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DVD-TIPP
ОглавлениеDER KLANG DES HERZENS
Deutscher Titel: Der Klang des Herzens
Originaltitel: August Rush
Erscheinungsjahr: 2007
Regie: Kirsten Sheridan
Verleih: Tobis Filmverleih
Jetzt ändert sich das Bild, es ist Nacht. Der Junge liegt in seinem Bett im Schlafsaal. Vier oder fünf andere haben sich vor seinem Bett aufgebaut. Sie hänseln ihn, sie drohen ihm: „Du bist ein Freak. Du hast keine Familie, du kannst nichts hören. Sag es!“ Der Junge entgegnet: „Ich kann sie hören.“ „Nein! Gib es zu, du kannst sie nicht hören!“ „Doch, ich kann sie hören.“ Und er bleibt so lange standhaft, bis sich die anderen verziehen und ihn wieder in Ruhe lassen.
Diese Szenen leiten den Film „Der Klang des Herzens“ ein. Es ist die Geschichte des Waisenjungen Evan, der sich später August Rush nennt. Gleich zu Beginn wird deutlich, was ihn ausfüllt: die Sehnsucht nach seinen Eltern, nach einer Familie. Nach einer Heimat, innerlich und äußerlich, nach Heilwerden. Seine große Liebe zur Musik und seine starke Reaktion auf die Hänseleien der anderen Waisenjungen drücken diese Sehnsucht aus. Seine Frage an das Leben ist: Schaffe ich es, meine innere Musik nach außen zu tragen und dafür zu sorgen, dass meine Eltern mich erkennen, obwohl sie mich noch nicht kennen?
Evan birgt zu Beginn des Films eine Emotion in sich, die sicherlich viele Menschen kennen: das Gefühl, dass etwas fehlt. Die innere Sehnsucht nach etwas anderem als dem, was man täglich vorfindet. Es ist ein dunkles Gefühl von Unglücklichsein; die Gewissheit, dass es noch mehr geben muss; die Sehnsucht nach einem Ganzwerden; die Überzeugung, dass erst etwas in Ordnung kommen muss, dass man etwas ganz Bestimmtes tun muss, bevor man wirklich glücklich sein kann.
Dieser Schmerz, diese Sehnsucht ist vielleicht gar nicht so groß. Deshalb sind sich viele ihrer auch nicht bewusst. Nur manchmal blitzt sie auf, diese Sehnsucht. Immer dann, wenn jemand seinen gewohnten Raum verlässt, so wie Evan – wenn er den offenen blauen Himmel über sich hat, wenn sich das Korn im Wind biegt und sein ganz besonderes Lied singt. Dann geht es Evan wie vielen von uns: Er spürt seine Kleinheit im Vergleich zur großen Welt und kommt dadurch dem Mangel oder dem Minderwertigkeitsgefühl, das sein Leben auch prägt, auf die Spur.
Der Amerikaner Christopher Vogler war jahrzehntelang Berater der großen Hollywood-Studios. In seinem Buch „Die Odyssee des Drehbuchschreibens“ sagt er: „In gewissem Sinn tragen wir alle die Wunde der Trennung von Gott, vom Ursprung der Existenz in uns. Wie Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Garten Eden sind wir auf immer fern von unserem Lebensquell isoliert und verwundet.“ Und genau diese innere Wunde ist es, die diese tiefe Sehnsucht nicht nur in Film-Helden, sondern auch in uns auslöst. Deshalb wissen wir oft gar nicht so genau, was uns fehlt. Jeder Mensch, ob jung oder alt, hat eine große Sehnsucht nach etwas Höherem. Das ist in uns angelegt.
Auch Josef, Jakobs Sohn, kannte diese Sehnsucht. Als junger Mann träumte er, dass sich die Garben seiner Brüder auf dem Feld vor seiner eigenen Garbe verneigten. Und er träumte, dass sich die Sonne, der Mond und die Sterne vor ihm verneigten. Er wusste mit diesen Träumen noch nicht viel anzufangen. Aber eines fühlte er ganz deutlich: dass sein Leben aus mehr bestand als nur Schafe zu hüten und eine Familie zu gründen (Genesis 37).
Ich erinnere mich noch genau an den Ursprung einer meiner Sehnsüchte. Ich entwickelte sie schon als kleiner Junge, als mein Bruder und ich noch zu Hause lebten, auf dem Land, in einem kleinen Ort bei Freiburg. Im Sommer, wenn wir zu Fuß und mit unseren Fahrrädern nach draußen konnten, ging es uns wunderbar. Wir führten ein Leben, in dem wir unsere Lust nach Abenteuern jederzeit stillen konnten. Im Winter war das anders. Da war unser Radius sehr klein und das Angebot an Unterhaltung eher gering. Einen Fernseher beispielsweise hatten wir nicht. Aber es gab ein Radio. Und ich erinnere mich, dass ich mich vor dieses alte Transistorradio setzte, bei dem man die Sender noch von Hand einstellen musste, und ganz begierig wartete, bis ein Hörspiel kam. Ich liebte Abenteuerhörspiele! Oft wurden bekannte Romane aufwendig inszeniert, mit vielen Sprechern. Die Helden dieser Geschichten nahmen mich mit in fremde Länder und ferne Galaxien, erzählten mir ihre Lebensgeschichten, ihre Biografien, ließen mich die Kämpfe, die sie zu bestehen hatten, hautnah miterleben. Ihre dunklen, geheimnisvollen Stimmen klingen mir bis heute im Ohr.
Diese Hörspiele waren eine Zufluchtsstätte für mich. Dorthin begab ich mich, um dem relativ überschaubaren Kinderalltag zwischen Schule, Hausaufgaben und Elternhaus zu entkommen. Und irgendwann war sie da, diese Sehnsucht. Die Sehnsucht, eines Tages mitzumachen – selbst beim Radio zu arbeiten und Hörspiele zu gestalten. Zu sehen und zu verstehen, wie so etwas entsteht. Wie nimmt man sie auf, wie werden die Geräusche gemacht, wie die Musik, wie geht das alles technisch? Diesem Geheimnis wollte ich auf die Spur kommen.
Bis diese Sehnsucht gestillt wurde, sollte es noch einige Jahre dauern – bis ich 24 Jahre alt und Volontär beim Rundfunk war: Eines Tages stand plötzlich einer der älteren Kollegen in meiner Tür und fragte mich, ob ich Lust hätte, bei einem Hörspiel mitzuwirken. Es sei ein Märchen aufzunehmen und es würden noch Sprecher für Tierfiguren benötigt. Und ob ich Lust hatte! Kurz danach fand ich mich in einem Aufnahmestudio wieder, ein Manuskript in der Hand. Alle Protagonisten des Hörspiels waren Tiere, und wir Sprecher sollten die Tierstimmen möglichst stark imitieren. Im ersten Moment überforderte mich das völlig. Autor und Regisseur erklärten mir dann jedoch, wie man das stimmtechnisch macht – und auch meine Kollegen um mich herum nahmen sich die Zeit, mir einige Grundlagen nahezubringen. Es war eine große Herausforderung für mich – aber auf einmal machte es „klick“. Ich fühlte mich wieder als Kind, das sich, vor dem Transistorradio sitzend, aus seiner Alltags- in eine Abenteuerwelt begibt. Es war für mich wie eine Mischung aus Kindergeburtstag und den nachmittäglichen Spielen mit meinem Bruder oder meinen Schulkameraden – in eine andere Rolle zu schlüpfen, machte mir riesigen Spaß.
In diesen Stunden im Aufnahmestudio fühlte ich mich nicht mehr sehnsuchtsvoll oder minderwertig, sondern geheilt, ganz und am absolut richtigen Platz in meinem Leben. Eine Sehnsucht war in Erfüllung gegangen.