Читать книгу Primärdirektionen - Rüdiger Plantiko - Страница 6

0 Einleitung

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Von ersten Anfängen in der Zeitenwende bis in die Renaissance waren die Primärdirektionen eine der wichtigsten Prognosemethoden der Individualastrologie. Später gerieten sie durch eine Vielfalt von neuentdeckten Verfahren ins Hintertreffen, die die Faszination der Astrologen auf sich zogen: Seitdem wurde das astrologische Instrumentarium z.B. um die Sekundärdirektionen bereichert, in neuerer Zeit kamen dann symbolische Direktionen, Tertiärdirektionen und Sonnenbogendirektionen hinzu.1 Auch auf dem Feld der Primärdirektionen selbst betätigten sich die Reformer: REGIOMONTANUS führte in seinen tabulae directionum profectionumque (1467) eine den Alten gänzlich unbekannte Methode des Dirigierens ein. NAIBOD schaffte im 16. Jahrhundert den bis dahin ganz unumstrittenen Gradschlüssel der Primärdirektionen ab und ersetzte ihn durch seinen eigenen Schlüssel. Womit ich, stellvertretend für viele, nur zwei Neuerer genannt habe.

Seitdem haftet der Theorie der Primärdirektionen der Geruch einer esoterischen Spezialdisziplin an, die man in der Praxis getrost vergessen könne. Zum Teil gründet dieser Ruf darin, daß die exakte Berechnung der Primärdirektionen im Zeitalter der Logarithmentafeln eine sehr zeitraubende Angelegenheit war. Ein heutiger Computer berechnet dagegen in Sekundenschnelle alle im Leben eintreffenden Direktionen – wenn man möchte, noch mit verschiedenen Methoden und Schlüsseln, zu Vergleichszwecken.2 Auch die Möglichkeit von Rechenfehlern ist praktisch ausgeschlossen: Wenn der Computer fehlerhafte Ergebnisse liefert, so liegt es an falsch eingegebenen Daten. Das Problem besteht inzwischen längst nicht mehr darin, Direktionen zu berechnen, sondern darin, in der Fülle des Berechneten das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.

Daß Primärdirektionen viel Rechenzeit benötigen, ist daher in unserer Zeit nicht mehr wahr. Überhaupt ist die lange Rechenzeit ein schlechtes Argument gegen die Richtigkeit eines Systems: Ist es doch den Direktionen egal, wieviel Zeit wir zu ihrer Errechnung benötigen!

Schwerwiegender ist schon der Einwand, die Astrologie habe sich schließlich wie jede Disziplin fortentwickelt und allerhand früheren Ballast fortgeworfen, weshalb man sich an den neuesten statt an den ältesten Methoden orientieren sollte.

Aber bei der Astrologie ist das Verhältnis zur Tradition anders als etwa in einer Naturwissenschaft: Während Naturwissenschaftler bei jeder neuen Entwicklung die überholten Theorien in die Wissenschaftsgeschichte auslagern müssen, schätzen die Astrologen das aus dem Altertum überlieferte astrologische Wissen hoch und denken nicht im Traum daran, es könnte einmal durch neue Forschungen ’widerlegt’ werden. Wenn sie überlieferte Regeln bewahren und z.B. dem Zeichen Skorpion wirklich Eigenschaften des gleichnamigen Tiers beimessen, oder den Planeten Mars wie den Kriegsgott mit dem Thema Gewalt in Verbindung bringen, so geschieht dies, weil sie den Alten eine intuitive Erkenntnisart zugestehen, die im Laufe der letzten Jahrtausende den Menschen fast völlig abhanden gekommen ist. Dies ist die einzige Rechtfertigung des astrologischen Konservatismus.

Respekt vor der Tradition bedeutet jedoch keine blinde Übernahme des Überlieferten. Wir haben uns inzwischen neue Qualitäten erworben; an die Stelle eines bildhaften ist ein taghelles, kritisches Bewußtsein getreten, das den Abstraktionsschritt vom konkreten Bild zu dem darin ausgedrückten Wesentlichen mühelos vollziehen kann. Das sollte uns in die Lage versetzen, auch im überlieferten astrologischen Wissen die Spreu vom Weizen zu trennen und von den wahrsagerisch-konkreten astrologischen Bildern der Tradition zu den die Zeiten überdauernden Wahrheiten vorzudringen.

Es zeigt sich, daß die überlieferte Lehre der Primärdirektionen mehr Solides enthält als nur den Torso der Achsendirektionen, der in der heutigen astrologischen Praxis überlebt hat. Die Entdecker der Primärdirektionen besaßen ohne Zweifel eine tiefe Einfühlung in die Himmelsvorgänge und scheinen durch ihr analogisches Denken eine Methode von Bestand ermittelt zu haben. Ich glaube, daß es an der Zeit ist, diese Methode der Primärdirektionen aus dem Dunkel des Vergessens wieder ans Licht zu holen und mit unserem modernen Bewußtsein aufzuarbeiten. In der gegenwärtigen Situation ist die Besinnung auf die astrologische Tradition sinnvoller als das ständige Ausdenken neuer Methoden, das in unserer Zeit meist nur noch ein Erfinden, kein Entdecken mehr ist.

Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag in dieser Richtung, indem die Direktionslehre nicht nur theoretisch dargelegt wird, sondern auch an einem umfassenden Beispiel zur Anwendung kommt. Der Unterschied zu den ausgezeichneten Werken von KÜHR ([KK]) und KÜNDIG ([KP]) liegt vor allem darin, daß die Darstellung nicht durch die Fixierung auf ein ’alleinseligmachendes’ System vereinseitigt wird – beim gegenwärtigen Stand der Forschung wäre das unehrlich. Von der sehr guten Arbeit von W. KNAPPICH ([WK1]) hoffe ich mich dadurch zu unterscheiden, daß ich die Direktionen als Teil der gegenwärtigen astrologischen Forschung ansehe – und nicht als ein bloß noch historisches Phänomen. Auch wird dem Formelteil (Kapitel 4) konsequent der Begriff der mundanen Position als der zentrale Punkt aller Direktionssysteme zugrundegelegt. Dadurch gewinnt die mathematische Formulierung des Problems an Struktur und hoffentlich an Verständlichkeit.

Alle mir bekannten primären Direktionsverfahren stelle ich gleichberechtigt dar, damit sich der Leser selbst ein Bild machen kann. Das heißt nicht, daß ich selbst keine Präferenz für ein bestimmtes System hätte. Ich habe seit etwa zehn Jahren mit verschiedenen Methoden experimentiert und bin schließlich zu folgendem Verfahren gelangt, das mir oft gute Annäherungen zu bieten scheint:

Direktionsmethode des Verfassers:

Halbbogenmethode, ohne Berücksichtigung von Signifikator- und Promissorbreiten, Ptolemäusschlüssel (1 Grad = 1 Jahr).

Ich will an dieser Stelle nicht in den bei anderen Autoren üblichen Dogmatismus verfallen (” An Tausenden Fällen erprobt… Auf die Bogenminute exakt… Einzig richtiges Verfahren…”). Ich möchte allerdings zu denken geben, daß diese Art des Dirigierens immerhin bis ins 15. Jahrhundert allgemein üblich und konkurrenzlos war.

Im 3. Kapitel, in dem ich zur praktischen Illustration das Horoskop und die Direktionen Friedrich Nietzsches bespreche, mußte ich ’Farbe bekennen’ und habe die Direktionen nach dem von mir favorisierten Verfahren berechnet. Dem Kapitel wurden aber einige Rechenaufgaben angefügt, mit denen der Leser sich die verschiedenen Verfahren erüben kann.

Für die Anregung, diese Arbeit zu schreiben, bin ich vor allem ERICH THAA zu Dank verpflichtet; er trug zu ihrem Entstehen auch durch zahlreiche Korrekturen bei. REINHARDT STIEHLE vom Chiron Verlag danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit. HEINRICH BESSLER, mit dem mich eine lange Freundschaft verbindet, danke ich herzlich für seine beständige Ermunterung zur astrologischen Forschung. Vor allem über das Weltbild, das der Astrologie zugrundeliegt, habe ich viel von ihm gelernt.

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