Читать книгу Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht - Rainer Wekwerth - Страница 5

Оглавление

1.

Das grelle Licht schmerzte in Leóns Augen, als sie seinen Kopf von dem schwarzen Sack befreiten. Er kniff die Lider zusammen und versuchte, die Umgebung zu erkennen. Es roch nach nassem Asphalt und verfaulendem Gras. Wo immer sie ihn auch hingebracht hatten, es war kein schöner Ort.

Ein düsteres Betongebäude mit hohem Eingangstor erstreckte sich vor ihm. Wenigstens ein Dutzend bewaffnete Männer in schwarzen Uniformen patrouillierte auf hohen Mauern. Regen peitschte León ins Gesicht, lief ihm an der Stirn und den Wangen hinab. Er fröstelte.

Wo bin ich? Was mache ich hier?

Sein Blick fiel auf die beiden Cops, die ihn flankierten. Sie trugen Regenponchos und schauten finster. Der eine schien ein Latino zu sein, klein, schlank, mit dem lauernden Blick einer Ratte. Der andere war groß und schwer, eine wulstige Narbe verunstaltete seine Stirn.

Etwas klirrte, als León sich umdrehte. Er starrte seine Hände an. Handschellen lagen darum, die über eine Kette mit Fußfesseln verbunden waren. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er einen grauen Overall anhatte.

Was ist geschehen?

León versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, aber es war ein einziges Durcheinander. Krampfhaft wühlte er in seiner Erinnerung und versuchte herauszufinden, warum er sich gefesselt wie ein wildes Tier in einer ihm vollkommen fremden Umgebung befand.

Er war hier irgendwo auf dem flachen Land. In der Ferne konnte er eine Hügelkette erkennen, deren Umrisse vom Regen verwischt wurden. Bäume streckten ihre grünen Finger zum Himmel empor, über den zerfledderte graue Wolken trieben.

Da war keine Stadt.

Plötzlich erinnerte sich León wieder, dass er in einer Stadt lebte, und als die Erkenntnis kam, wusste er auch ihren Namen.

Los Angeles.

Das hier war jedoch nicht die Stadt der Engel. Wo immer er sich gerade befand: Es war Niemandsland. Keine Häuser, außer dem Komplex vor ihm. Kein Autohupen. Keine Sirenen. Keine spanischen Wortfetzen aus irgendwelchen Wohnungen, in denen Menschen lebten und sich stritten. Und keine Latinomusik.

»Wo bin ich hier und warum?«, fragte er den Typen rechts neben ihm.

Der Cop lachte meckernd, dabei entblößte er kleine Zähne, die von gelben Flecken bedeckt waren. Atem, der nach kaltem Rauch roch, strich über Leóns Gesicht.

»Weißt du das nicht mehr, Muchacho? Haben die drogas dein Gehirn zerfressen?«

»Sag es mir einfach.«

»Fünfundzwanzig Jahre. Du hast fünfundzwanzig Jahre bekommen.«

»Wofür?«

»Raubüberfall. Versuchter Mord. Und der Drogenscheiß.«

»Wann soll das gewesen sein? Und wann war die Verhandlung?«

»Kannst du dich nicht erinnern? Was ist los mit dir?«

Der Typ klopfte mit den Fingerknöcheln gegen seine Stirn. León zuckte zurück.

Ein unwirkliches Gefühl machte sich in ihm breit. Was der Cop da sagte, konnte nicht stimmen. Und doch spürte er, dass der Mann nicht log. Was war hier los?

»Alles weg? Hä? Aber mach dir keinen Kopf. Wo du jetzt hingehst, spielt das alles keine Rolle mehr.«

»Wohin bringt ihr mich?«

»Hell’s Kitchen. Alter, von dort kommt niemand zurück.« Rattengesicht grinste.

»Hell’s Kitchen? Was soll das bedeuten? Wo ist meine Familie?« Leóns Hände begannen zu zittern.

»Halt’s Maul!«, mischte sich der Dicke ein und stieß León grob in den Rücken. »Vorwärts.« Zu seinem Kollegen gewandt meinte er: »Rede nicht mit ihm. Das ist ein toter Mann. Sprich nicht mit den Toten.«

León wurde schwindlig. Die Umgebung begann sich zu drehen. Ein merkwürdiges Schwächegefühl erfasste seine Glieder und ließ ihn zittern. Er taumelte, aber Rattengesicht packte ihn am Arm.

»Was ist los, Hermano?«

Und dann kam die Erinnerung.

Die Knarre in meiner Hand. Um mich herum tiefste Nacht, aber keine Stille und es gibt auch keine Dunkelheit. Im fahlen Licht einer Straßenlaterne überprüfen wir unsere Waffen. Wir müssen vorbereitet sein. Nichts darf schiefgehen.

Nesto erklärt den Plan. Wir sollen ein paar feindliche Drogendealer ausschalten. Sie haben ihr Hauptquartier im Erdgeschoss eines leer stehenden Hauses eingerichtet. Das Gebäude steht abseits der Straße, ein Maschendrahtzaun zieht sich um das Anwesen und sie haben Hunde, die frei herumlaufen. Dobermänner, die alles zerfetzen, was sich zu nahe an das Haus wagt.

Aber das kümmert uns nicht. Wir werden mit dem Auto den Zaun durchbrechen, die Scheißköter einfach über den Haufen fahren, den Eingang rammen und auf alles ballern, was sich bewegt.

Diese verdammten Arschlöcher glauben, sie könnten einfach hierherkommen und uns das Revier streitig machen. Sie verticken ihr kolumbianisches Kokain zum Sonderpreis, um den Markt anzuheizen, aber damit ist jetzt Schluss. Heute noch. In dieser Nacht. Wir werden sie alle umlegen, uns das Koks greifen und den ganzen Laden in die Luft jagen.

Es ist weit mehr als eine Strafe. Es ist eine Warnung an alle anderen, die denken, wir wären zu schwach, um unser Gebiet zu verteidigen.

Wir sind zu viert. Nesto, Pedro, Loco der Verrückte und ich. Zwei von uns haben Maschinenpistolen, Loco und ich Pistolen. Niemand würde dem Verrückten eine automatische Waffe in die Hand drücken, die Gefahr wäre zu groß, dass er einen von uns oder sich selbst erschießt, wenn das Gefecht losgeht. Loco ist ein Wahnsinniger, der bei Anspannung durchdreht und keine Grenzen mehr kennt. Der nur noch brüllt und ballert. Aber es ist ein gutes Gefühl, ihn dabeizuhaben, denn seine Furchtlosigkeit wird uns vorantreiben.

Die anderen sind für mich hermanos, Brüder, die ich niemals hatte. Sie sind meine Familie, haben mich beschützt, nachdem mein Vater durch eine Kugel von der Straße gefegt worden war. Ich liebe sie alle.

Trotzdem wäre ich heute besser nicht dabei. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Irgendetwas stimmt nicht.

Keine Wachen? Nur Hunde?

Wahrscheinlich bunkern die da drin Koks im Wert von Millionen – und es soll so einfach sein, es ihnen abzunehmen?

Pedro war dort, hat die Lage ausgekundschaftet, mehrere Nächte hintereinander. Er sagt, die Typen fühlen sich sicher, weil das Haus nicht in unserem Gebiet liegt. So recht daran glauben kann ich nicht, aber ich widerspreche nicht, will nicht dastehen wie ein Feigling. Wir werden das Ding durchziehen.

Heute Nacht.

Was ist in dieser Nacht geschehen? Haben wir die Typen tatsächlich überfallen? Was ist schiefgegangen? Bin ich erwischt und verurteilt worden? Warum konnte er sich an nichts nach dieser Nacht erinnern?

Ein heiserer Schrei erregte Leóns Aufmerksamkeit. Er hob den Blick zum Himmel. Ein einsamer Raubvogel zog dort seine Kreise.

Plötzlich wurden die Konturen des Vogels undeutlich, verschwammen mit dem Grau des Himmels, dann war er verschwunden.

»Los jetzt!«, knurrte der Dicke. Er deutete auf das schwere, eiserne Tor, das unheilvoll vor León aufragte. »Wir müssen dich bis zehn Uhr abliefern oder es gibt Ärger. Also beweg deinen Arsch.«

Ungelenk stolperte León nach vorn. Die Fußfesseln ließen nur kleine Schritte zu und die Handschellen verhinderten, dass er mit den Armen sein Gewicht ausbalancierte. Es war eine Mischung aus Hoppeln und Schlurfen. Demütigend. León spürte Tränen in seine Augen steigen, aber er blinzelte sie weg. Niemand würde ihn weinen sehen.

Rattengesicht neben ihm kicherte, dann summte er ein Kinderlied. Irgendwas von Schatten in der Nacht, die kamen, um diejenigen zu holen, die nicht brav waren. Was für ein Arschloch.

Vor dem Tor blieben sie stehen. Eine quäkende Stimme meldete sich aus dem kleinen, eingelassenen Lautsprecher. Surrend richteten sich die Überwachungskameras auf sie.

Der Dicke wedelte mit einem Stück Papier herum.

»Officers Hanson und Rodrigues mit dem Gefangenen 12466 zur Übergabe in das California State Prison für jugendliche Straftäter.«

»So schön hat das schon lange niemand mehr gesagt.« Die Stimme drang aus der Box. »Das hier ist Hell’s Kitchen, das verdammte Ende der Welt. Was hat der Penner ausgefressen? Zeig mir mal den Überstellungsschein.«

Der Polizist hob die Hand und hielt das Formular noch näher an das Auge der Kamera. »So ziemlich alles. Das Übliche.«

»Okay, bringt ihn rein.«

Irgendetwas klackte, dann öffnete sich knarrend und quietschend das Metalltor. Dahinter erschienen fünf schwer bewaffnete Männer in voller Einsatzmontur mit Helmen und Sturmhauben über den Gesichtern. Automatische Waffen wurden auf León gerichtet. Ein Mann in Zivil stand plötzlich vor ihm.

»Ich bin John Hancock, Chief Director«, stellte er sich vor. Er streckte die Hand aus. »Her mit dem Wisch.«

Der Dicke gab ihm den Zettel.

»Die Scheiße kann man ja kaum entziffern. Okay, wir übernehmen ihn. Ihr könnt gehen.«

»Sie müssen den Empfang bestätigen.«

»Sicher.« Der Direktor zog einen Stift hervor und kritzelte etwas aufs Papier.

»Wie wäre es mit einem Kaffee?«, fragte Rattengesicht.

Hancock lächelte verächtlich. »Sieht das hier wie ein verdammter Starbucks aus? Zieht Leine, bevor wir euch mit ihm in die Tiefe schicken.«

In die Tiefe? Was meint er damit?

Die beiden Beamten, die León hergebracht hatten, wandten sich um und gingen wortlos.

»Bringt ihn nach unten!«

Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht

Подняться наверх