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KAPITEL 5

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Meriel hatte schreckliche Angst. Im Schiff ging die Seuche um. Seit vier Wochen waren sie nun unterwegs und fuhren angeblich zurzeit an der afrikanischen Küste entlang.

Die See war rau, und in dem Zwischendeck, in dem die Gefangenen untergebracht waren, rollte und stürzte alles umher, was nicht festgemacht war.

Der Latrineneimer war an diesem Morgen schon zweimal umgekippt. Meriel stand mit Beth ganz nah an der verschlossenen Tür, die aus Brettern zusammengefügt war. Zwischen den einzelnen Ritzen wehte frische, salzige Meeresluft herein.

„Wir werden hier drin noch alle umkommen“, sagte Beth und war den Tränen nah. Drei Frauen litten mittlerweile an einer Art der Grippe. Eine war schon seit dem Vortag nicht mehr ansprechbar. Ihre Haut glühte vom Fieber, und sie fantasierte, manchmal sogar mit offenen Augen.

„Wir müssen dafür sorgen, dass wir hier irgendwie rauskommen“, flüsterte Meriel.

„Ich würde sogar mit einem der Burschen schlafen, wenn ich dafür nicht krepieren muss“, gab Beth genauso leise zurück.

Meriel errötete. „Wie kannst du so etwas sagen!“

„Sie werden uns doch eh irgendeinem Mann geben, Meriel. Ich denke nicht, dass sie warten, bis wir uns verlieben. Die Matrosen sind wenigstens fast alle jung, und ein paar nette sind auch dabei.“ Beth klang wirklich verbittert. Als habe sie die Hoffnung auf ein zufriedenes Leben beinahe schon aufgegeben.

„Hauptsache, wir halten zusammen“, sagte Meriel.

Eine große Welle hob das Schiff und ließ sie gegeneinander fallen, worauf sie sich aneinander festhielten. Ihr erschien es wie ein Wink des Schicksals.

Dann wurden Schritte laut, und jemand machte sich an der Verriegelung der Tür zu schaffen. Beth wollte zurückweichen, doch Meriel hielt sie fest. Eine Ahnung sagte ihr, dass es besser war zu bleiben. In den Monaten im Gefängnis hatten sie auf schmerzhafte Weise gelernt, dass es nicht klug war, nahe an der Tür zu sein, wenn die Zelle geöffnet wurde. Doch nun waren sie nicht mehr in der Obhut von Wärtern, denen es Freude bereitete, auf ihre wehrlosen Opfer mit Knüppeln einzuschlagen. Keiner der Matrosen war bislang handgreiflich geworden, und Knüppel trugen sie nicht.

Die Männer waren zu dritt. Ein Maat, der Mohr und der junge Mann, dessen Augen Meriel an Trevor denken ließen.

„Kann eine von euch anständig nähen?“, fragte der Maat geradeheraus.

„Ich!“, sagte Meriel sofort, bevor die anderen Frauen genau mitbekamen, worum es ging.

„Dann komm“, sagte der Maat, musterte sie abschätzend von Kopf bis Fuß und fasste sie am Arm.

Meriel stemmte sich gegen ihn. „Meine Freundin kommt mit.“

Der Mann schnaubte abfällig. „Wir brauchen nur eine.“

Meriel streckte ihre Hand nach Beth aus und zog sie mit sich. „Es gibt sicher viel zu tun.“

Die überrumpelten Männer ließen sie vorbei. Im nächsten Moment stürzten drei andere Frauen zur Tür. „Halt, halt, ich will auch raus. Lasst uns raus!“, kreischten sie.

Meriel und Beth drückten sich an die Wand, während der Mohr und der junge Matrose die Tür schlossen und den schweren Riegel wieder in die Halterung schoben. Aus dem Inneren klang nun Weinen und dann Flüche. Fäuste hämmerten gegen das Holz.

Beth zuckte unter den Schlägen, als würde sie von ihnen getroffen. „Schh“, sagte Meriel leise und nahm ihre Freundin in den Arm.

„Los, hier entlang“, sagte der Maat und ging voraus, während die beiden anderen Männer ihnen wie Schatten folgten. Als sie nicht an Deck gingen, sondern durch lange Gänge immer tiefer in den Schiffsbauch vordrangen, wuchs in Meriel die Furcht. Was, wenn es ein Fehler gewesen war, sich so schnell für die Aufgabe zu melden? Vielleicht sollten sie gar nicht nähen, sondern den Männern zu Willen sein?

In dem Gang war es so dunkel, dass sie an Beths Miene nicht ablesen konnte, was die Freundin dachte.

Sie sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel und hoffte dann, dass sie es mit guten Männern zu tun bekamen.

Der Maat stieß eine Tür auf. In dem winzigen Raum roch es nach Schweiß und ungewaschenen Leibern. Der junge Matrose brachte eine Lampe aus dem Gang und hob sie über den Kopf. Der Lichtschein zeigte einen Berg dreckiger Kleidung.

„Da in dem Kästchen ist Nähzeug, seht zu, was sich davon noch retten lässt.“

„Dafür brauchen wir Licht“, sagte Beth schnell. „An Deck.“

„James, bring die Ladys nach oben“, kommandierte der Maat.

Der Mohr grinste. Seine Zähne waren so weiß, dass sie im Halbdunkel regelrecht strahlten.

Er drückte sich an Meriel vorbei, stopfte die Wäsche in einen groben Hanfsack, schulterte ihn und nahm dann auch das Kästchen. „Kommt mit.“

Der Maat blieb zurück, und langsam schwand Meriels Furcht. Die Männer hatten die Wäsche nicht nur als Vorwand genutzt, um sie in eine abgelegene Kabine zu bringen.

Sie stiegen schmale Stufen hinauf und erreichten schließlich das Deck. Die Sonne schien auch an diesem Tag warm und hell und wurde nur von wenigen Schleierwolken bedeckt. Alle Segel an den drei Hauptmasten blähten sich knarrend im Wind. Die Matrosen hatten auch eine Vielzahl von kleineren dreieckigen Segeln herabgelassen, deren Bezeichnung Meriel nicht kannte. Ein Gewirr von Seilen und Winden hielt sie an Ort und Stelle.

Erst hier im Freien sah sie, wie schräg das Schiff im Wind lag. Das Meer war dunkelblau und endlos. Mächtige Wogen hoben das Schiff empor. Ob sie bei diesem Seegang eine ordentliche Naht setzen könnte, war zweifelhaft, doch sie würde es versuchen. Sie würde alles tun, um länger hier oben bleiben zu können.

„Hier auf der Leeseite könnt ihr sitzen, da drüben bläst es euch weg“, sagte der Mann mit der dunklen Haut und wies auf einen Winkel zwischen mehreren straff vertäuten Kisten. Dort lagen leere Leinensäcke, das Gewebe ausgeblichen und spröde. Der Mann legte das Kleiderbündel dort ab.

„Was sollen wir damit machen?“, fragte Meriel und wünschte, Beth würde den Dunkelhäutigen weniger auffällig anstarren.

„Seht durch, was noch zu brauchen ist, und dann flickt es, so gut es geht, zusammen. Wir haben seit dem Aufbruch mit Ausbesserungen unter Deck zu tun, und die Männer kommen nicht mehr dazu, sich um ihr Zeug zu kümmern.“

„Das machen wir … gerne“, sagte Meriel sofort. Jetzt hatte sie auch eine Erklärung für das stete Hämmern und Sägen, das am Tag aus dem Schiffsbauch drang und sich über die Planken bis zu ihnen fortsetzte.

Beth schien gar nicht zugehört zu haben, denn jetzt galt ihre Aufmerksamkeit ganz den Händen des Mannes, die außen dunkel und innen hell waren.

„Beth“, mahnte Meriel. Diese schien erst aus ihrer Faszination zu erwachen, als sie von der Freundin an der Schulter gefasst wurde. Doch statt sich endlich um die Kleidung zu kümmern und ihre kleine Freiheit nicht weiter zu riskieren, sah sie dem fremdländischen Matrosen ins Gesicht. „Wo kommen Sie her?“, fragte sie rundheraus.

„Beth!“ Das ist doch unglaublich, dachte Meriel. Man kann doch einem Wildfremden keine Löcher in den Bauch fragen.

Der Mann ließ wieder sein strahlendes Lächeln sehen. „Aus New Orleans, Lady.“

„New Orleans? Wo in Afrika ist das?“

Meriel hatte das Kästchen geöffnet und versuchte, sich einen Überblick vom vorhandenen Nähzeug zu verschaffen, doch als James in schallendes Gelächter ausbrach, das selbst Beth erschreckte, war es auch mit ihrem letzten Rest Konzentration vorbei. Der Mann setzte sich schließlich neben sie und faltete seine großen, schönen Hände über den Knien. Es dauerte eine Weile, bis er zu einer Antwort ansetzte.

„New Orleans liegt in Louisiana, in Amerika. Meine Großeltern sind als Sklaven aus Afrika verschleppt worden, aber ich bin ein freier Mann, zumindest seit einer Weile.“

Sein Lächeln verschwand, war wie weggewischt, und ein Schatten huschte über sein Gesicht. Schnell fing er sich wieder, und Meriel begann zu ahnen, dass Mister James seine Fröhlichkeit wie eine Maske trug. Ein jeder von ihnen wurde mit den dunklen Seiten des Lebens auf andere Weise fertig. Und was war falsch daran, ihnen mit einem Lächeln zu begegnen?

„Und Ihre Großeltern wurden einfach so entführt?“, hakte Beth nach, die offenbar nicht bemerkt hatte, wie unangenehm dem Matrosen das Gespräch war.

Er seufzte und lehnte sich an die Bordwand. Sein Blick ging hinauf zum Himmel, wo zwei Möwen zwischen Segeln und Takelwerk hindurchtauchten. Sie waren so frei, wie kein Mensch auf diesem Schiff es je sein würde.

„Ich weiß nicht viel darüber, Miss. Mein Großvater hat nie darüber geredet, die Großmutter nur kurz vor ihrem Tod. Sie wurden von einem anderen Stamm verraten. Sie kamen in der Nacht, zerrten alle aus den Hütten, raubten das Vieh, erschlugen die Alten und die ganz jungen. Dann verschleppten sie all jene, für die sie sich Geld erhofften. Das Dorf brannten sie ab. Großmutter sagt, das Feuer habe den Nachthimmel erleuchtet, stundenlang. Sie wurden aneinander gekettet und mussten laufen. Viele Tage lang. Dann wurden sie an Araber verkauft. Die trieben sie durch eine Wüste, bis zu einem großen Hafen.

Dort angekommen, lebte nur noch die Hälfte. Ein Weißer hat sie gekauft, ihnen Brandzeichen aufgedrückt, dann wurden sie auf ein Schiff gebracht und wieder angekettet. Schlimmer als dieses, viel schlimmer. Sie mussten die gesamte Überfahrt lang angekettet liegen, so dicht aneinander, dass sich alle umdrehen mussten, wenn einer sich umdrehen wollte. In ihrem eigenen Dreck. Jeden Tag starb jemand, oft auch mehrere. Fraß für die Haie.“ Er räusperte sich, und auf seinen Unterarmen traten die Muskeln hervor.

„In Amerika wurden sie auf einen Markt gebracht. Dort riss man die Dorfgemeinschaft endgültig auseinander. Großmutter kam auf eine Baumwollplantage. Dort wurde sie zur Begrüßung verprügelt, damit sie nie auf die Idee käme, sich zu widersetzen. Als Kind dachte ich, es seien Falten, doch ihr ganzer Körper war voller Narben. Nach einigen Jahren traf sie auf der Plantage Großvater. Mehr gibt es nicht zu erzählen.“

Er stand auf und ging davon. In einigem Abstand hockte er sich auf den Boden, um sie von dort aus im Blick zu behalten.

Beth wandte sich zu ihrer Freundin um. Tränen strömten über ihre Wangen. Meriel war zu erschüttert, um zu weinen. Es war, als drücke ihr eine Faust die Kehle zu.

Mit einer zornigen Handbewegung wischte sich Beth die Wangen trocken und zog die Nase hoch. „Nun gib mir dieses verdammte Nähzeug.“

Meriel reichte ihr das Kästchen und begann unterdessen damit, den Kleiderstapel durchzusehen. Sie fand ein Leinenhemd, dessen Stoff noch recht gut war, aber zwei Risse hatte. Sie machte sich daran, es zu flicken.

Eine Weile arbeiteten sie schweigend. Die Sonne schien auf sie herab, doch sie merkten es kaum. Ihre kleine Freiheit konnten sie nach James‘ Bericht kaum noch genießen. Sie schmeckte schal, denn ihre Mitgefangenen hockten noch immer dort unten im Dunklen, und daran würde sich so bald auch nichts ändern.

Meriel stach sich mehrfach in den Finger, bevor sie mit dem ersten Hemd fertig war und ihr Werk begutachtete. Sie hatte Übung darin, Kleidung auszubessern. Ihre Familie hatte fast nie Geld für neuen Stoff gehabt, und so musste sie die Sachen der kleinen Geschwister und ihre eigenen beständig flicken und umändern. Sie legte das Hemd zur Seite und sah den Stapel durch, trennte alles in Kleidung, die sich noch ausbessern ließ, und solche, die so zerschlissen war, dass sie nur noch als Flicken taugte.

„Meriel?“, brach Beth das Schweigen.

„Hmm?“

„Ich glaube, wir sollten Gott dankbar sein, dass wir nur nach Australien geschafft werden und nicht in die Sklaverei.“

„Das sollten wir wohl. Du hättest ihn nicht so ausfragen dürfen, Beth. Hast du denn nicht gemerkt, wie unangenehm es ihm war?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin so neugierig, und manchmal kann ich mein vorlautes Mundwerk einfach nicht halten. Ich dachte, wenn wir mit den Matrosen ein wenig freundlich tun, können wir vielleicht eine Gefälligkeit bekommen.“ Sie zog die Knie an und schlang die Arme darum, als würde sie frieren.

Meriel musterte ihre Freundin aufmerksam. Was hatte sie vor, und warum hatte sie ausgerechnet den dunkelhäutigen Seemann für ihren Plan ausersehen? Oder war es gar keine Absicht und nur ihrer Neugier geschuldet?

„An was für eine Gefälligkeit denkst du? Wenn seine Großeltern so gelitten haben, ist es in seinen Augen sicher nur gerecht, wenn jetzt auch ein paar Weiße eingesperrt und gegen ihren Willen an einen anderen Ort gebracht werden. Ich könnte sogar verstehen, wenn er so denkt.“

Beth schüttelte den Kopf. „Er scheint mir kein rachsüchtiger Mann zu sein. Und was können wir schon für das Unrecht, das seinen Vorfahren angetan wurde? Wenn wir uns gut anstellen und tüchtig arbeiten, dürfen wir vielleicht in der Kammer schlafen, in der sie die alte Kleidung aufbewahrt haben. Ich habe sie mir genau angesehen, dort wäre Platz für uns.“

Meriel schämte sich dafür, weil es eigentlich ungerecht den anderen Frauen gegenüber war, dennoch stand sie Beths Plan nicht ablehnend gegenüber.

„Wenn wir überleben wollen, sollten wir es versuchen“, stimmte sie zu. „Zeigen wir ihnen, dass wir unsere Arbeit gut machen.“ Meriel trennte einen Flicken aus einem der Lumpen und setzte ihn in eine Hose ein.

Sie nähten, bis ihre Finger schmerzten und steif waren. Und auch als sie eigentlich eine Pause brauchten, machten sie weiter. Sie hatten nur diese eine Chance, um sich zu beweisen. Wenn sie es nicht schafften, würde am nächsten Tag vielleicht eine andere Frau ihre Arbeit machen.

Der Schiffsjunge brachte ihnen nach einigen Stunden Wasser, Trockenfleisch und Schiffszwieback. Sie aßen und tranken, während sie nähten. Schließlich wurde es so dunkel, dass sie nicht mehr genug sehen konnten, um gerade Stiche zu setzen.

James, der bis zu diesem Moment an einem Seil gearbeitet hatte, das er aufspleißte und kürzte, stand auf und kam zu ihnen herüber. „Es ist Zeit, Ladys. Packt zusammen.“

Meriel lief es kalt den Rücken hinunter, wenn sie an das stinkende, verdreckte Zwischendeck dachte. Wie betäubt raffte sie Kleidung und Nähzeug zusammen.

Die beiden Matrosen, die sie hergeführt hatten, brachten sie auch wieder zurück. Sobald sie aus dem Windschatten der Leeseite traten, schlugen ihnen Böen ins Gesicht. Meriel atmete tief ein und versuchte, den salzigen Geruch des Meeres irgendwie festzuhalten, und meinte, ihn auf der Zunge zu schmecken.

Nach vorn gebeugt erreichten sie schließlich das Schott. James ging voraus, ihm folgte nach kurzem Zögern Beth, und dann kamen Meriel und der junge Matrose mit den schelmischen Augen. Er schloss das Schott mit einem Knall. Meriel zuckte zusammen. In ihrem Magen krampfte es, das dämmrige Zwielicht und der unverwechselbare Mief ihres Gefängnisses hatten sie wieder.

Sie folgten James durch einen Flur bis in die Kammer.

Beth legte die Kleidungsstücke aus, die sie geflickt hatte, und Meriel tat ihre dazu. Es ergab einen ansehnlichen Stapel, aber es war nicht einmal die Hälfte von den Stücken, die sie bekommen hatten.

„Alle Achtung, ihr habt einiges geschafft“, lobte James.

„Wir schaffen die anderen auch noch“, sagte Beth schnell.

„Wir können die Sachen auch waschen und …“, bot Meriel an.

Der junge Matrose schmunzelte. „Für heute reicht es.“

„Bitte!“ Beth klammerte sich plötzlich an James‘ Arm. „Können wir hier schlafen? Wir werden ganz früh mit der Arbeit beginnen.“

„Hier?“ James sah sie irritiert an und streifte Beths Hand ab wie ein lästiges Insekt. „Wie kommt ihr Mädchen denn auf solch einen Unsinn? Hier kann man kaum stehen, geschweige denn liegen!“

Bedauerlicherweise hatte er recht. Überall waren Kisten und Säcke. Schachteln mit Werkzeug, aufgerollte Bahnen von Segeltuch und Körbe mit ausgedienter Kleidung. Fieberhaft überlegte Meriel, was sie sagen sollte, doch das Einzige, was ihr über die Lippen kam, war: „Das macht uns nichts aus. Bitte, ich flehe Sie an.“

Die Männer lehnten es beide ab, und sie wussten, dass sie sich würden fügen müssen. Je näher sie dem Zwischendeck kamen, desto stärker begann Furcht an Meriel zu nagen. Dennoch ging sie mit schlurfenden Schritten weiter. So musste es Vieh ergehen, das im Schlachthof den Tod bereits riechen konnte und sich dennoch friedlich durch die Gänge treiben ließ. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie mit Bleigewichten beschwert.

James ging voran und hielt eine Laterne, als vor ihnen plötzlich Frauenstimmen laut wurden. Manche riefen etwas, andere weinten, dann fiel eine Tür krachend ins Schloss.

„Aus dem Weg“, brüllte jemand.

James trat zur Seite und schob Meriel an die Wand. Beth drückte sich an sie. Dort kamen mehrere Matrosen. Es waren sechs, und immer zwei trugen etwas. Es waren lange Bündel, die in Tuch eingewickelt waren. Meriels Verstand brauchte einige Herzschläge lang, um einen Sinn hinter alldem zu finden. Dann entdeckte sie den Zopf, der aus dem zweiten Bündel ragte. Beth neben ihr hatte es auch gesehen. Ihr Kopf fuhr zu Meriel herum. Im Lampenschein wurde ihr Gesicht kreidebleich. Sie setzte an, um etwas zu sagen, und sank dann einfach in sich zusammen.

„Beth“, sagte Meriel und hockte sich neben ihre Freundin. Strich ihr über die Wange, auf der sich Angstschweiß bildete.

„Was ist mit ihr? Ist sie auch krank?“ James hockte sich neben sie und leuchtete sie an.

„Nein, sie ist nicht krank, wir sind es beide nicht. Aber ich flehe Sie an, Sir, bringen Sie uns nicht wieder dort hinein. Ketten Sie uns irgendwo an, aber nicht dort drin!“, beschwor ihn Meriel.

Der Matrose stand auf. Flüsternd beriet er sich mit seinem Kameraden. „Und wenn sie doch verseucht sind?“, fragte der Jüngere. „Dann haben wir es auch.“

„Komm hoch“, sagte Meriel, zog Beth auf die Beine und half ihr dabei, aufrecht stehen zu bleiben, indem sie ihr einen Arm um die Mitte legte. Sie durfte auf keinen Fall krank wirken. Sonst würde das winzige Licht am Ende des Tunnels verlöschen, bevor sie ihm auch nur einen Schritt näher gekommen waren.

„Ihr macht keinen Mucks“, sagte der Jüngere schließlich, sah sich vorsichtig um und dann, Meriel konnte ihr Glück kaum glauben, machte er mit einem Handzeichen klar, dass sie umkehren konnten. Sie schlichen den Gang zurück, während unter den gefangenen Frauen ein Tumult auszubrechen schien. Sie hämmerten mit den Fäusten gegen die Tür, andere traten dagegen und schrien.

Meriel lief es eisig den Rücken hinunter, doch sie biss die Zähne zusammen, ging stur weiter und ließ die Verzweiflung der anderen, so gut es ging, von sich abprallen.

Schweigend traten sie in die winzige Kammer.

„Behaltet das Licht hier, Peter wird nachher noch einmal vorbeikommen und euch das Nötigste bringen. Richtet euch so gut wie möglich ein und seid still, um Gottes willen.“

Bevor sie sich bedanken konnten, hängte James die Lampe an einen Nagel in der Wand und schloss die Tür.

Beth und Meriel nahmen einander in die Arme und umklammerten sich, während das Schiff träge auf und ab schaukelte.

„Wir haben es geschafft“, wisperte Beth.

„Ja, wir haben es geschafft.“

Sie hatten eine Weile lang einfach auf dem Boden gehockt und jeder seinen eigenen Gedanken nachgehangen. Schließlich flüsterte Meriel: „War es falsch, dass wir uns gerettet haben, statt zu versuchen, für alle Frauen eine Verbesserung zu erreichen?“

Beth schüttelte den Kopf. „Du machst dir zu viele Sorgen um völlig Fremde. Glaubst du denn, eine von ihnen hätte auch nur einen Gedanken an uns verschwendet, wenn sie an unserer Stelle gewesen wären?“

„Nein, vermutlich nicht, aber das macht es nicht richtiger.“

„Nein, das stimmt.“ Beth stand auf. „Ich kann es noch immer nicht glauben. Komm, versuchen wir, uns etwas Platz zu schaffen.“

***

Unter dem Kauribaum

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