Читать книгу Don't tell me to relax - Ralph De La Rosa - Страница 13
2.DIE WEISHEIT EINER ZORNVOLLEN GÖTTIN Lernen, unserer Wut zu vertrauen
ОглавлениеAm wichtigsten ist, wie gut du durchs Feuer gehst.«
Charles Bukowski
»IHRE HAUT IST RABENSCHWARZ, ihr Haar verfilzt, wild zerzaust. Ihre Zunge trieft vor Blut. Um ihren Hals hängt eine Girlande aus Schädeln, die sie als Trophäen mit sich trägt, um die Taille ein Rock aus abgetrennten Armen. Falls du ihr in die Quere kommst, ist dein Schicksal besiegelt. Am besten stellt man sich gut mit ihr. In einer Hand hält sie ein Schwert, in der anderen den abgeschlagenen Kopf desjenigen, den sie als Letztes bezwungen hat. Sie ist eine Zerstörerin, eine Marodeurin, eine Rebellin ersten Ranges. Sie ist das mächtigste Wesen aller Zeiten im Universum. Ihre Rage kennt keine Grenzen. Ihr durchdringender Schrei erfüllt die Nacht.
Und doch ist sie nicht böse. Sie ist keine Dämonin. In den vedischen Traditionen ist sie ein hohes, heiliges Wesen. Ihr Zorn, so heißt es in den Lehren, ist von Güte und Weisheit durchdrungen. Ihr Schwert steht für die schneidende, durchdringende Natur der allumfassenden Wahrheit. Die Köpfe, die sie abgeschlagen hat, symbolisieren Grausamkeit, Gier und die Neigung, andere zu einem Objekt herabwürdigen. Ihr einziger Feind ist die Entmenschlichung. Ihr Mitgefühl ist so groß, so grenzenlos, so weitreichend, dass sie sich bereitwillig in einer grotesken Form manifestiert, um das zum Ausdruck zu bringen, was so bestürzend ist. Sie ist Ma Kali, die »Mutter der Zeit«, wörtlich »Die Schwarze«. Und sie wird von vielen sehr verehrt.
Du fragst dich vielleicht, wieso Göttlichkeit auf diese Weise dargestellt wird. Oder warum überhaupt jemand eine solche Zweiteilung akzeptieren sollte. Wenn wir die grauenerregend herrliche Kali näher kennenlernen, werden wir sehen, warum.
Es gibt viele Legenden über Kalis Entstehung, aber ich möchte dir die Version erzählen, die ich am liebsten mag. Kali entstand in der Zeit einer nie dagewesenen umfassenden Krise. Ein Dämonengott namens Mahishasura hatte Wunderkräfte erlangt und wollte alle Wesen versklaven. Seine Kräfte überstiegen inzwischen die von Brahma, der den gesamten Kosmos mit einem einzigen Ausatmen erschaffen hatte; sie waren größer als die von Vishnu, dem Erhalter des Weltgefüges; größer als die von Lord Shiva, dessen kosmischer Tanz alle Wesen zu Transformation, Tod und Wiedergeburt aufruft. Mahishasura, berauscht von seinen neu entdeckten Kräften, versammelte eine Armee aus Dämonen, um die Trinität Brahma – Vishnu – Shiva zu entmachten, damit er sich aufmachen konnte, überall unter den Lebewesen Verheerungen anzurichten.
Brahma, Shiva und Vishnu versammelten die anderen Götter um sich: Yama, der Todesgott; Chandra, der Mondgott; Agni, der Gott des Feuers, und alle anderen kamen zusammen. Keiner von ihnen war mächtig genug, Mahishasura allein aufzuhalten … und sie waren wütend – wütend über die zu erwartende Zerstörung, wütend über das unermessliche Leid, das kommen würde. Ihr kollektiver Zorn wurde so groß, dass er sich spontan als Licht und Wärme manifestierte, die von der Stelle zwischen ihren Augenbrauen ausgingen. Aus ihrem jeweiligen dritten Auge, aus dem Licht und der Hitze ihres Zorns, bildete sich die mächtige, schreckliche Kali heraus. Ohne Zögern vernichtete sie Mahishasura und seine Armee und schmückte sich mit deren Überresten – ihren Schädeln und Gliedmaßen. Das geschah einerseits aus dem Geist des Sieges heraus, andererseits aber auch, um Angst in den Herzen aller anderen bösen Wesen hervorzurufen, die vielleicht versuchen würden, sie herauszufordern. Kali macht das Rennen! Der größte Sieg in der Geschichte des materiellen Universums.
Kalis Geschichte ist die eines mächtigen spirituellen Wesens, das gesellschaftspolitische Ungerechtigkeit besiegt. Denn was sonst sind Brahma, Vishnu und Shiva, die dem Universum vorstehen, wenn nicht eine Regierung? Und ein dämonischer Gott, der einen Staatsstreich plant, durch den das Leben und Wohlergehen unzähliger Wesen in Gefahr gerät – das ist eine von Grund auf gesellschaftspolitische Angelegenheit. Es gibt natürlich noch viele andere Zusammenhänge und Bedeutungen. Diese Geschichte enthält zwischen den Zeilen auch eine Lehre für diejenigen von uns, die in Selbstverurteilung versinken, weil unser Zorn »schlechte Schwingungen« hat oder im Buddhismus zu den »Drei Giften« gehört und damit grundsätzlich »falsch« ist. Denn weil Kalis Ziel so rein und gerecht war (ein wichtiger Punkt), konnte sie ihrer Wut einfach freien Lauf lassen. Mehr als unverfroren, schmückte sie sich sogar mit den Gliedmaßen der Erschlagenen, den Trophäen ihres heiligen Amoklaufs. Dies vermittelt uns eine weitere implizite Botschaft. Wenn wir das Gefühl haben, nach gängigen Maßstäben alles andere als schön zu sein, wenn wir das Gefühl haben, beim besten Willen nicht liebenswert zu sein, wenn wir das Gefühl haben, dass andere uns missverstehen, wenn wir mit alldem zu kämpfen haben – Kali symbolisiert auch all diese Dinge. Sie ist alles andere als eine heiße Braut, und doch ist sie die geballte Energie aller höchsten Himmelswesen. Sie ist der Inbegriff einer ungeschminkten Schönheit, die nicht vom kommerziellen Denken verdorben ist. Wir stellen uns Spiritualität, Mitgefühl und Wohlbefinden als eine ernsthafte, stille Angelegenheit vor. Kali erinnert uns daran, dass solche Interpretationen viel zu eindimensional sind. Sie erinnert uns daran, dass heiliges, altruistisches Handeln so gut wie jede Form annehmen kann. Richtig gehandhabt, ist das gesamte Spektrum der menschlichen Erfahrung ein geeigneter Nährboden für die Transformation.
SO WIE WIR MEHR WÖRTER FÜR LIEBE verwenden könnten, um die zahlreichen Formen der Liebe auszudrücken, so brauchen wir auch mehr Wörter für Zorn. Er hat so viele Ausprägungen und Abstufungen, und fast alle davon sind verwirrend. Aber ich kann es nicht genug betonen: Wut bzw. Zorn kommen fast nie ohne eine gewisse Logik aus, die dahintersteht. Wut ist fast nie zufällig. Ihr kommt eine eigene Intelligenz zu. Es gibt den Zorn, der uns sagt, dass eine Grenze gesetzt werden muss. Es gibt die Wut, die eine alte Wunde in uns schützt. Es gibt die Empörung, die wir empfinden, weil einem anderen Unrecht getan wurde. Es gibt den Groll, der uns tief in den Knochen steckt, weil wir wahrscheinlich nie eine Entschuldigung erhalten werden. Dann gibt es das schnelle, ganz plötzlich aufkommende Beleidigtsein, wenn wir uns in irgendeiner Weise missachtet fühlen.
Und doch haben alle Wutgefühle nur eine Quelle: Sie wurzeln im Mitgefühl. Wut ist immer eine Reaktion auf Verletzung, auf unser Grundbedürfnis nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Ihr eigentlicher Zweck ist es, Verletztsein in irgendeiner Weise anzugehen. Deshalb existiert Wut schon in dem Moment, wenn es einsetzt, und das macht sie durchaus sinnverwandt mit der Energie des Mitgefühls. Wut ist jedes Mal eine starke vitale Kraft, die hervorgebracht wird, um Unrecht in Ordnung zu bringen, Sicherheit wiederherzustellen und Unaussprechliches anzusprechen. Und sie ist heftig, sodass wir die Energie haben, durchzuhalten und im Idealfall relative Sicherheit und Respekt wiederherzustellen.
Wut und Mitgefühl gleichzusetzen mag absurd klingen, weil wir Wut oberflächlich nicht so empfinden. Es gibt viele Beispiele dafür, dass das Ausleben von Wut, sei es unsere eigene oder die anderer, uns und andere verletzt. Wut mag an der Wurzel etwas Gutes sein, nimmt jedoch sehr oft die Form von Aggression an – rachsüchtig, angespannt, jegliche Vernunft in den Hintergrund drängend. Es ist, als durchliefe die anfänglich mitfühlende Energie des Zorns tausend Filter kultureller, sozialer und familiärer Konditionierung, bevor sie in unserem Bewusstsein ankommt. Vielleicht merkst du sogar, dass die wütenderen Teile deiner selbst einem Menschen in deiner Familie ähneln – dass deine »innere Stimme«, wenn du wütend bist, wie dein Vater, deine Mutter, deine Schwester, dein Bruder oder eine andere Person klingt, die dir in deiner Kindheit und Jugend wichtig war. Solche emotionalen Muster werden oft in der Familie weitergegeben.
Wenn ein wütender Teil unserer selbst die Oberhand gewinnt, ist es, als würden wir zu einem anderen Menschen. Unsere Gedanken, unsere Worte ändern sich, und wir sind zu Dingen fähig, die wir normalerweise verwerflich finden. Im Zorn sind wir sogar imstande, jemandes Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Zugehörigkeit zu verraten und andere zu verletzen. Es ist die schlimmste Ironie des Lebens, dass etwas, das als starker Wunsch beginnt, gegen Schaden anzugehen, so oft damit endet, Schaden anzurichten – ein leidvoller Kreislauf, dessen Kern der Wunsch ist, Leid zu beenden. Wie das Sprichwort sagt: »Verletzte Menschen verletzen Menschen«. Wenn wir unseren Zorn als eine andere Person sehen, die in uns lebt, kann das der Schlüssel dazu sein, aus dem Dämmerzustand dieses Zorns herauszutreten. Diese gewandelte Wahrnehmung kann die Tür öffnen, sodass wir einmal durchatmen können – durchatmen, gefolgt von einem geistigen Schritt beiseite, weg von der Flut der Gefühle. Ich schlage das nicht vor, damit wir uns von dieser Flut befreien, sie in Ordnung bringen oder »spiritueller« machen können. Vielmehr geht es darum, uns daran zu erinnern, dass wir mehr sind als dieses Gefühl, dieses Feuer – wir sind auch der Geist, das Herz und der Körper, die die Wahl haben, was sie damit anfangen.
Wie wäre es, wenn wir dem zornigen Teil in uns helfen könnten, sich so zu äußern, dass er seiner inneren Wahrheit – seiner altruistischen, hilfreichen, wertvollen Natur – näherkommt? Wie wäre es, wenn wir mit unserem Ärger Kontakt aufnehmen und ihn fragen würden, ob er wirklich so sein will oder ob er das Gefühl hat, so sein zu müssen?
Ich frage mich, ob deine wütenden Anteile erschöpft sind. Ich frage mich, ob sie das Gefühl haben, in einem Kreislauf gefangen zu sein. Es muss so viel Arbeit sein, all dieses Adrenalin, diese Heftigkeit und dieses grimmige Denken hervorzubringen. Wenn wir es so sehen, dass ein wütender Teil von uns wie ein eigenständiges Wesen ist, dann ist es definitiv eines, das sich fortwährend schrecklich fühlt. Wut gehört schließlich zu den höllischsten Gefühlen, die wir empfinden können. Und doch ist es, dieser Logik folgend, ein Wesen, das bereit ist, an diesem höllischen Ort zu leben, um uns zu schützen und für das einzustehen, was nach unserer Überzeugung richtig ist. Wenn wir die Dinge so sehen, dämmert uns allmählich, dass Zorn eine Energie in uns ist, die unsere Wertschätzung verdient.
Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, uns vor unserem Zorn zu fürchten und ihn beiseitezuschieben, als hätte er keinen Wert; und es ist auch an der Zeit, uns nicht länger von unserem Zorn vergiften zu lassen. Wir können lernen, einen Schritt zurückzutreten, Abstand zu unseren inneren Kalis zu gewinnen und sie etwas mehr wertzuschätzen. Indem wir den zornigen Anteilen in uns Mitgefühl entgegenbringen, könnten diese Teile einfach frei werden und sich wieder ihrer ursprünglichen, mitfühlenden Natur annähern.