Читать книгу Unter dem Kauribaum - Rebecca Maly - Страница 9

KAPITEL 4

Оглавление

Vier Tage verstrichen. Vorher gelang es Trevor nicht, sich davonzustehlen. Mutter hatte einen Schneider bestellt, der von allen Familienmitgliedern die Maße nahm, um neue Winterkleidung zu nähen. Die halb fertigen Stücke hatte er mitgebracht, und Trevor wurde immer wieder gerufen, um ärmellose Mäntel und Hosen mit umgeschlagenen Säumen anzuziehen. Dazwischen sah er sehnsüchtig aus dem Fenster, wo Regen und Nebel einander abwechselten, und paukte in den Pausen Latein. Es war nötig, diese sperrige Sprache zu lernen, wollte er sich tatsächlich wie Onkel Samuel der Pflanzenwelt verschreiben. Trevor hatte sich vorgenommen, ihn um eine Assistentenstelle zu bitten, wenn der im Sommer wieder auf Reisen ginge. Ein Auftrag wartete an der schottischen Westküste auf ihn, wo er einen weitläufigen Garten neu gestalten wollte.

Bislang wussten weder Onkel Samuel noch die Eltern von seinen Plänen. Bis er sie offenbarte, hatte er noch Zeit und wollte so gut wie möglich vorbereitet sein.

Ihm schwirrte noch der Kopf vor neuen Worten, als er endlich aufbrach. Er hatte mit Meriel verabredet, sich frühestens nach drei Tagen zu treffen und dann an dem ersten Nachmittag, an dem wieder die Sonne schien.

Nun lugte sie hinter schweren grauen Wolken hervor. Trevor ritt mit leiser Aufregung im Bauch los. Er beachtete die Hunde kaum, sondern dachte an sie. Das forsche Mädchen, das ihm so mutig begegnet war. Ob sie wohl noch genauso unbeschwert mit ihm sprechen würde, wenn sie wüsste, wer er war?

Trevor war sich sicher, dass sie ihn nicht erkannt hatte. Er mied das Dorf, weil ihm die kriecherische Art, mit der die einfachen Leute seiner Familie begegneten, missfiel. Er war nicht besser als sie, er hatte nur mehr Glück gehabt.

Je näher er dem Treffpunkt kam, desto aufgeregter wurde er.

Meriel war so anders als die jungen Frauen, denen er sonst auf Festen und Jagden begegnete.

Jene erschienen ihm wie völlig fremde Wesen, mit denen es keine Überschneidungspunkte gab. Die ein oder andere hatte er hübsch gefunden, doch wenn sie dann den Mund aufmachten, war sein Interesse schnell wieder verflogen.

Nun war er fast da. Die Hunde jagten voraus und kläfften. Als er am Bau ankam, war Meriel nicht zu sehen.

Trevor blickte zum Himmel hinauf. Ja, die Sonne schien, doch es standen auch viele Wolken am Himmel. Vielleicht würde sie nicht zu ihrer Verabredung kommen, sondern auf einen besseren Tag warten.

Er hielt sein Pferd an, wartete.

Allein mit der Jagd beginnen wollte er nicht. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde er. und seine Stimmung sank. Warum kam sie nicht? Hatte sie herausgefunden, wer er war, und scheute daher eine erneute Begegnung?

Nein, so schätzte er sie nicht ein. Und wenn ihr etwas zugestoßen war?

***

Auf dem Schiff, neun Monate später

Das Stroh, mit dem das Zwischendeck bei ihrer Ankunft ausgestreut gewesen war, taugte längst nicht mehr als Lager. Es war zerbrochen, zerdrückt, und in den Halmen hauste Ungeziefer.

Meriel schlief lieber auf den blanken Holzbohlen, die sie jeden Abend sorgfältig sauber fegte.

Seit sie auf offener See waren, hatte man ihnen die Fußfesseln abgenommen. Wohin sollten sie auch fliehen? Meriels anfängliche Tränen waren Trotz und blankem Überlebenswillen gewichen. Sie weinte nicht mehr, sondern konzentrierte sich nur noch darauf, diese Überfahrt irgendwie zu überstehen, ohne dabei ihre Würde zu verlieren.

Zwei der Frauen schliefen mit Matrosen, um sich durch die Gefälligkeiten etwas besseres Essen zu erkaufen. Meriel machte es ihnen nicht zum Vorwurf, doch viele andere Frauen taten es.

Als Meriel an diesem Morgen aufwachte, hatte sie das Gefühl, dass eine Veränderung bevorstand. Das Schiff ächzte und knarrte unter der Kraft von Wind und Wasser. Schon seit drei Tagen schwiegen die Motoren. Nur die Segel zogen sie jetzt noch ihrem unbekannten Ziel entgegen.

Eine Weile lauschte sie den Wellen, die unermüdlich gegen den Bug schlugen. Einige Frauen schnarchten, hin und wieder kratzte sich jemand. Meriel lag neben Beth. Die junge Frau schlief ihr zugewandt. Sie hatte noch immer volle Lippen und ein rundliches Puppengesicht, obwohl ihr Leib genauso hager war wie Meriels. Ihre Haare waren zu kurzen Stoppeln geschnitten. Sie kam aus einem anderen Gefängnis. Dort hatte man den Frauen vor Antritt der Reise die Köpfe geschoren, weil in den Zellen so viele Läuse waren, dass die Frauen sich die Haut blutig gekratzt hatten.

„Du bist wach?“, sagte sie und blinzelte Meriel an wie eine träge Katze.

„Schon eine ganze Weile. Irgendwas ist anders heute.“

Beth runzelte die Stirn, lauschte. Dann zog sie die Decke höher um die Schultern, nur um sie plötzlich von sich zu schieben. „Es ist wärmer, das ist es.“

Meriel wurde erst in diesem Moment klar, dass auch sie ihre Decke noch in der Nacht zur Seite geschoben haben musste.

„Jetzt sind wir wirklich weit weg von daheim“, sagte sie, dabei hatte das Schiff den Hafen von Cardiff erst vor zehn Tagen verlassen, wenn sie richtig gezählt hatte.

Beth seufzte. „Ich würde so gerne mal sehen, wie es dort oben ist. Sollen sie mich in Eisen legen, aber sehen möchte ich es.“

Meriel nickte betrübt. „Ich wäre schon mit frischer Luft zufrieden.“ Sie stand auf und schlug sorgfältig ihre Decke aus. Eine vollgesogene Bettwanze purzelte hinaus, die sie zertrat, bevor das Insekt in einer der Spalten im Holzboden verschwinden konnte. Meriel hängte die Decke an einen krummen Nagel, der aus einem Balken ragte.

Beth rappelte sich ebenfalls auf und verstaute ihr Zeug.

„Macht nicht so einen Lärm!“, brummte eine Frau, deren Namen sie bislang nicht erfahren hatten. Sie lag die meiste Zeit herum, ruhte oder schlief. Meriel kam es vor, als habe sie jeglichen Lebensmut verloren.

„Komm, machen wir uns nützlich und kochen Grütze“, sagte Beth. Sie waren zwar nicht an der Reihe, doch ihnen beiden war es lieber, eine Beschäftigung zu haben, als in Grübeleien zu verfallen. Schnell hatten sie das Feuer in dem kleinen Ofen geschürt und setzten einen großen Kessel auf, dessen Wände schwarz vom Ruß waren. Meriel goss eine Mischung aus Süß- und Meerwasser hinein, das sie sonst zum Waschen verwandten. Durch das Salz würde die Grütze nicht mehr ganz so fad schmecken.

Es gab fetten Speck, der grünlich und schon ein wenig ranzig war. Beth schnitt ihn in hauchdünne Scheiben, peinlich darauf bedacht, alle gleich groß zu machen. Jede Frau würde zwei Stück bekommen.

Der Geruch des Essens weckte auch die anderen auf. Beth und Meriel füllten ihre Holzschüsseln und setzten sich mit ihrem kargen Mahl in einen Winkel. Sie teilten sich eine rohe Zwiebel, das einzige Gemüse, das noch übrig war.

„Was denkst du, wie lange sie uns in der Kolonie noch einsperren werden?“, fragte Meriel zwischen zwei Löffeln Grütze.

„So lange sie möchten, fürchte ich. Hast du dich mal umgehört? Viele Frauen sind für Lappalien verhaftet worden, für die früher niemand belangt worden wäre. Mir kommt es beinahe so vor, als hätten sie Gründe gesucht, um uns ins Gefängnis zu stecken.“ Beth war aufgegriffen worden, als sie auf der Suche nach Arbeit umhergezogen war und im Freien kampiert hatte. Man warf ihr Landstreicherei vor.

Meriel nickte. Schon oft war es ihr merkwürdig vorgekommen, dass sie für einen Diebstahl derart hart bestraft wurde.

„Und sieh dich mal um. Alles junge, gesunde Frauen.“

„Die rothaarige Vinnie meint, sie haben uns nur verhaftet, damit sie Ehefrauen für die Siedler in Queensland bekommen. Denn freiwillig reist keine anständige Frau in dieses Höllenloch.“

„Das kann ich nicht glauben!“, entfuhr es Meriel, doch tief in ihrem Innersten dachte sie längst so wie Vinnie. Hatte sie doch mittlerweile genug der immer gleichlautenden Gerüchte gehört, dass das Empire versuchte, die arme Unterschicht auszudünnen, indem die Menschen in die Kolonien abgeschoben wurden. Nach Australien kamen all jene, die nicht aus freien Stücken nach Amerika ausreisten oder keine Chance hatten, dort Aufnahme zu finden. Für die Oberschicht waren sie nichts als Abschaum, Dreck, den man beseitigen musste.

Es gab ihr einen Stich ins Herz. Trevors Familie gehörte zu diesen Leuten. Ob auch er mittlerweile so dachte?

Beth zuckte zusammen, als die Verriegelung an der Tür geöffnet wurde. Von außen lag ein schwerer Balken davor, der nun weggeschoben wurde.

Gebannt sahen sie zum Ausgang. Um diese Uhrzeit kam nie jemand. Jeden zweiten Tag brachte jemand abends Nahrungsmittel und Wasser und leerte Eimer, in denen sie ihre Notdurft verrichteten.

Zwei Matrosen traten herein. Sie mussten gebückt gehen, damit sie nicht mit den Köpfen an die niedrigen Balken der Zwischendecke stießen. Sie bauten sich beiderseits der Tür auf, wie Soldaten, die ihre Posten bezogen.

Etwas würde geschehen. Stille hatte sich über die Frauen gesenkt. Sollten sie Angst haben, oder gab es einen Grund zu hoffen?

Beth nahm Meriels Hand und drückte sie.

Ein dritter Seemann trat ein. Aus Beobachtungen wusste sie, dass er an Bord etwas zu sagen hatte. „Ladys, guten Morgen!“, brüllte er. „Heute ist der Tag des Herrn! Der Kapitän hat verfügt, dass auch ihr verlorenen Seelen sein Wort hören sollt.“ Die Matrosen lachten, als habe er einen Witz gemacht.

„Steht auf! Mitkommen. Denkt nicht mal daran, abzuhauen. Dieses Schiff ist eine Insel, und in jede gottverdammte Richtung gibt es nur Wasser. Hunderte Meilen Wasser.“

Seine Worte trieben Meriel einen Schauer über den Rücken, der genauso schnell verflog, wie er gekommen war. Denn sie würden aus diesem Loch herauskommen, und sei es auch nur für die Dauer einiger Gebete.

Aufgeregt stolperte Meriel mit den anderen Frauen an den Matrosen vorbei durch die Tür, von der sie geglaubt hatte, dass sie sich für sie erst an ihrem Ziel wieder öffnen würde. In einem kleinen Flur stapelten sich Bündel bis hoch unter die Decke. Bohlen knarrten unter ihren Schritten. Die Treppe, die hinaufführte, war schmal.

Meriel atmete tief ein, als ein plötzlicher Luftzug ihr den salzigen Odem des Meeres entgegenwarf. Das Schiff tauchte in ein Wellental. Meriel wurde gegen das Geländer gedrückt, doch nun konnte nichts mehr sie aufhalten. Dann wurde es hell. Sie blinzelte angestrengt, wie ein Tier, das nach einem langen Winter im Stall endlich wieder auf die Weide kam.

Die Sonne stach ihr schmerzhaft in den Augen. Die Frauen kamen ins Straucheln.

„Vorwärts!“, rief jemand. Die Männerstimme hatte nicht den strengen Ton der Gefängniswärter. Meriel wurde am Arm gefasst und weitergeführt. Die Eindrücke überwältigten sie. Möwen und Sturmvögel schrien. Der Wind umbrauste ihr Gesicht und zerrte an den Haaren. Tränen traten ihr in die Augen, während sie auf den gleißend hellen Horizont starrte, der nur langsam das Blau des Himmels und das Grüngrau des Meeres trennte.

„Setzt euch hier hin“, sagte jemand. Meriel wurde losgelassen. Mit den Händen ertastete sie aufgerolltes Seil, dick wie Männerarme, und hockte sich daneben auf die Planken.

Nach und nach konnte sie mehr erkennen.

Das Schiff stand unter vollen Segeln, die sich majestätisch blähten. Meriel erschien es wie ein König, der sein Reich aus endlosen Wogen besichtigte.

Neben ihr saß Beth und staunte genauso sehr wie sie.

Dann läutete ein Matrose eine kleine Schiffsglocke aus maisgelbem Messing. Die Frauen, die bis dahin aufgeregt getuschelt hatten, verfielen in Schweigen. Beth ergriff aufgeregt Meriels Hand.

„Kapitän Fortman an Deck!“, rief der Matrose, der die Glocke geläutet hatte, und erst jetzt wurde Meriel klar, dass sich wohl fast die gesamte Mannschaft versammelt hatte. Sie erkannte zwei Schiffsjungen, die nicht älter als zwölf Jahre alt sein konnten und sie an elternlose Straßenkinder erinnerten. Trotz ihrer Jugend standen ihnen die Strapazen eines harten Lebens ins Gesicht geschrieben. Das dort neben ihnen schien der Koch zu sein. Die Haare, die ihm auf dem Kopf fehlten, quollen ihm als roter Wust aus dem Hemd und bedeckten seine Arme. Er trug eine fleckige Schürze und im Gürtel ein kleines Beil sowie ein Messer.

Dann bemerkte sie ihn. Einen Mann so schwarz wie Ruß, der inmitten der versammelten Schiffsbesatzung stand. „Schau nur, ein echter Mohr!“, flüsterte sie ihrer Freundin zu. Beth sog den Atem ein. Der Mann stand wie selbstverständlich zwischen den Matrosen. Jetzt, da Meriel genauer hinsah, wurde ihr klar, dass viele Männer aus fremden Ländern kamen. Wenn sie darüber nachdachte, war es nur verständlich, fuhr doch der Dreimaster tagein, tagaus über die Meere der Welt und brachte Güter in ferne Häfen.

„Männer!“, rief der Kapitän energisch und zog damit aller Aufmerksamkeit auf sich. Er war ein klein gewachsener Mann, dafür umso breiter in den Schultern. Sein Gesicht war glatt rasiert und wettergegerbt, das graue Haar kurz. Seine Hände waren groß und kräftig wie Pranken, und es schien nicht richtig, dass er sie in diesem Moment nicht benutzte, sondern sie bloß vor der Brust verschränkte. Er ließ seinen Blick über die Mannschaft und dann auch über die gefangenen Frauen gleiten, und Meriel meinte, seine Autorität wie ein Gewicht zu spüren, das ihr auf die Seele drückte. Dennoch straffte sie die Schultern und richtete sich gerade auf.

„Männer, ihr wisst, dass mich die Anwesenheit der Damen nicht sonderlich erfreut. Zwar glaube ich nicht, dass sie Unglück bringen …“ Er machte gekonnt eine Pause. Die Männer lachten, und der ein oder andere schickte begehrliche Blicke herüber. „Aber diese … Personen sind auch nicht der Moral an Bord förderlich. Unser verehrter Kaplan Mister Rees ist allerdings der Meinung, dass es schlimmer wäre, die Damen vor euch zu verbergen, als euch sehen zu lassen, was für jämmerliche Gestalten der Herrgott auf unser Schiff befohlen hat. Daher werden die uns von der Krone anvertrauten Gefangenen ab sofort jeden Sonntag gemeinsam mit uns die Messe feiern.“

„Amen“, rief ein in dunklen Farben gewandeter dicklicher Mann, der nun zwischen den Matrosen hervortrat. Er trug eine schlichte Bibel im Arm, und um seinen Hals hing ein Kruzifix. „Auf dass euch allen durch das Gebet Gottes Gnade zuteilwerde.“

Jemand brachte eine Seekiste, auf die er sich stellte und sofort aus der Bibel vorzulesen begann. Seine Stimme war unangenehm hoch und ein wenig zu dünn, um es mit dem Rauschen der Wellen aufnehmen zu können.

Meriels Gedanken drifteten schnell ab. Die vergangenen Wochen und Monate waren derart eintönig gewesen, dass sie sich nun kaum sattsehen konnte an der Weite des Ozeans, an den zahlreichen Segeln, Masten und Seilen. Sie betrachtete Vögel und Menschen, genoss die ungewöhnlich warme Sonne auf ihrer Haut. Selbst die Bewegung der Luft hatte ihr gefehlt.

Nach einer Weile spürte sie, dass sie beobachtet wurde.

Es war einer der Matrosen. Ein schlaksiger, hoch aufgeschossener Mann, nicht viel älter als sie selbst. Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht, doch seine Augen waren tiefgründig und erinnerten sie an jemand anderes.

Trevor hatte solche Augen gehabt.

Der Matrose lächelte knapp und wandte sich dann beinahe schuldbewusst wieder der Predigt zu.

Meriels Gedanken folgten dem einmal eingeschlagenen Pfad zurück in die Vergangenheit, zurück zu Trevor und dem Tag, an dem ihr Unglück seinen Lauf genommen hatte.

***

Als die Sonne ihre Strahlen wie spitze Lanzen durch die Wolkendecke sandte und dem grauen, nebeligen Herbstland einige Farben zurückgab, wusste Meriel, dass dies der Tag war, an dem sie Trevor wiedersehen würde.

Doch ach, die Sturmböen hatten in der Nacht einige Steinplatten aus dem Dach gerissen, und bevor sie den Schaden nicht ausgebessert hatte, konnte sie nicht aufbrechen.

Vater hatte immer Ersatz bereitliegen, und so war sie schließlich fertig und rannte die halbe Strecke. Dann war sie so außer Atem, dass sie langsamer gehen musste. Sie flocht ihren Zopf neu und schob sich sorgfältig einige verirrte Strähnen aus der verschwitzten Stirn. Auch ihr dunkelblaues Wollkleid strich sie noch einmal glatt. Zum Glück hatte Mutter nicht gesehen, dass sie ihr gutes Gewand trug. Es war eigentlich für Kirchgänge und Festtage vorgesehen.

Warum sie es ausgerechnet für einen Landstreicherjungen anzog, war ihr selbst nicht ganz klar.

Trevors Gegenwart machte etwas mit ihr, das sie ganz aufgeregt und kribbelig werden ließ.

Sie stieg durch eine Hecke, und da breitete sich die Rinderweide mit der Karnickelburg vor ihr aus. Im Schatten, der sich wie ein blassblauer Streifen an der Hecke entlang zog, waren noch Eiskristalle auf den Grashalmen. Sie knisterten unter ihren Schritten, als sie sich weiter vorwagte.

Und dann sah sie ihn. Trevor stand neben einem grasenden Pferd und hielt es am Zügel. Zwei sehr schlanke Hunde spielten windschnell miteinander fangen.

Meriel zögerte. Sollte sie wirklich zu ihm gehen? Ihr Herz hämmerte plötzlich in der Brust, als sei sie die gesamte Strecke gerannt. Angst war das nicht, zumindest nicht ausschließlich.

Noch hatte er sie nicht bemerkt, sondern blickte in eine andere Richtung und streichelte gedankenverloren das Pferd. Etwas an dem Bild stimmte nicht. Ein Landstreicher sollte kein derart gutes Tier besitzen. Bevor Meriel eine Entscheidung treffen konnte, hatten die Hunde sie jedoch entdeckt und kamen bellend auf sie zu.

Erschrocken wich sie zurück. Dann waren die Tiere auch schon bei ihr. Sie wedelten mit den Schwänzen, sprangen an ihr auf und ab und einer leckte ihr die Hand.

„Meriel!“ Trevor eilte zu ihr, das unwillige Pferd hinter sich her ziehend. Er grinste breit. „Ich dachte schon, du würdest nicht kommen.“

„Ich, ich wollte eher hier sein, ehrlich, aber es gab so viel zu tun.“

Meriel streckte dem Pferd die Hand hin und strich ihm über die seidigen Nüstern. „Wo hast du ihn her?“ Sie musste die Frage einfach stellen. Mit einem Viehdieb wollte sie nichts zu tun haben, das war um einiges schlimmer, als hie und da ein Kaninchen zu erlegen. Die Leute, denen das Land gehörte, hatten ohnehin keine Verwendung für Niederwild, so stellte sich Meriel es zumindest vor, auch um ihr Gewissen zu beruhigen. Ein Pferd hingegen war wertvoll.

„Er ist eine sie“, sagte Trevor und grinste noch immer. „Rose gehört mir schon seit drei Jahren, sie ist ein großartiges Pferd.“

Sie wollte ihren Ohren nicht trauen. „Sie gehört dir?“

„Was ist denn daran so ungewöhnlich?“

Meriel rang nach Worten, dann platzte es nur so aus ihr heraus. „Ich dachte, du seist ein Landstreicher und das Pferd …“

„ … sei gestohlen“, ergänzte Trevor und wurde schließlich ernst. „Und wenn es nicht so wäre, wenn ich kein Landstreicher bin, läufst du dann wieder davon?“

Er hatte sie durchschaut. Meriel war kurz davor, umzudrehen und in das Schlehengebüsch zu rennen. Wenn Trevor ein Pferd besaß, dann war er reich, und wenn er reich war, dann gab es nur sehr, sehr wenige Familien in der Gegend, die in Frage kamen. „Trevor, wie ist dein Nachname?“

Er zog seine Brauen zusammen. Sein Blick verdüsterte sich. „Tut das etwas zur Sache?“

Sie nickte.

„Vaughan!“ Er spuckte ihn ihr regelrecht entgegen.

Das Wort traf Meriel wie ein Schlag. Sie hatte nicht nur Trevors Frettchen auf dem Gewissen, sondern auch noch auf seinem Land gejagt und ihn bestohlen. Und nun war er hergekommen, um sie zu überführen oder sich über sie lustig zu machen oder gleich beides zusammen. Sie wollte umdrehen und heimlaufen, als er sie auch schon am Oberarm packte und unerbittlich festhielt.

„Meriel, bleib stehen!“

„Nein, bitte, bitte lass mich. Ich mache es nie wieder, ich werde es dir zurückzahlen, jeden Penny, bitte.“

„Meriel!“ Nun war er richtig wütend. Seine Stimme ließ ihn zusammenzucken. Das Pferd scheute, und die Hunde, die zuvor so freundlich gewesen waren, blieben erstarrt stehen, und ihr Rückenfell stellte sich auf.

Und da hatte Meriel der Mut verlassen. Sie brauchte nicht versuchen, sich loszureißen, die Hunde würden sie finden. Trevor würde sie auf seiner Stute einholen.

Zitternd hielt sie inne. Und dann tat Trevor etwas, das sie nicht erwartet hatte. Er nahm eine Kiste, die er sich umgehängt hatte, und reichte sie ihr. „Halt das, und mach auf keinen Fall die Klappe auf.“

Meriel fühlte, wie sich in dem Behältnis etwas bewegte. „Was ist das?“

Und da war Trevors freundliches Wesen wieder zurück. „Willst du denn nicht mehr lernen, wie man mit Frettchen jagt?“

Die Zeit bis zum Abend verging wie im Flug. Anfangs war Meriel noch gehemmt, da sie nun wusste, dass Trevor ausgerechnet zur Familie Vaughan gehörte, doch er machte es ihr durch seine fröhliche Art leicht, das zu vergessen.

Gemeinsam bedeckten sie viele Ausgänge des Kaninchenbaus mit Netzen, dann schickten sie das Frettchen in einen Gang und warteten.

Zuerst schwiegen sie, und das einzige Geräusch kam von der Stute, die langsam umherwanderte und Gras rupfte. Die Hunde lauerten wie erstarrt auf das erste flüchtende Beutetier.

Meriel und Trevor standen nebeneinander, und die Herbstsonne wärmte ihre Rücken.

„Schade, dass wir uns nicht schon eher begegnet sind“, brach Trevor das Schweigen.

Meriel sah ihn irritiert an. Meinte er das wirklich ernst? Schließlich war ihr erstes Treffen alles andere als gut verlaufen. Sie fühlte sich noch immer schuldig, besonders nachdem sie gesehen hatte, wie liebevoll er mit dem übrig gebliebenen Frettchen umgegangen war. Doch er schien ihr verziehen zu haben. Warum fiel es ihr so schwer, das zu glauben?

Er war ganz anders, als man es sich in Stonebridge von den Vaughans erzählte. Sie hatte einen arroganten jungen Mann erwartet, der auf sie herabsah, als sei sie weniger wert als seine Hunde.

Trevor griff in seine Tasche und nahm ein kleines Päckchen heraus. In dem gewachsten Papier war ein Stück kalter Braten eingeschlagen, sorgfältig in gleichmäßige Scheiben geschnitten. „Hier, nimm“, sagte er. „Es kann etwas dauern, bis die ersten Kaninchen flüchten.“

„Aber bist du denn nicht hungrig?“ Meriel war sich sicher, dass er den Proviant auch alleine geschafft hätte.

„Nicht so sehr, ich habe gegessen, bevor ich aufgebrochen bin“, sagte er und sah sie dabei nicht an.

Die Vorstellung, dass er es nur für sie mitgebracht hatte, war ihr noch unangenehmer. Meriel wollte keine Almosen. Doch ihr Magen kannte keine solchen Bedenken und knurrte verräterisch. Seit dem kargen Frühstück, einer Scheibe altbackenen Brotes, hatte sie nichts mehr bekommen.

„Danke“, murmelte sie und nahm sich ein Stück. Trevor wickelte die Reste ein und bestätigte damit Meriels Verdacht. „Hast du Geschwister?“, fragte sie, bevor sie anfing zu essen.

„Einen Bruder. Seit er ein Studiosus ist, ist er ein noch schlimmerer Besserwisser als vorher. Er ist die meiste Zeit in der Stadt.“

„Mein Bruder ist auch fort. Er ist mit dem Vater im Holz.“

„Hast du noch mehr Geschwister?“

Meriel nickte und kaute hastig. Der Braten schmeckte großartig. „Einen kleinen Bruder, Carl, und eine kleine Schwester. Sie heißt Mary. Und die Mutter erwartet noch ein Kindchen.“

„Eine große Familie“, stellte Trevor fest.

„Ja.“ Meriel seufzte, und dann platzte es einfach so heraus. „Wir haben nicht viel im Winter. Und dieses Jahr waren auch noch die Ernten schlecht. Ein Unwetter hat das Getreide zerstört, und die Kartoffeln sind im Boden verfault. Deshalb habe ich gewildert, Trevor. Sonst hätte ich das nie getan.“

Er blickte sie ernst an. „So schlimm?“, fragte er, und es klang mehr nach einer Feststellung.

„Mutter glaubt, dass sie das Kind verlieren wird, weil wir so wenig zu essen haben. Ich habe ihr versprochen, dass wir genug haben werden, ganz gleich, was ich dafür tun muss.“

Trevor schwieg betreten. Vielleicht wurde ihm gerade klar, wie gut er es hatte. Sie lebten nur wenige Meilen voneinander entfernt, und doch konnten ihre Leben nicht unterschiedlicher sein.

In diesem Moment schoss ein Kaninchen aus dem Bau, befreite sich aus dem Netz, bevor Trevor es erwischte, und raste davon. Einen Augenblick lang waren alle Sorgen vergessen. Gebannt beobachtete Meriel, wie die Hunde die Verfolgung aufnahmen. Sie waren schnell wie Schatten. Nie zuvor hatte sie Windhunde in vollem Lauf gesehen. Obwohl die Beute wilde Haken schlug, schnappte ein Hund es schließlich an den Hinterläufen, der andere biss in den Kopf, und es war aus.

Trevor stieß einen schrillen Pfiff aus, und schon kehrten die Hunde ausgelassen umherspringend zurück und legten ihm das Kaninchen zu Füßen.

„Das Erste ist für dich“, sagte Trevor feierlich.

Die Nacht war hereingebrochen, als Meriel mit drei Kaninchen heimkehrte. Trevor hatte sie den Großteil der Strecke begleitet und behauptet, das gehöre sich so. Zum Abschied hatte er sie scheu umarmt, und seitdem fühlte sie sich federleicht und glücklich.

Sie trafen sich noch mehrere Male, bevor der schicksalhafte Tag im Dezember alles änderte.

***

Unter dem Kauribaum

Подняться наверх