Читать книгу Don't tell me to relax - Ralph De La Rosa - Страница 12

UNSERE EIGENEN GESCHICHTEN NEU SCHREIBEN

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»WAS VERGANGEN IST, IST VERGANGEN«, wurde uns beigebracht, aber aus wissenschaftlicher Perspektive stimmt das gar nicht. Die Vergangenheit ist genau hier in unserem Körper. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass unsere angesammelten Erfahrungen in unser Nervensystem, unsere Zellen, unsere Faszien gelangen. Das gilt insbesondere für unsere unbehandelten Verletzungen, unsere nicht verarbeiteten Traumata, die prägenden Szenen unseres Lebens (vor allem aus der Kindheit), die unserer Psyche mehr übermittelt haben, als Worte es je vermochten.

Unsere Gefühle sind von der Vergangenheit durchdrungen, unsere Einstellungen vom Gestern geprägt. Unser Verhalten ist meistens ein Amalgam aus Dingen, die uns von Erwachsenen vorgelebt wurden, als wir klein waren. Und so vieles davon ist im unterbewussten Bereich unseres Geistes und unseren »Gedächtnissystemen« gespeichert, die unsere Überzeugungen beeinflussen: welchen Wert wir unserem Leben beimessen, wie wir mit Problemen umgehen, wie Beziehungen ablaufen und Gesellschaften funktionieren. Aber unser Gehirn selbst weiß das nicht, ebenso wenig, wie unsere Augen sich so drehen können, dass sie sich selbst sehen. Die Vergangenheit ist nicht vorbei. Die Vergangenheit ist, wer und was wir jetzt sind.

Das ist eine vielversprechende Wahrheit. Denn wenn die Vergangenheit nicht vorbei ist, ist sie auch nicht in Stein gemeißelt. Wir können verändern, wie die Vergangenheit in unserem Körper fortbesteht. Wir können unsere emotionalen Muster verändern – neu verdrahten – und in tiefgreifenderen therapeutischen Prozessen sogar Erinnerungen neu schreiben. Wir können Teile von uns zurückholen, die verbannt und verleugnet worden sind. Wir können das, was in uns zersplittert und unharmonisch ist, wieder kitten und heilen. In diesem Buch werde ich argumentieren, dass eine solche Arbeit zu den größten, wichtigsten Geschenken gehört, die wir uns selbst, unserer Familie, unserer Gemeinschaft und der Welt machen können.

Eine Geschichte

Triggerwarnung: Kindesvernachlässigung, Fahren unter Alkoholeinfluss und Gewalt

SOMMER IN OKLAHOMA. Ein Moment in Raum und Zeit, als mein kindlicher Geist ganz in einfachen Freuden aufgehen konnte. An jenem Abend stieg um mich herum die Luft mit ihrem Duft frisch vom Fluss auf. Die Sonne war gerade ganz untergegangen. Glühwürmchenschwärme stellten ihre überirdische Magie ohne jegliche Scheu voll zur Schau. Das Geräusch des vorbeirauschenden Wassers begleitete die trägen Wellen, die meine kleinen, acht Jahre alten Füße – nackt im rotbraunen Ufersand des Red River – umspülten.

Ich wünschte, die Geschichte würde hier enden. Momente wie diese waren stets angstgeschwängert. Denn wenn ich in Oklahoma war, dann nur, weil ich meinen Vater besuchte. Was wiederum bedeutete, dass die Situation jederzeit ins Üble umschlagen konnte – und es wahrscheinlich auch tat. Mein Vater war der erste von zahlreichen Menschen in meinem Leben, die mich schikaniert haben, und der erste von vielen, der in mir Todesangst hervorrief.

Mein Vater war ein offen gewalttätiger, schamlos rassistischer Täter, der fünf Kinder und sieben (sieben!) Ehen verlassen hatte – und obendrein bei all dem ein evangelikaler Christ mit fanatischem missionarischen Eifer. Das Haus meiner Kindheit zitterte nach seinen überfallartig über uns hereinbrechenden Trinkphasen und seinen Versuchen, uns obdachlos und mittellos zurückzulassen, indem er plötzlich verschwand. Am Ende tauchte er dann wieder auf, jetzt drei Staaten entfernt lebend. Er lud mich zu einem Besuch ein, damit die Beziehung wieder »aufflammen« konnte. Und genau das bekam ich – Flammen. In dieser Nacht am Red River verbrannte ich mir die Hand an einem Lagerfeuer. War es eine Verbrennung ersten Grades? Zweiten Grades? Ich weiß es nicht, denn ich wurde nicht zum Arzt gebracht. In Panik lief ich zu meinem Vater, um ihm meine Hand zu zeigen, auf der sich deutlich Blasen bildeten, und wurde mit der Antwort abgespeist: »Was soll ich tun? Etwa pusten, damit es besser wird?« Seine Saufkumpanen lachten alle und wandten sich wieder dem Kartenspiel zu. Sein »Pusten-damit-es-besser-wird«-Kommentar lief auf die Aufforderung hinaus, ich solle mich in einer Angelegenheit entspannen, die ziemlich dringend war. Und als ich das nicht konnte, gab er mir zu verstehen – diesmal auf eine viel furchteinflößendere Art und Weise – ich würde wieder überreagieren.

Trotz der Erniedrigung versuchte ich beharrlich, ihn dazu zu bringen, mir zu helfen. Das Mindeste, was ich brauchte, war Eis und es war keins da. Mein Vater knickte ein. Wütend. Allerdings war mir nicht klar, was das bedeutete: dass er sternhagelvoll mit mir nach Hause fahren würde. Während er einen schmalen Waldweg entlangraste, voller Zorn auf mich, weil ich seinen Abend gestört hatte, schrammte sein Pickup einen Baum. Und dann einen weiteren Baum. Und dann noch einen. Geschlagene fünfzehn Minuten saß ich erstarrt im Auto, klammerte mich am Sitz fest, und alle Szenen, die ich je in Filmen, im Fernsehen und auf Lehrvideos in der Schule gesehen hatte, schossen mir durch den Kopf. Wir streiften einen weiteren Baum und der Rückspiegel direkt neben mir wurde sauber abgetrennt. Ich war sicher, dass wir sterben würden, und konnte in meiner Hilflosigkeit nicht das Geringste dagegen tun.

Nie werde ich vergessen, wie mein Vater am nächsten Morgen eine Dose Old-Milwaukee-Bier aufmachte, aus dem Fenster schaute und fragte: »Was zur Hölle ist mit meinem Truck passiert?« Was zur Hölle mit seinem Sohn passiert war – wen juckte das schon?

WENN ICH NACH ALL DEN JAHREN die Reaktion meines Vaters auf meine verbrannte Hand noch einmal Revue passieren lasse, erinnert mich das an die T-Shirts, die ein lächelndes Paar 2016 im Partnerlook trug. Auf den T-Shirts stand »Fuck Your Feelings« – »Scheiß auf deine Gefühle«. Die politische Botschaft dahinter war eine entschiedene Aussage über die in den 1990er-Jahren geborene mimosenhafte »Generation Snowflake«, eine Gegenreaktion also auf die Generation, deren Hände im Lagerfeuer sind und die herauszufinden versucht, was zu tun ist. Das Paradoxe daran ist, dass es keinen Moment gibt, in dem Menschen nichts fühlen – das gilt auch für die beiden mit den T-Shirts. »Fuck Your Feelings« ist eine Aussage voller Gefühle. Denn schließlich ist Verbitterung ein Gefühl. Kälte ist ein Gefühl. Dumpfheit ist ein Gefühl. Emotionale Abschottung ist ein Gefühl. Mit Gefühlen nichts zu tun haben wollen ist ein Gefühl. Das T-Shirt war kein Ableugnen der Bedeutung von Gefühlen, sondern es besagte: »Du solltest nur die Gefühle haben, die wir haben.« Auf dem T-Shirt ging es ausschließlich um Gefühle.

Das war die Einstellung meines Vaters mir gegenüber, als ich acht Jahre alt war, und so blieb es bis zu seinem Tod. Fuck Your Feelings. Gefühle spielen keine Rolle. Außer es sind meine eigenen.

Noch eine Geschichte

SPRUNG NACH VORN, ETWA ZEHN JAHRE: Welch eine Überraschung – ich bin ein drogensüchtiger Trinker, der in einer gestörten Beziehung nach der anderen sein Trauma immer wieder neu inszeniert. Allerdings möchte ich klarstellen, dass dies in keiner dieser Beziehungen in körperliche Gewalt ausgeartet ist, wie es normalerweise der Fall ist und für so viele eine echte Bedrohung darstellt.* Die Geschichte, die ich als Nächstes erzählen möchte, handelt von einer Nacht, die mir sehr viel darüber gezeigt hat, wie stark Empathie die menschliche Psyche zu beeinflussen und sogar zu verändern vermag. Es ist eine Geschichte darüber, wie ein anderer Mensch von außen ebenso zu mir in Beziehung trat, wie wir innerlich zu uns selbst in Beziehung treten können.

Es war mitten in einem sinnlosen Streit mit einer Partnerin. Ich kann dir nicht einmal mehr sagen, worüber wir uns überhaupt gestritten haben. Ich erinnere mich nur, dass ich mitten in unserem Austausch von Wutausbrüchen hörte, dass sie mir eine eindringliche Frage stellte: »Was haben sie mit dir gemacht

Das ließ mich, bildlich gesprochen, eine Vollbremsung hinlegen und sofort aufhören. Ohne dass es mir bewusst gewesen war, hatte ich mein ganzes Leben lang darauf gewartet, dass mir jemand diese Frage stellte und neugierig genug war, um erfahren zu wollen, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass mein Leben ständig einen Beigeschmack der Verzweiflung hatte.

Mein ganzer Körper sackte in sich zusammen. Ich begann zu weinen. Erinnerungen an Gewalt blitzten vor meinem inneren Auge auf. Das markerschütternde Schreien meines Vaters. Die Nacht, als mir eine Waffe an den Kopf gehalten wurde. Eine andere Nacht, als mir ein Messer in die Rippen gedrückt wurde. Die Nacht, als sie meinen besten Freund mit einem Rohr schlugen. Die Nacht, als mir ein anderer »Freund« ins Gesicht schrie: »Gib schon zu, dass du ‘ne Schwuchtel bist! Dann kann ich jetzt die Scheiße aus dir herausprügeln.«

Und doch war ich in jenem Moment dankbar. Dankbar, weil jemand erkannte, dass mir etwas angetan worden war. Jemand blickte hinter den Schleier meiner Stimmungsschwankungen und meiner automatischen Reaktionen auf die schrecklichen, uneingestandenen Erfahrungen, die ich verinnerlicht hatte. Darauf, wie meine Vergangenheit gegenwärtig war. Jemand wollte wissen, wie mein Leben zu solch einem leidvoll verworrenen Schlamassel geworden war. Was haben sie mit mir gemacht? Es war doch bestimmt nicht immer so. Seltsamerweise brauchte ich ihr zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal etwas von alldem zu erzählen. Weder sie noch ich sagte noch etwas. Dass ich gefragt worden war, genügte irgendwie schon.

Kurz vor dem Einschlafen sagte ich schließlich: »Danke.«

»Wofür?«

»Für deine Frage. Dafür, dass du gefragt hast, was sie mit mir gemacht haben.«

»Oh. Das habe ich gar nicht gesagt. Ich habe gefragt: ›Was hast du dir nur dabei gedacht?‹«

Ich hatte sie falsch verstanden. Ich stand auf, stieg in mein Auto und fuhr nach Hause. Betrunken – der Sohn meines Vaters, der die Familientradition fortführte.

*Aus dem Englischen übernommene Abkürzung für lesbisch, schwul (gay), bisexuell, transgender, intergeschlechtlich und asexuell; das »+«–Zeichen steht für weitere Geschlechtsidentitäten (Anm. d. Lekt.).

*Du solltest auch wissen, dass Angst vor Nähe und Bindungsstörungen eine enorme Motivation bei meiner noch andauernden traumafokussierten inneren Arbeit und in meinem Prozess sind. Dazu gehört auch, dass ich Situationen wie die, die ich gleich beschreibe, wiedergutmachen möchte.

Don't tell me to relax

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