Читать книгу Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht - Rainer Wekwerth - Страница 6

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2.

Das Mädchen hatte feuerrote Haare und so grüne Augen wie eine Katze; und genauso geschmeidig bewegte sie sich. Mit langsamen Schritten kam sie näher.

Mary drehte den Kopf, so weit es die Haltegurte an Brust und Handgelenken zuließen, und schaute sie an. Das Mädchen war unglaublich schön, sehr sexy, aber in ihrem Blick lag etwas Irres. Ist ja auch kein Wunder, dachte sie. Immerhin befinden wir uns in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Sie lag in ihrem Bett und kämpfte gegen die Wirkung des Medikaments an, das ihr Dr. Mercan vor zehn Minuten verabreicht hatte.

»Ich bin Kathy.«

»Hi.«

»Wie heißt du?«

»Mary.«

»Du wirkst nicht gerade fit und wurdest auch noch fixiert. Was haben sie dir gegeben?«

Mary schluckte. »Ich … ich weiß nicht.«

»Deine Augen glänzen. Ich tippe auf Haldol, aber das finden wir gleich heraus.« Sie griff nach dem Klemmbrett, das am Bettende befestigt war. »Da steht es doch: Haloperidol. Ist das Gleiche. Zwanzig Milligramm.« Kathy pfiff durch die Zähne. »Ganz schön hoch dosiert. Was ist? Wolltest du dich umbringen? Hast du Wahnvorstellungen? Schizophrene Anfälle?«

»Ich … ich weiß nicht«, quetschte Mary mühsam heraus. Sie spürte, wie das Mittel zu wirken begann. Mit jeder Minute wurde sie müder und hatte zunehmend Mühe, sich zu konzentrieren.

»Du weißt es nicht?« Kathy riss die Augen auf. »Hast du keine Ahnung, warum du hier bist?«

»Nein.«

»Weißt du gar nichts?«

»Nein.«

»Also mich haben sie eingewiesen, weil ich mit dem Verlobten meiner Schwester gevögelt habe, der zufällig der Sohn des reichsten Mannes in Australien ist. Okay, das war vielleicht nicht in Ordnung, schon gar nicht so kurz vor der Hochzeit, aber der Typ hat mich ständig angemacht und eines Tages ist es dann passiert. So what? Das ist doch menschlich.«

Mary glotzte auf den schönen roten Mund, aus dem unablässig Worte strömten. Sie waren wie die Wellen des Meeres, die gegen den Rumpf des Schiffes schlugen.

Schiff?

Welches Schiff?

In ihrem umnebelten Hirn kristallisierte sich das Bild eines Frachters heraus. Nicht übermäßig groß, aber mit separatem Führerhaus und beladen mit Containern. Mary spürte, dass dieses Schiff etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, aber sie wusste nicht, was.

»Dann haben sie mich zum Psychiater geschleift. Die eigene Familie, das muss man sich mal vorstellen. Und der hat bei mir eine psychische Störung festgestellt. Hey Baby, ich bin genauso normal wie alle da draußen. Mehr als das. Ich bin eine erfolgreiche Surferin, die jede Menge nationale und internationale Wettbewerbe gewonnen hat, und jetzt kommen die mir mit so einem Scheiß. Die Wahrheit ist: Die wollten mich loswerden, damit ich nicht weiter das junge Glück störe. Wahrscheinlich lassen sie mich hier erst wieder raus, wenn der Prinz und die Prinzessin die ersten Enkel bekommen haben. Aber nicht mit mir. Nicht mit Kathy.« Sie beugte sich nach vorn und strich sanft über Marys Wange. »Mach dir keine Sorgen, kleine Mary. Ich hole uns hier raus.«

Sie fasste in die Tasche ihrer Jogginghose und zog ein billiges Einwegfeuerzeug hervor. Kathy drehte am Rädchen und eine Flamme erschien.

»Habe ich Mike geklaut. Kennst du Mike?«

Mary schüttelte langsam den Kopf.

»So ein großer Kerl, gut gebaut. Überall. Er geht gern mit mir in den Medikamentenraum. Sehr gern geht er mit mir da hin. Seine Frau ist schwanger und hat derzeit keinen Bock auf ihn. Was soll er da machen? Auch Männer haben Bedürfnisse und ich … Na gut, lassen wir das. Du weißt, was ich meine. Jedenfalls habe ich jetzt dieses Feuerzeug und bald, sehr bald, wird in der Klinik ein Feuer ausbrechen. Dann werden die Alarmsirenen angehen, alle rennen durcheinander und in dem ganzen Gewusel verschwinden du und ich.«

»Du bist verrückt«, ächzte Mary.

»Ja, deswegen bin ich ja hier.« Kathy lächelte charmant. »Aber ich bin auch clever.« Das rothaarige Mädchen warf ihr eine Kusshand zu, dann drehte sie sich um und tänzelte ein Lied summend aus dem Raum.

Mary schloss die Augen.


Als León vor dem Lastenaufzug stand, befanden sich bereits zwei andere Jugendliche mit drei weiteren Wächtern darin. An der hinteren Wand stand ein asiatischer Junge. Eine Strähne seiner dunklen Haare war leuchtend blau gefärbt. Er war schlank und mittelgroß, in seinen weit aufgerissenen Augen spiegelte sich nackte Angst.

Der andere lehnte lässig an der Kabinenwand des alten Fahrstuhls, der früher wohl zum Transport schwerer Maschinen benutzt worden war. Nun war das Metall verrostet und die Holzplanken auf dem Boden wirkten abgenutzt.

Dieser Junge hatte weizenblondes Haar, ein ebenmäßiges Gesicht und Augen so blau wie der Sommerhimmel.

Als León von den Wärtern hineingeschubst wurde, gab der Blonde seine entspannte Position auf und nahm eine lauernde Haltung ein. León konnte sehen, wie er die Lippen aufeinanderpresste und mit den Kiefern zu mahlen begann.

Was ist mit dem Typen los? Was glotzt er mich so an?

Noch bevor er dem Gedanken weiter nachgehen konnte, wurde das schwere Metallgitter des Aufzugs zugeschoben und der Fahrstuhl setzte sich rumpelnd in Bewegung.

Durch die Metallstangen konnte León dunkelgraues, grob behauenes Felsgestein sehen. Ein mulmiges Gefühl erfasste ihn, als er erkannte, dass sie in einer Art steinerner Röhre nach unten fuhren.

Eine Minute verging, dann wagte er zu fragen: »Wo bringen Sie mich hin?«

Einer der Wächter wandte den Kopf. Es war ein Mann mit gutmütigem Gesicht und einer großporigen Nase, die von regelmäßigem Alkoholgenuss zeugte. Blassblaue Augen richteten sich auf ihn. »Weißt du das nicht?«

»Nein, Sir.«

»Hell’s Kitchen liegt unter der Erde. In dreitausendachthundertvierzehn Metern Tiefe. Es ist das größte Jugendgefängnis der Welt …« Er räusperte sich. »Und das sicherste. Von da ist noch keiner abgehauen.«

Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Man brachte ihn für die nächsten fünfundzwanzig Jahre unter die Erde. So tief, dass darunter nur noch die Hölle kam? Aber vielleicht war das ja auch genau der Ort, an den man ihn verschleppte.

Was habe ich bloß gemacht, dass man mir das antut?

Verzweiflung übermannte León. Die Situation, in der er sich befand, war schlimm, aber viel schlimmer war der Umstand, dass er einfach nicht wusste, was geschehen war. Warum konnte er sich nicht erinnern? Hatte es einen Unfall gegeben, bei dem er sein Gedächtnis verloren hatte?

Nein, er spürte, dass alles mit ihm in Ordnung war. Zumindest körperlich, aber sein Kopf funktionierte nicht richtig. Merkwürdig war auch, dass er das, was er sah, benennen konnte. Den Fahrstuhl, den Overall, den er trug. Die weißen Turnschuhe an seinen Füßen. Die Ausrüstung der Wächter – nichts bereitete ihm Probleme, aber jedes Mal, wenn er versuchte, an seine Vergangenheit zu denken, stieß er gegen eine Mauer.

Und was war mit dem blonden Jungen los? Noch immer starrte ihn der Typ an, als sähe er einen Geist. León senkte den Kopf. Er konnte jetzt keinen Stress gebrauchen. Nicht schon am ersten Tag. Zunächst musste er irgendwie mit seiner Situation klarkommen, die neue Lage akzeptieren und sich zurechtfinden. Scheiße, die schlossen ihn so lange weg, dass er ein alter Mann sein würde, wenn er wieder an die Oberfläche kam.

Dieser Gedanke führte zu einem weiteren. Gab es jemanden, der ihn vermisste?

Bis jetzt konnte er sich nur an Loco und die anderen Spinner aus seiner Gang erinnern, aber da mussten doch auch andere Personen sein, die eine Rolle in seinem Leben spielten.

Verdammt, ich bekomme Kopfschmerzen von der Grübelei.

Noch immer ging es ruckelnd in die Tiefe. Ein Gefühl von Beengtheit, von Eingeschlossensein legte sich auf Leóns Brust, machte ihm das Atmen schwer.

Der asiatische Junge war auf den Boden gesackt, hatte sich zusammengekauert und umschlang seine Knie mit den Armen. Die Wächter ließen ihn gewähren. León betrachtete ihn heimlich.

Der Typ sah harmlos aus. Was hatte er getan, das ihn hierhergebracht hatte? Und was war mit dem Blonden? Er hatte einen Fünfzig-Dollar-Haarschnitt, gepflegte Fingernägel und das Gesicht eines Models. Wie kam der in den Knast?

Die ganze Sache wurde immer rätselhafter, aber obwohl ihm unzählige Fragen auf den Lippen brannten, schwieg León. Stattdessen starrte er auf seine nackten Arme, die von blauschwarzen Tätowierungen bedeckt waren. Über ihren Sinn musste er nicht nachdenken. Gangzeichen, die seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe signalisieren sollten.

Hijos. Söhne.

»Ich bin Mischa«, sagte der Blonde. »Das ist Tian.« Er nickte zu dem Jungen auf dem Boden. »Wie heißt du?«

»León.«

»Was …«

»Ruhe jetzt! Kein Gequatsche. Dafür habt ihr noch genug Zeit. Wir sind da!«, ging der Wachmann dazwischen.

Das Labyrinth (4). Das Labyrinth vergisst nicht

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