr sich beim Vorbeigehen mit dem Finger über die Kehle, der andere lächelte hochmütig.

»Freunde von dir?«, fragte Mischa.

»Nicht direkt.«

»Konnte man sehen. Ich denke, da wartet Ärger auf dich.«

León zuckte mit den Schultern. Er deutete auf Tian, der etwas abseitsstand. Seine ganze Haltung drückte Kummer aus. Immer wieder fingerte er an seiner blauen Haarsträhne herum.

»Kennt ihr euch schon länger?«

Mischa schüttelte den Kopf. »Seit sechs Stunden, davon hat er fünf geflennt. Tian sagt, er komme aus China. Er versteht nicht, warum er hier ist und was er verbrochen hat. Faselt nur immer davon, dass seine kleine Schwester verschwunden ist, als er auf sie aufpassen sollte.«

Mischa sprach leise, aber León konnte sehen, wie der asiatische Junge mit den Augen zuckte, als er seinen Namen hörte.

»Was hast du ausgefressen?«, fragte Mischa.

»Man wirft mir versuchten Mord vor. Anscheinend habe ich fünfundzwanzig Jahre bekommen.«

»Anscheinend?«

»Ich kann mich nicht an die Verhandlung erinnern. Vielleicht hatte ich einen Unfall. Und du?«

»Ich bin Russe …«

»Echt jetzt? Hört man nicht.«

»Danke. Ich habe einen Anschlag auf meinen Vater überlebt, danach wurde ich hierhergebracht. Niemand hat mit mir gesprochen, aber ich denke, es ist eine Maßnahme zu meiner Sicherheit.«

»Du bist zur Sicherheit im Gefängnis? Hier, mit all den Kriminellen? Schlägern und Mördern?«

»Merkwürdig, nicht wahr?«

»Klingt, als hättest du ebenfalls Probleme mit dem Erinnerungsvermögen.«

»Du meinst, sie haben uns Drogen verabreicht?«

»Wäre doch möglich. Vielleicht damit wir vergessen, wer wir sind, und gefügig werden.«

Mischa blickte sich vielsagend um. »Wer so etwas unterirdisch baut, um Tausende junger Menschen von der Gesellschaft fernzuhalten, dem ist alles zuzutrauen.«

»Mann, die haben uns echt weggesperrt. Hier unten bekommt niemand mit, was mit uns passiert. Was weißt du über diesen Ort?«

Zu Leóns Überraschung mischte sich der asiatische Junge ein. In fast akzentfreiem Englisch sagte er: »Ich habe gehört, wie sich die Wächter darüber unterhalten haben. Wahrscheinlich dachten sie, ich verstünde kein Wort.« Er deutete zur Höhlendecke. »Das ist ein ehemaliges Bergwerk, in dem in früherer Zeit seltene Metalle abgebaut wurden. Als die Sache unrentabel wurde, haben sie das Bergwerk geschlossen und die schweren Maschinen abtransportiert. Der Staat hat den Laden übernommen und ein Gefängnis daraus gemacht. Das sicherste Gefängnis der Welt. Hier kommt keiner weg. Nun lassen sie die Jugendlichen in den Stollen schuften. Sechs Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Mit Hacken müssen wir Brocken aus dem Fels hauen, die später eingeschmolzen werden, aber das geschieht an der Oberfläche.«

»Hast du nicht gesagt, das Bergwerk wäre unergiebig?«, merkte León an.

»Für Abbau im großen Stil schon, da ist es unrentabel. Um jugendliche Straftäter zu beschäftigen und müde zu machen, reicht es noch.«

»Fuck«, stieß León hervor. »Ich habe keinen Bock auf Schufterei und Staublunge.«

»Beschwer dich beim Direktor«, meinte Tian trocken.

Inzwischen war die Reihe so weit vorgerückt, dass León vor der Essenausgabe stand. Er griff sich ein Tablett und einen Plastiklöffel. Messer und Gabel waren nicht vorhanden. Ein schmächtiger blasser Junge reichte ihm einen Teller mit Kartoffelbrei, irgendwelchen Fleischklumpen und Gemüsematsch.

»Das soll ich essen?«, fragte León.

»Ihr seid neu hier. Die Löffel sind abgezählt«, sagte der Junge. »Wenn ihr den Teller in die Abgabe stellt, muss er darauf liegen. Das wird kontrolliert. Sollte ein Löffel fehlen, verlässt niemand den Saal, bis er gefunden wurde. Was passiert, wenn ihr versucht, einen zu klauen, könnt ihr euch denken.«

»Nein, was geschieht dann?«, fragte Mischa.

»Dann geht’s ab in die Vogelkäfige«, sagte der andere grinsend.

»Was …«

»Schnauze!«, brüllte jemand hinten. »Quatscht nicht rum und geht weiter. Andere Leute haben auch Hunger.«

Mischa wandte sich nicht einmal um, sondern hob nur den Mittelfinger. León nahm sein Tablett und suchte nach einem Platz.

Zu seiner Erleichterung war sogar ein ganzer Tisch frei. León steuerte rasch darauf zu und setzte sich auf einen der am Boden festgeschraubten Hocker, der ebenso aus Stahl war wie der Tisch. Er stellte sein Tablett auf der verkratzten und stumpf gewordenen Oberfläche ab. Kurz darauf kamen auch Tian und Mischa.

»Meint ihr, das Zeug ist essbar?«, fragte der Russe.

»Riecht ganz okay. Hauptsache, man wird satt«, meinte Tian.

»Und ich dachte immer, Chinesen wären Feinschmecker.«

»Sind sie auch, aber vor allem denken sie praktisch. Du hast Hunger – das ist Nahrung. Ende. Aus.«

»Na, wenn du es einem so schmackhaft machst, wie soll man da widerstehen?« Mischa probierte etwas von dem Kartoffelbrei. »Schmeckt wie Dachpappe.«

»Versuch das Fleisch«, sagte León. »Ich glaube, die züchten hier unten Ratten.«

»Hast du schon mal Ratte probiert?«, fragte Tian.

»Nein, natürlich nicht.«

»Woher willst du dann wissen, wie sie schmecken?«

»Leck mich doch.«

»Heute nicht«, erwiderte Tian lachend.

León stimmte in sein Lachen ein. Zum ersten Mal an diesem beschissenen Tag begann er sich zu entspannen.

Während sie aßen, erklang über Lautsprecher die Stimme eines Mannes. Zunächst dachte León, es handele sich um eine Ansage des Direktors, dann entdeckte er jedoch das Abbild des Sprechers an der Höhlenwand, die offenbar als Projektionsfläche genutzt wurde.

In Schwarz-Weiß sprach da ein Mann mit leidenschaftlicher Stimme vom Dienst an der Gesellschaft und dem friedlichen Miteinander. Das Bild war mindestens fünfzig Meter hoch und das hagere Gesicht des Mannes blickte streng auf die Gefangenen herab, aber León erkannte sofort, dass es nur eine Aufzeichnung war, die da abgespielt wurde.

Sein Name war eingeblendet.

Richard Westman.

Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

León zuckte zusammen. Das sollte der Präsident sein? Der Führer seines Landes? Er kannte den Mann nicht, und das stürzte ihn in tiefe Verwirrung. Wie konnte es sein, dass er sich nicht an ihn erinnerte? Die Sorge, dass er länger krank gewesen oder ernsthaft verletzt worden war, machte sich in ihm breit. Irgendetwas stimmte mit seinem Kopf nicht.

»Was ist mit dir?«, fragte Tian.

»Ich … ich weiß nicht.« Er deutete auf das Bild. »Kennst du den Typen?«

Tian schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht von hier.«

»Und du?«

Mischa verzog den Mund. »Ich glaube, ich habe ihn schon mal gesehen, aber beschwören kann ich es nicht. Seit dem Tod meines Vaters ist alles durcheinander.« Er sah León intensiv an. »Versteh das, was ich jetzt sage, bitte nicht falsch, aber ich habe schon mehrfach von dir geträumt.«

León riss die Augen auf. »Was? Wir kannten uns bis heute doch gar nicht.«

»Eben. Das ist ja das Seltsame. Trotzdem bist du mir im Traum erschienen.«

»Erzähl mal.« Tian ließ seinen Löffel sinken.

»Wir waren an einem merkwürdigen Ort. In einer Art Steppe. Gras, so weit das Auge reichte. Hüfthoch, wie ein grüner Ozean. Wir waren nicht allein dort, aber ich konnte die Gesichter der anderen nicht erkennen. Sie waren irgendwie verschwommen, genau wie die Gestalten, die uns hetzten und jagten. Ihre furchtbaren Schreie, ihr Heulen verfolgte uns und dann war da überall Feuer. Es raste durch die Steppe. Eine Feuersbrunst. Wir flohen davor. Dann bin ich aufgewacht.«

»Was habe ich gemacht? Habe ich mit dir gesprochen?«, fragte León.

»Mit uns allen. ›Lauft! Lauft um euer Leben.‹«

»Und du bist sicher, dass ich es war?«

»So wie du aussiehst, bist du nur schwer zu verwechseln.«

»Echt crazy«, meinte Tian. »Dass du von ihm träumst, obwohl du ihn noch gar nicht kanntest.«

Danach sprach keiner von ihnen mehr. Stumm schaufelten sie ihr Essen und León fragte sich erneut, was das alles zu bedeuten hatte.

Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht

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