Читать книгу Unter dem Kauribaum - Rebecca Maly - Страница 8
KAPITEL 3
ОглавлениеOktober
Der Großteil der Kartoffelernte war verdorben. Käfer und Maden hatten die Pflanzen geschädigt und die angefressenen Knollen waren bei dem feuchten Wetter noch im Boden verfault.
Meriel hatte im Kartoffelkeller nach dem Rechten gesehen und im Licht einer flackernden Kerze jede einzelne Knolle geprüft, nachdem ihr ein fauler Geruch aufgefallen war. Von dem wenigen, was sie besaßen, hatte sie vier weitere aussortieren müssen. Eine Knolle war nur zur Hälfte faul, die würden sie heute noch essen. Meriel legte ein paar in ihren Korb, tat noch eine Steckrübe sowie eine Zwiebel hinzu und öffnete dann ein hölzernes Schränkchen, in dem ihr Geheimnis aufbewahrt wurde. An Schnüren aufgereiht hingen darin gepökelte Kaninchen und eine Ente. Sie schnitt eine Keule von dem fetten Vogel und lächelte. Den Stolz auf ihren guten Einfall und sein Gelingen zeigte sie nicht vor den anderen, aber hier unten gestand sie sich ein kleines Lächeln zu.
Ja, sie hielt ihr Versprechen. Wenn sie es nur gut genug machte, würden sie trotz der Missernte nicht hungern müssen.
Meriel stieg mit dem Korb und ihrem Licht die Treppe hinauf. Der Keller war in den Lehmboden unter das Haus getrieben worden und nahm nur ein Drittel der Fläche ein. Hier war es stets feucht und kühl, genau richtig, um Vorräte zu lagern und Flachs und Wolle zu bearbeiten. Die Stufen unter ihren Füßen knarrten. Sie waren ausgetreten und glatt.
Meriel brachte den Korb in die Küche, wo ihre Mutter bereits das Feuer im Herd schürte. Mit einem Haken entfernte sie einen Eisenring aus der Platte, sodass der große Kessel eingesetzt werden konnte. Heute würde es, wie an vielen anderen Tagen, Suppe geben.
„Hier“, sagte Meriel leise und stellte ihre Fracht ab.
„Schon wieder? Aber das ist doch nicht nötig, Kind.“
„Ich werde mehr holen, sorge dich nicht. Ich werde noch einmal die Fallen kontrollieren.“
„Ist es denn schon dunkel genug? Du weißt, wenn dich jemand sieht …“
„Mich wird niemand sehen. Ich werde einen Sack mitnehmen und Zunderholz suchen. Du weißt, dass ich vorsichtig bin.“
„Ich bin deine Mutter, ich sorge mich nun mal“, sagte sie und drückte Meriels Hand. „Nun geh, möge Gottes Segen dich begleiten.“
Sie erwiderte nichts. Die Worte hatten einen schalen Beigeschmack, wie trübes Wasser. Sie war eine Diebin, nichts anderes. Und der Herrgott würde wohl kaum gutheißen, was sie tat. Andererseits … war es nicht ihre Pflicht, fürsorglich zu sein?
Ihre Geschwister spielten auf dem elterlichen Bett mit Puppen aus Lumpen. Sie waren so sehr darin vertieft, dass sie nicht merkten, wie Meriel stehen geblieben war und ihnen einen Moment lang zusah. Dann zog sie ihre Pantinen an, hängte sich einen graugrünen Filzmantel um die Schultern und trat hinaus.
Es war dunkel. Vom letzten Licht angestrahlt, zogen vereinzelte, gräuliche Wolken über den Himmel, und über den Hügeln ging soeben der Mond auf. In einer Woche würde er in vollem Glanze stehen, jetzt reichte sein Schein gerade so aus, dass Meriel losziehen konnte. Auf dem ehemaligen Kartoffelacker waren die ersten Fallen ausgelegt. Eine nach der anderen war leer und unberührt. Die Kaninchen und Tauben besuchten das Feld kaum noch, seit es abgeerntet war. Hier gab es nichts mehr zu holen, und die alten Wildpfade wiesen keine frischen Spuren auf.
Enttäuscht sammelte Meriel die Schlingen ein. Es würde wohl doch nicht so einfach werden, wie sie es sich erträumt hatte.
Auch auf den anderen Feldern war nichts in den Fallen, bis auf eine unglückliche Ratte, die von einem kleinen Raubtier bereits halb aufgefressen worden war.
Meriel überlegte kurz, ob sie für den Marder eine Schlinge legen sollte, doch soweit sie wusste, waren sie nicht essbar, und einen Pelz zu verkaufen wäre viel zu auffällig.
Sie schlich weiter, eine Hecke entlang, die den Pachtgrund der Familie begrenzte.
Zögernd hielt Meriel inne. Trotz der Kühle der heraufziehenden Nacht wurde ihr plötzlich heiß. Schweiß bedeckte ihre Hände, dann hatte sie ihren Entschluss gefasst. Vorsichtig sah sie sich noch einmal um, dann schob sie sich zwischen den dichten Ginsterbüschen hindurch, bemüht, keinen Laut zu machen.
Hinter den Sträuchern war noch eine Findlingsmauer zu überwinden, dann war sie endlich auf der anderen Seite. Hier erstreckten sich schier endlose Weiden. In der Ferne machte sie einige Rinder aus, die unter einer Eiche ruhten. Ein Käuzchen schrie, ansonsten war es beinahe unheimlich still. Das Summen und Zirpen der Sommernächte war herbstlichem Schweigen gewichen.
Nun bin ich schon einmal hier, da kann ich mich auch umsehen, dachte Meriel bei sich und lenkte ihre Schritte tiefer in unbekannte Gefilde. Dies waren die Ländereien der Familie Vaughan. Leute, von denen Meriel bislang nur gehört hatte. Im Dorf gab es viel Tratsch über ihren Reichtum.
Da würden sie doch sicher nicht merken, wenn ihnen einige Kaninchen fehlten, oder?
Anfang November lud der Hausherr oft zu einer Treibjagd. Auch Meriel war schon zusammen mit Vater und Bruder und fast allen anderen Einwohnern von Stonebridge durch den Wald und die Hecken gezogen und hatte Tiere mit Schreien und Pfiffen den Jägern zugetrieben. Die Pfade hatte sie sich gut eingeprägt.
Meriel machte an einigen Eichen halt und sammelte Eicheln, denn so hätte sie eine Ausrede, falls sie erwischt wurde. Menschen, die so arm waren, dass sie Eichelbrei essen mussten, würden doch sicher nicht von ihnen angezeigt werden, oder? Von den Vaughans hatte bestimmt noch niemand den bitteren Brei gekostet.
Meriel hingegen aß ihn fast jeden Winter. Dazu wurden die Nüsse getrocknet und zerrieben. Den Brei wässerte man, um ihn weniger bitter zu machen. Sie verzog bei der Erinnerung an den Geschmack den Mund.
Nun war der Boden ihres Leinensacks bedeckt und die Schlingen darunter nicht mehr sichtbar.
Dort! Eine Bewegung! Auf einer kleinen Kuppe, nahe an einem Haselgebüsch gelegen, hockten gleich mehrere Kaninchen und fraßen vom taubedeckten Gras. Meriel schlich näher, blieb stehen, wenn die Tiere lauschend die Ohren hoben, dann schlich sie wieder ein Stück weiter. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Überall auf der Kuppe waren große Ein- und Ausgänge. Vielleicht bestand diese Kaninchenburg schon seit Jahrzehnten. Es musste Dutzende Tiere geben, wenn nicht mehr.
Schließlich flüchteten die Tiere. Schnell wählte Meriel vier Tunneleingänge aus und befestigte die Schlingen tief in den Gängen, sodass sie nicht zufällig entdeckt werden konnten. Dann hieß es warten.
Sie suchte sich ein Versteck, zehn Schritt entfernt. Dort hockte sie sich hin, wickelte sich fest in ihren graugrünen Filzmantel, der an vielen Stellen verschlissen war, und lauschte.
Langsam zog der Mond über das Firmament. Sternschnuppen huschten vorbei, und auf den Gräsern bildete sich Reif. Meriel konnte den Eiskristallen beim Wachsen zusehen. Ihre Aufregung schwand, niemand würde um diese Uhrzeit zufällig hier vorbeikommen und sie bemerken. Sie war sicher. Mit dem Gefühl von Sicherheit kehrte die Müdigkeit zurück, und sie nickte ein.
Ein Rascheln ließ sie auffahren. Es kam aus dem Bau. Mehr stolpernd als rennend lief sie zu ihrem Fang. Ein Kaninchen quiekte. Es hatte sich in der Schlinge verfangen und zerrte panisch daran. Meriel löste den Pflock, mit dem sie ihre Falle im Boden befestigt hatte, und zog ihre Beute heraus. Mit einer schnellen Bewegung brach sie dem Tier das Genick und stopfte es in ihren Beutel. Die Falle legte sie erneut aus, aber sie würde nicht länger hier warten, sondern in der folgenden Nacht zurückkehren.
Mit einem Hochgefühl im Herzen trat sie den Heimweg an. Dies war ein perfekter Ort, um einen Wintervorrat zusammenzubekommen!
***
Drei Tage später
Trevor hatte den Vormittag damit zugebracht, Mathematik, Latein und Griechisch zu lernen. Nun summte ihm der Kopf von all den Vokabeln und Formeln.
Sein Lehrer war endlich fort, und auch er sehnte sich danach, das Anwesen zu verlassen. In den vergangenen Tagen war das Wetter regnerisch und kühl gewesen und Trevor ans Haus gefesselt. Seine Mutter wünschte ihn meist in ihrer Nähe, seit der Vater geschäftlich unterwegs war und der Bruder zurück zum Studium in der Stadt.
Heute würde er der aufdringlichen Fürsorge entfliehen, das hatte er sich fest vorgenommen. Trevor rüstete sich in der Küche mit Proviant aus, dann machte er sich auf in die Stallungen. Er sattelte seine Stute, befreite seine beiden Windhunde aus dem Zwinger und nahm auch zwei Frettchen mit. Die Kiste mit den kleinen Wieseln und die restliche Ausrüstung fanden ebenfalls Platz auf dem Pferderücken.
Der Stallknecht wünschte ihm eine erfolgreiche Jagd, Trevor stieg in den Sattel und ritt davon. Endlich!
Als die Außenmauern des weitläufigen Gartens hinter ihm lagen, fühlte er sich endlich frei. Er reckte die Arme zu den Seiten, während sein Pferd in ruhigem Galopp dahin lief. Die Hunde jagten einander in wildem Spiel über Stock und Stein.
Trevor wusste schon genau, wohin er wollte. Er kannte alle größeren Karnickelbauten auf dem Anwesen, und der Onkel hatte ihn gebeten, einen bestimmten zu bejagen, da die vielen Tunnel bereits die Mauer der Weide zum Absacken brachten. Trevor war es nur recht. Auch wenn Vater und Bruder seine Freude an dieser Form der Jagd belächelten, hielt ihn das nicht davon ab. Mit Frettchen zu jagen galt als Sport der einfachen Leute, aber ihm gefiel die Zusammenarbeit der verschiedenen Tiere.
Schließlich erreichte er den Bau, band sein Pferd so an, dass es grasen konnte, und machte sich an die Arbeit. Er sah sofort, dass er nicht genug Netze dabei hatte, um alle Ausgänge des gewaltigen Tunnelsystems zu verschließen. Also würden die Hunde viel zu tun bekommen. Die beiden Windhunde saßen mittlerweile still im Gras und beobachteten ihn aufmerksam bei der Arbeit. Sie schienen zu ahnen, dass sie ihre Kräfte noch brauchen würden.
Als Trevor alle Netze mit Pflöcken befestigt hatte, holte er die Frettchen. Die beiden Tiere waren handzahm, und er jagte schon seit zwei Jahren mit ihnen. Er redete ihnen leise zu, während er sie aus der Kiste nahm, streichelte sie, bis sie sich wieder an ihn gewöhnt hatten, und setzte sie dann vor zwei unverschlossene Ausgänge. Sofort nahmen die Frettchen Witterung auf und verschwanden in den Tunneln.
Dann geschah eine ganze Zeit lang nichts.
Trevor stand mittig vor dem Bausystem, während die Hunde auf leisen Pfoten umherschlichen. Im Gegensatz zu ihm konnten sie die Frettchen und ihre Beute unter der Erde hören. Er beobachtete die Hunde, ihre vor Aufregung zitternden Flanken, den Glanz in ihren Augen, woran er Freude festzumachen glaubte.
Sicher waren sie genauso froh, der Enge des Zwingers zu entkommen, wie er den Mauern seines Elternhauses. Es war, als löse sich eine Kette von seiner Brust. Seit er mit dem blauen Auge heimgekommen war, hatte Mutter Bridget ihn kaum noch allein gelassen. Ihre stete Sorge spannte sich wie eine Kuppel über ihn, engte ihn ein und zwang ihn in ewig gleiche Bahnen. Seit Tante Margret zu Gast war, wurde er sogar von beiden Glucken verhätschelt.
Diesen Nachmittag hatte er sich davongestohlen. Nur einen knappen Brief hatte er zurückgelassen, dass er das Abendessen vermutlich ausfallen lassen würde.
Die Hunde erstarrten in ihren Bewegungen, und aus Trevors Kopf schwand jeder überflüssige Gedanke. Dann ging alles ganz schnell. Ein graubrauner Schemen schnellte aus dem Bau. Beide Hunde nahmen die Verfolgung des Kaninchens auf, hetzten es in irrsinnigen Zickzacklinien über das Feld. Dann fasste die schwarz-weiße Hündin Bell zu. Trevor pfiff, und die Hunde rannten zu ihm zurück.
„Brave Bell“, lobte er, nahm der Hündin die Beute ab und brach dem Kaninchen das Genick.
Bevor sie zur Ruhe kamen, schoss das nächste Tier aus dem Bau, an der Pfote hing das weiße Frettchen und ließ sich mitschleifen. Trevor war sofort da. Die Hunde hetzten bereits dem dritten hinterher.
Onkel Samuel hatte recht gehabt, dies war ein lohnender Ort. Es waren so viele Nager hier, dass sie die Weide nicht mehr für die Pferde nutzen konnten, die sich wegen der Tunnel und Gänge schnell die Beine brechen könnten. Trevor würde noch einige Male wiederkommen, bis der Bestand dezimiert war, dann würde er die Tunnel verschließen und die eingebrochene Findlingsmauer wieder aufrichten. Vater würde sicher wollen, dass es der Stallknecht und einige Helfer erledigten, doch Trevor gefiel die Vorstellung, etwas Sinnvolles zu tun. Eine Arbeit, deren Ergebnis er sehen und berühren konnte, wie eine Mauer aus Feldsteinen. Am liebsten hätte er jetzt schon angefangen, doch damit hätte er die Jagd verdorben.
Eine Bewegung gleich vor ihm. Ein Kaninchen floh aus einem der Tunnel, die er mit einem Netz abgedeckt hatte, und verfing sich darin. Mit zwei Sätzen war er da, schneller noch als die Hunde, und einen Augenblick später war es tot.
Trevor strich mit leisem Bedauern über das seidige Fell, das den warmen Körper umhüllte. Ihm tat es leid um jedes Tier, das er tötete. Doch hier kam das Ende schnell. Es war nicht wie bei den Fuchs- oder Hirschhatzen, die sein Bruder so liebte. An ihnen hatte Trevor nie Freude gefunden, auch wenn es natürlich immer ein Ereignis war, in großer Gruppe auszureiten und mit den Pferden über Stock und Stein zu galoppieren und so manches Hindernis im Sprung zu überwinden. Das gefiel ihm, doch der Anblick der Hunde, die schließlich die noch lebende Beute in Stücke rissen, stieß ihn ab.
Am späten Nachmittag war es Zeit aufzubrechen. Die Hunde waren unkonzentriert und müde geworden. Die gescheckte Bell lag ausgestreckt auf der Seite und hechelte.
Die Beute konnte sich sehen lassen. Neun Kaninchen verstaute Trevor auf dem Pferd, er sammelte seine Netze ein und versuchte die Frettchen mit abgeschnittenen Kaninchenpfoten zu locken. Das wildfarbene kam schließlich heraus und zerrte ein totes Beutetier mit sich. Das weiße Frettchen blieb verschollen.
Er versuchte es mit den Hunden, die schließlich vor einem bestimmten Eingang anschlugen. Trevor legte sich flach auf den Boden und lugte hinein, aber er sah nichts. Er musste also graben. Mit dem Spaten arbeitete er sich eine Armlänge tiefer hinein und hoffte, dass der kleine Marder sich nicht weiter nach unten in den Bau absetzte. Der weiße war eigentlich immer der zahmere von beiden. Aber auch ihm war zuzutrauen, dass er seine Beute lieber für sich behielt und in der Sicherheit des Baus auffraß.
Schließlich legte er sich auf den Bauch und streckte den Arm in den Bau. Fell. Dort war Fell. Er wusste sofort, dass der erschlaffte, schon ausgekühlte kleine Körper nicht der eines Kaninchens war.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, dann fasste er zu und zog das Frettchen zu sich. Als er ihn fast draußen hatte, ging es nicht mehr weiter, er hing fest. Schnell fand er den Grund. Um den Hals lag eine Schlinge, die sich fest zugezogen hatte. Er riss sie aus der Verankerung und zerrte seinen toten kleinen Jagdgefährten heraus. Dann spülte eisige Wut durch seine Adern.
Ein Wilderer!
Hastig verwischte Trevor seine Spuren. Schaufelte die Erde zurück und klopfte sie fest, dann brach er auf. Er musste die Hunde heimbringen und die Beute, dann würde er zurückkehren und diesem Mistkerl auflauern!
***
Nieselregen trübte die Nachtschwärze zu diffusem Grau. Meriel konnte kaum etwas sehen, doch mittlerweile kannte sie die Schleichwege und Pfade ihres kleinen Reviers so gut, dass sie kein Licht mehr brauchte. In den vergangenen Tagen war sie fast jede Nacht losgezogen, um ihre Fallen zu kontrollieren, und nicht ein einziges Mal war ihr in der ganzen Zeit ein Mensch begegnet. Nicht einmal von Weitem hatte sie jemanden gesehen.
Obwohl Frost in der Luft lag, waren ihre Füße und Hände angenehm warm. Sie hatte für sich und ihre Geschwister warme Füßlinge und Handschuhe aus Kaninchenfell genäht. Auch Mutter hatte welche bekommen, so würde sie nicht mehr so frieren müssen. Meriel benötigte nur noch zwei Felle, dann hätte sie genug für die Decke, die sie für den Säugling machen wollte. Seit sie jagte, hatte sich etwas in ihr verändert. Sie war stolz auf sich, fühlte sich, als könne sie endlich etwas zum Wohl der Familie beitragen. Schon überlegte sie, ob sie sich auch an größeres Wild heranwagen sollte. Ein junges Reh vielleicht.
Doch warum ein solches Risiko eingehen, wenn es auch die kleineren Tiere taten? Die Kaninchen auf den Ländereien der Familie Vaughan waren derart zahlreich, dass sie damit das halbe Dorf über den Winter bringen könnte, sie musste sie nur erwischen.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand sie ihren Weg durch Hecken und über Steinmauern, bis endlich ihr Fangplatz in Sicht kam. Dort, wo sonst nur Rinder grasten, fraß nun auch ein Pferd und hob bei ihrer Ankunft kurz den Kopf. Auf Meriels Haut breitete sich ein nervöses Kribbeln aus. Alles sah aus wie immer, dennoch schlugen ihre Sinne Alarm.
Fast wäre sie umgekehrt, doch sie zwang sich zu bleiben, die Gegend zu beobachten. Es war still, kein Nachtvogel sang, es raschelte nirgends, nicht einmal Wind gab es, um durch die kahlen Baumkronen zu streifen.
Auf den Wiesen stand unbewegt der Nebel.
Meriel kauerte in ihrem Versteck, einem Gebüsch am Rand der Wiese, und wartete ab. Als eine Weile lang nichts geschah, schwand auch ihre Nervosität. Sie hatte sich genau gemerkt, in welchen drei Gängen sie ihre Schlingen ausgelegt hatte. Die wechselte sie oft ab, damit die Kaninchen keinen Verdacht schöpften. So still, wie es war, musste sie eines gefangen haben, und die anderen trauten sich nicht mehr heraus.
Sie kontrollierte die erste Schlinge. Sie war nicht mehr da. Ein Ende ragte ihr zernagt entgegen. Meriel fluchte leise. Dann sah sie die vielen Pfotenabdrücke auf dem Boden. Von der Größe her passten sie zu einem Fuchs. Vielleicht hatte er ihr die Beute streitig gemacht.
Am zweiten Tunneleingang stockte sie. Dort war etwas an ihrer Schlinge, aber es war kein Kaninchen.
Was war das? Sie musste sich tief in den Gang beugen, die Wange auf die Erde drücken, um es zu erreichen. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt.
Sie fühlte eine Erschütterung in der Erde, dann sah sie einen Schemen. Im nächsten Moment raste eine Faust auf ihr Gesicht zu.
***
Trevor hatte ihr mit ihrer eigenen Schlinge die Hände gefesselt. Nun hockte er neben dem Mädchen und stierte es an. Sie hatte ein schmales, ernstes Gesicht. Auch jetzt stand zwischen ihren Brauen eine dünne Falte, als sei sie besorgt. Oder als habe sie Schmerzen, an denen ich schuld bin. Warum wacht sie nicht auf? Ich hätte sie nicht so hart schlagen dürfen. Verdammt, ich hätte sie überhaupt nicht schlagen sollen!, dachte er.
Trevor hatte die Pferdedecke über sie gebreitet, nachdem sie ohnmächtig geblieben war. Nun hockte er schon seit einer Weile im Dunklen neben ihr, und seine Sorge wuchs stetig. An ihrer Schläfe hatte sich eine Schwellung gebildet, die sich heiß anfühlte. Aus seinen Satteltaschen hatte er eine kleine Laterne geholt und angezündet. In deren unstetem Schein konnte er die Wilddiebin nun besser erkennen. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, der weit über ihren Filzmantel reichte. Aus ihren abgetragenen Stiefeln ragte Kaninchenfell. Als er sie zur Seite getragen hatte, war er verwundert gewesen, wie leicht sie war. Spitz bohrten sich ihre Knochen in seine Arme. Es bestand kein Zweifel daran, warum sie wilderte. Es war der Hunger.
Trevor hatte es nachdenklich gestimmt. Er musste an die stets volle Tafel bei seinen Eltern denken. Daran, wie oft er Essen zurück in die Küche schickte, weil es ihm nicht schmeckte oder er einfach zu satt war. Die vielen Kaninchen, die er am Nachmittag der Köchin übergeben hatte, wurden dort nicht gebraucht, dieses Mädchen aber …
Er wüsste gerne mehr von ihr. Sie war auf eine raue Art hübsch. Ihre Augen waren groß, wenngleich sie nun geschlossen waren, sie hatte eine hohe Stirn, und ihr Kinn wirkte ein klein wenig zu kräftig für eine Frau, was ihr etwas Entschlossenes verlieh.
Er malte sich aus, einen Arzt kommen zu lassen und ihm erklären zu müssen, warum das Mädchen diese große Schwellung am Kopf hatte. Nein, so weit durfte es nicht kommen.
„He, du, wach doch auf“, sagte er leise und berührte sie an der Schulter. Regte sie sich? Hatten sich ihre langen Wimpern bewegt? Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und ringelten sich auf ihrer Stirn. „Wach auf, bitte!“
Meriel fühlte sich, als habe sich der Erdboden aufgetan und sie verschlungen. Es war kalt und still, und es roch nach Pferdeschweiß.
Irritiert kreisten ihre Gedanken um diesen Eindruck. Dann drang eine fremde Stimme an ihr Ohr. Jemand wollte, dass sie aufwachte. Es war eine männliche Stimme, und in ihr schwang ein Hauch von Angst mit.
Meriel blinzelte. Am Rand ihres Sichtfeldes war etwas Helles. Ein Lichtschein. Tuckernder Schmerz in ihrer Schläfe. Sie wollte die Hand heben, um die Stelle zu berühren, da merkte sie, dass sie gefesselt war. Die Augen aufreißend, war sie mit einem Schlag hellwach.
Sie war erwischt worden. Jetzt würde man sie für ihre Wilderei in ein Gefängnis stecken! Hoffentlich fanden sie die Vorräte daheim nicht.
Meriel bezwang den Drang zu schreien, der sich in ihrer Brust breitmachte. Wenn sie befolgte, was ihre Häscher sagten, würden sie womöglich weniger rabiat mit ihr umspringen. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie den jungen Mann ansah, der neben ihr kauerte.
Er sah ganz und gar nicht aus, wie Meriel sich einen Gesetzeshüter vorstellte. Sein Gesicht war jung, sehr jung. Er war nicht viel älter als sie selbst.
„Ein Segen, du bist wach“, sagte er, und seine angespannten Schultern sanken ab, als er mit deutlicher Erleichterung ausatmete. „Glaub mir, ich wollte dich nicht so hart schlagen, eigentlich wollte ich dich überhaupt nicht schlagen, wenn ich gewusst hätte, dass du ein Mädchen bist.“
Nein, er klingt ganz und gar nicht wie jemand, der mich ins Gefängnis werfen will, dachte Meriel erleichtert, bis ihr wieder klar wurde, dass er sie gefesselt hatte. Sie sollte sich nicht zu viele Hoffnungen machen.
„Ich, ich wollte nicht …“, stotterte Meriel und wusste eigentlich gar nicht so recht, was sie sagen sollte. Denn es stimmte nicht, sie hatte die Kaninchen fangen wollen, und es war ihr klar gewesen, dass es verboten war.
Der junge Mann nahm ihren Leinenbeutel und schob den Arm hinein. Sie konnte die Eicheln hören, die sie auch dieses Mal als Tarnung mitgenommen hatte. Sein Blick verfinsterte sich, als er mehrere Schlingen herauszog. „Die gehören dir?“, fragte er feststellend.
Meriel nickte, leugnen schien ihr nicht klug.
„Wer bist du?“
„Niemand“, sagte sie schnell.
Seine Mundwinkel zuckten nach oben, und sie ahnte, dass er nur selten lachte. „Ich bin Trevor“, sagte er, „und mit deiner Schlinge hast du heute mein Frettchen umgebracht, mit dem ich schon seit zwei Jahren auf Baujagden gehe.“
„Mit einem Frettchen?“, fragte sie irritiert und schöpfte sofort Hoffnung. Vielleicht durfte auch er eigentlich nicht hier sein.
„Es tut mir leid, dass ich dein Tier getötet habe, das wollte ich nicht.“
Er merkte wohl, dass sie es ernst meinte, denn er sah sie etwas freundlicher an. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Deine Hände, streck sie her.“
Meriel tat, was er sagte, und in ihrer Brust machte sich Hoffnung breit. Er würde sie gehen lassen. Am liebsten würde sie davonlaufen, sobald er die Fesseln löste, einfach in die Nacht rennen und sich irgendwo verstecken.
Er machte sich an dem Knoten zu schaffen, dann hielt er inne und suchte ihren Blick. „Verrate mir zuerst deinen Namen.“
„Warum? Was tut das zur Sache? Wir dürften doch beide nicht hier sein.“
„Ich habe dir meinen auch genannt.“
Meriel zögerte, dann gab sie ihren Vornamen preis.
Die Fesseln fielen, sie wollte aufspringen und plumpste sofort wieder auf ihren Hintern, weil ihr schwindelig wurde. In ihrer Schläfe pochte es, sie drückte die Hand darauf und verzog das Gesicht.
Trevor sah geniert zu Boden und rollte sehr sorgfältig die Schlinge auf, mit der er sie gefesselt hatte. Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, war wie ein bleiernes Gewicht. Sie hatten beide Unrecht getan.
„Soll ich dir helfen?“, fragte er schließlich und wartete nicht ab. Vorsichtig fasste er ihr unter die Arme und half ihr auf.
Meriel wurde einen Moment lang schwarz vor Augen, dann wurde es nach und nach besser. Sie hätte ihn gerne weggeschickt, aber wie es schien, brauchte sie ihn. „Meine Sachen …“
Er hob den Leinensack auf und verstaute auch die Schlinge darin, dann schulterte er ihn und legte ihr den anderen Arm um die Mitte. „Wo müssen wir lang?“
Sie wies ihm den Weg durch die Dornenhecke und überlegte fieberhaft, wie sie es bewerkstelligen konnte, dass er nicht herausfand, wo sie wohnte. Niemand sollte ihre Familie mit Wilderei in Verbindung bringen, und sei es auch nur ein Landstreicher und anderer Wilddieb. Diesen Jagdplatz musste sie fortan wohl auch meiden. Obwohl ihr Kopf wehtat, sprangen ihre Gedanken von einer Frage zur nächsten.
Konnte sie diesem jungen Mann trauen? Ihr Bauchgefühl sagte, sie könne es. Aber was, wenn es sie trog? Wenn es nur daran lag, dass er sich nicht benahm wie die Jungs auf den Dorffesten? Trevor hatte zwar den Arm um ihre Mitte gelegt, weil ihre Knie sich noch immer anfühlten wie Pudding, aber er versuchte nicht, sie unsittlich zu berühren. Weder zog er sie enger an sich als nötig, noch fasste er ihr an den Hintern, was wohl die meisten mittlerweile versucht hätten. Sie hatte Trevor noch nie in Stonebridge gesehen. Einer wie er wäre ihr sicher aufgefallen. Wer war er? Nur ein Landstreicher, dessen Weg zufällig durch diese Gegend führte? Für einen Rumtreiber war er recht gut gekleidet. Also musste seine Art zu wildern erfolgreicher sein als ihre.
„Wie viele Kaninchen fängst du, wenn dir ein Frettchen dabei hilft?“, fragte sie schließlich.
„Mit zwei Frettchen und zwei Hunden an einem guten Bau bis zu zehn im Schnitt.“
Meriel blieb abrupt stehen. „So viele?“
Er nickte lachend und wurde dann mit einem Schlag wieder ernst. „Jetzt habe ich einen Helfer weniger.“
„Ich habe schon gesagt, dass es mir leidtut. Als Wiedergutmachung könnte ich mithelfen.“
Trevor sah sie erstaunt an, doch Meriel gab nicht so leicht auf. „Du hättest genauso wenig dort sein dürfen wie ich.“
Er antwortete verzögert, als müsse er kurz darüber nachdenken. „In gewisser Weise stimmt das sogar.“
„Also, zeigst du mir, wie es geht?“
***