Читать книгу Unter dem Kauribaum - Rebecca Maly - Страница 7

KAPITEL 2

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Mit einer erstklassigen Lupe ausgerüstet, beugte sich Trevor ganz dicht über die Flechte. Das sonst unscheinbare graugrüne Gewächs, das die Steine der Findlingsmauer überzog, hatte Fruchtkörper ausgebildet. Unter dem Vergrößerungsglas konnte er ganz genau die Form erkennen. Sie sahen aus wie winzige Trompeten mit einem Kranz blutroter Körnchen.

Mit einem kleinen Messer trennte er vorsichtig ein Stückchen Flechte vom felsigen Untergrund. Trevor war derart vertieft in seine Entdeckung, dass er die sich nähernden Schritte viel zu spät bemerkte. Er zuckte erschrocken zusammen und wollte sich umdrehen, als etwas durch die Luft sauste. Abwehrend hob er die Hände.

Der erste, triefnasse Matschklumpen traf ihn mitten im Gesicht, der zweite schmetterte ihm die Lupe aus der Hand.

Gelächter erklang.

Die MacCoy-Brüder, Darren und George, hielten sich die Bäuche und lachten so laut und hämisch, wie sie nur konnten.

Trevor stand einen Augenblick lang nur da, die Hände zu Fäusten geballt, während ihm Schlamm von der Wange tropfte. In seiner Brust hämmerte sein Herz so sehr, dass es wehtat. Er hasste diese Kerle! Hasste sie!

Sie hatten es schon seit zwei Jahren auf ihn abgesehen. Bislang war er jeder Konfrontation aus dem Weg gegangen. Meist musste er nur abwarten, bis sie die Lust an der Quälerei verloren, dann ließen sie ihn in Ruhe.

Heftig atmend wischte sich Trevor mit einem Ärmel den Dreck aus dem Gesicht und wandte seinen Blick zum Boden. Dort, zu seinen Füßen, lag das, was von seiner Lupe übrig war. Und plötzlich veränderte sich etwas in ihm. Der Anblick des zertrümmerten Glases öffnete ein Tor, riss es auf, um seine mühsam im Zaum gehaltenen Gefühle freizulassen.

Trevor dachte nicht mehr nach. Es spielte keine Rolle, dass die anderen zu zweit waren und er allein. Es spielte keine Rolle, dass er verlieren würde.

Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf die beiden. Die Zeit schien sich zu dehnen. Er sah dem kleineren Darren an, dass er mit allem gerechnet hatte, nur nicht mit einem Angriff. Seine Augen weiteten sich erschrocken.

Trevor traf ihn mit der Faust an der Wange, als George ihn auch schon an der Jacke vom Jüngeren wegzog und ihm das Knie in den Bauch rammte.

***

Als Trevor aufstand, waren die anderen längst fort. Seine Kleidung war schlammverkrustet und zerrissen, von seinem Kinn rann noch immer etwas Blut, wo er beim Sturz auf einen Stein geschlagen war.

Schwankend strich er Hose und Jacke glatt, betastete sein Gesicht. Es tat weh. Sein Auge war geschwollen, und er konnte nur noch schemenhaft sehen. Trevor fluchte, was er sonst nie tat, und sah sich um, ob die MacCoys wirklich abgehauen waren. Sie hatten ihn ordentlich verprügelt, aber wenigstens hatten sie auch etwas einstecken müssen. Beim nächsten Mal überlegten sie es sich vielleicht zweimal.

Trevor kniete sich auf den Boden und sammelte sein kleines Messer und die Stücke der zerbrochenen Lupe ein. An einem der Splitter schnitt er sich in die Handfläche. Es brannte teuflisch.

Die Hand zur Faust geballt, damit der Schnitt geschlossen blieb, machte er sich auf den Heimweg.

Es war früher Nachmittag, als Trevor schlurfenden Schrittes den weiten Innenhof erreichte. Rechts von ihm erstreckten sich die Stallungen, in dem der Vater seine edlen Pferde hielt und wo überdacht zwei gute Kutschen standen. Hinter den Stallungen wurde Hundegebell laut, ein Chor von sechs verschiedenen Tieren. Bell und Ann hörte Trevor aus dem Stimmgewirr heraus. Sie gehörten ihm, sehnige Windhunde mit schmalen Pfoten, einer langen Schnauze und großen, intelligenten Augen.

Er wollte schon zu ihnen gehen, als ihm der Schimmel auffiel, der auf einer kleinen Weide graste. Und dann erinnerte er sich wieder. Für heute hatte sich sein Bruder zum Besuch angekündigt, und er hatte es vergessen. Morgan studierte in London Rechtswissenschaften und kam nur wenige Tage im Jahr hierher. Eigentlich hatte er sich auf den Besuch gefreut, auch wenn Morgan ein schlimmer Besserwisser war.

Unschlüssig blieb Trevor stehen und sah das Wohnhaus hinauf. Es war ein prächtiger Backsteinbau mit hohen Fenstern und Verzierungen aus Sandstein, die grau und verwittert waren. Obwohl es sein Zuhause war, kam ihm das Gemäuer düster und auch ein wenig einschüchternd vor, besonders an Tagen wie diesem, wenn am Himmel schwere Wolken zogen und die Hügel und Bäume aussehen ließen, als wären sie aus Zinn gegossen.

Er blickte an sich hinab. Auf der Hose war an den Knien der Schlamm getrocknet, sein zerrissener Ärmel schlackerte in einer Windbö um sein Handgelenk. Nein, so konnte er nicht an der festlich gedeckten Tafel seiner Eltern erscheinen.

Er schlug einen anderen Weg ein. Vorbei an Haupthaus und Stall, folgte er verlegten Sandsteinplatten. Sie führten zu einem kleinen Häuschen, das ursprünglich für den Verwalter des Anwesens errichtet worden war. Einen Verwalter gab es längst nicht mehr, dafür wohnte dort nun Onkel Samuel, der unverheiratete Bruder seines Vaters. In der Familie hielten ihn viele für einen seltsamen Kauz, dabei war er einer der angesehensten Gartenarchitekten des Königreichs.

Manchmal fühlte sich Trevor ihm verwandter als seinen eigenen Eltern.

Als kleiner Junge war er ihm hinterhergelaufen. Alles, was der große Mann tat, faszinierte ihn. Bei Onkel Samuel gab es immer etwas zu entdecken. Sei es in seinem Gewächshaus, das im Winter sogar beheizt wurde, oder in den Beeten, wo er exotische Pflanzen kultivierte, die er von seinen weiten Reisen mitbrachte.

Trevor hatte die Tür erreicht und blieb stehen. Das Haus bestand aus Fachwerk, das auf einem breiten Sockel aus Feldsteinen errichtet worden war. Wilder Wein rankte eine Wand hinauf, unauffällig, aber sorgsam beschnitten. Onkel Samuel ließ keine Pflanze und keinen Baum einfach wachsen, bei ihm hatte alles seine Ordnung und vermittelte dabei doch so viel Natürlichkeit wie auf einem Gemälde eines guten Landschaftsmalers.

Trevor atmete tief durch und klopfte. Mittlerweile tuckerte und schmerzte es an immer mehr Stellen seines Körpers. Die Jungs hatten ihn wirklich ordentlich erwischt. Es würde unmöglich zu verbergen sein, dass er sich geprügelt hatte.

Schritte wurden laut, und dann öffnete Onkel Samuel auch schon die Tür. Er war ein großer Mann mit schütterem, ergrauendem Haar; ein üppiger rotblonder Bart bedeckte seine Wangen.

„Sag meiner Schwägerin, ich bin in ein paar Minuten da. Wenn sie nicht warten kann, sollen sie ohne mich Tee trinken, ich …“ Er stockte. Seine üppigen Brauen zogen sich zusammen, und er musterte Trevor aus nachdenklichen grau-grünen Augen. „Wie siehst du denn aus?“

Trevor ließ die Schultern hängen. „So kann ich Mutter nicht unter die Augen kommen.“

Onkel Samuel fasste ihn an der Schulter und zog ihn hinein. „Nein, das kannst du wirklich nicht, Bürschchen. Geh dich waschen, ich kümmere mich um den Rest.“ Er zog Trevor ins Haus und ließ ihn im Flur allein zurück, noch bevor er etwas erwidern konnte.

Trevor zog seine verschlammten Schuhe aus und folgte glatt polierten, dunklen Dielen durch den Flur. An den Wänden hingen botanische Zeichnungen und Skizzen. Die meisten hatte Onkel Samuel selbst angefertigt, andere waren ihm zu Studienzwecken von anderen Gartenarchitekten überlassen worden. Trevor überkam immer etwas Ehrfurcht, wenn er sie betrachtete.

Im Badezimmer angekommen, offenbarte der Spiegel das ganze Ausmaß der Prügelei. Trevor lehnte sich vor und musterte sein zugeschwollenes Auge mit der geplatzten Braue, selbst der Augapfel war gerötet, doch das war nur zu erkennen, wenn er mit den Fingern die geschwollenen Lider auseinanderzog.

Er goss Wasser in eine Waschschüssel, zog auch Jacke und Hemd aus und wusch sich gründlich. Als er mit einem Lappen voller Seife sein Gesicht abrieb, brannte es an vielen Stellen, die er vorher gar nicht bemerkt hatte. Er goss das schmutzige Wasser aus dem Fenster und füllte die Schüssel erneut. Dieses Mal tupfte er nur die Verletzungen vorsichtig ab, darauf bedacht, die Blutungen zu stillen. Er strich sich das Haar zurück. Nass sah es nicht mehr braun, sondern fast schwarz aus. Der rötliche Schimmer, den er und sein Bruder von Vaters Seite vererbt bekommen hatten, war nicht zu sehen.

Trevor fühlte sich etwas besser. Er setzte sich auf einen Hocker und drückte sich ein kühles Tuch auf das geschwollene Auge, als sein Onkel mit einem Bündel unter dem Arm zurückkehrte. Die Tür zum Bad hatte Trevor offen stehen lassen, und so kam er direkt zu ihm.

„Es war gar nicht so leicht, deiner Frau Mutter aus dem Weg zu gehen. Aber ich denke, die Haushälterin hat mir das Richtige mitgegeben.“

„Danke, Onkel, das werde ich Ihnen nicht so bald wiedergutmachen können.“

„Ach, Junge, mach dir da mal keine Gedanken.“ Er legte ihm die Kleidung hin und sah ihn aufmerksam an. „Wie geht es dir?“

„Besser, halb so wild“, erwiderte Trevor schnell. Hastig zog er das Hemd an und darüber eine Weste. Während er sie zuknöpfte, entdeckte Onkel Samuel die zerbrochene Lupe, von der nur noch die Fassung aus Messing übrig war.

Trevor zuckte innerlich zusammen, senkte den Blick. Vater hätte ihn nun geschlagen, doch es passierte nichts.

Der Onkel legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und ging, ohne ein Wort zu verlieren, aus dem Bad.

„Es tut mir leid!“, rief Trevor ihm nach. In seinem Inneren schien sich der Magen zu einer kleinen, festen Kugel zusammenzuballen. In diesem Moment wäre ihm sogar eine Tracht Prügel lieber gewesen als das Schweigen Onkel Samuels. Er musste zutiefst enttäuscht von ihm sein.

Am liebsten wäre Trevor aus dem Haus geschlichen, zum Pferdestall, und wäre mit den Hunden und seiner Stute losgezogen, doch das kam nicht infrage. Auch wenn er gerne weggelaufen wäre, war es nicht seine Art, feige das Feld zu räumen. Mochten die anderen ihn auch für seltsam halten, feige, das war er nicht.

„Bist du fertig?“, tönte es aus dem Flur. Trevor zog hastig die mitgebrachte, saubere Hose an, strich sich noch einmal das Haar glatt und verließ das Bad.

Onkel Samuel trug nun auch Sonntagsstaat. Einen dezent gestreiften Anzug sowie eine Weste. Seine schwarzen Schuhe glänzten frisch poliert. Den Zylinder hielt er noch in der Hand. Auf den Spazierstock, mit dem Trevor ihn sonst oft sah, wollte er anscheinend verzichten.

„Nun mach nicht so ein Gesicht, mein lieber Neffe, von einer Prügelei geht doch nicht gleich die Welt unter.“ Er hielt ihm ein ledernes Etui hin. Trevors Herz tat einen Satz. Er ahnte, was sich im Inneren befand.

„Nein, das kann ich nicht annehmen“, sagte er schnell. „Ich habe es nicht verdient.“

„Du wirst es dir verdienen. Ich habe noch zweihundert Stecklinge, die gesetzt werden müssen. Sie brauchen Sorgfalt und nicht die Grobheit des alten Esels, den dein Vater als Gärtner eingestellt hat.“

„Ja, ich mache alles, was Sie wünschen, Onkel.“

„Schon gut, lass das nicht deinen Vater hören. Er hat es nicht gerne, wenn seine Sprösslinge in der Erde wühlen wie die Bauern.“ Er lachte laut und kehlig und trat aus dem Haus.

Trevor konnte sein Glück kaum fassen. Was als Strafe oder Bezahlung gedacht war, erschien ihm wie ein Privileg. Endlich würde er selbst so arbeiten dürfen wie sein Vorbild.

„Haben sich diese MacCoy-Jungs wieder über dich lustig gemacht?“

„Ja. Ich habe zu spät gemerkt, dass sie da waren. Sie haben sich angeschlichen und dann …“

„Was dann geschah, ist unwichtig und bald wieder vergessen. Du hast doch etwas entdeckt, nicht wahr?“

Trevor nickte eifrig, er sah das Gewächs noch ganz genau vor sich. Die ledrig gekräuselten Blättchen und die roten Fruchtkörper. „Es war eine Flechte, die ich vorher noch nie gesehen hatte.“

„Dann werde ich dir nachher helfen, sie zu bestimmen. Flechten sind besonders interessante Gewächse. Pflanze und Pilz zugleich. Sie verdienen unser Studium. Bis dahin bewahre Schweigen über deinen Fund.“ Er legte ihm die Hand auf die Schulter, dann betraten sie gemeinsam das Herrenhaus.

Im Flur kam ihnen die Haushälterin Rosie mit hektischen Trippelschritten entgegen. Sie war eine hagere Frau Anfang Fünfzig, die sich mit Leib und Seele für die Ordnung im Haus der Familie Vaughan einsetzte. Trevor hatte sie noch nie beim Müßiggang erlebt. Als Kind war Fräulein Rosie ihm geradezu unheimlich vorgekommen. Sie schlief nie.

„Da sind Sie ja endlich. Die Herrschaften erwarten Sie schon.“

„Wir eilen, Fräulein“, sagte Onkel Samuel und legte seinen Hut ab, dann folgten sie ihr in den Speisesaal. Trevor ging etwas hinter ihm, in der Hoffnung, seine Blessuren würden so nicht gleich auffallen.

Doch es war vergebens.

Seine Eltern, die bis dahin am Tisch gesessen hatten, musterten ihn mit strenger Miene. Vaters Blick versprach, dass sein Zuspätkommen noch Folgen haben würde. Sein Bruder stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und fuhr nun herum.

„Na endlich, Brüderchen“, sagte er und war mit wenigen Schritten bei Trevor. „Na, du bist ja ein richtiger Mann geworden! Hast dich um ein Mädchen geprügelt, was?“ Er stieß ihn spielerisch vor die Brust und traf dabei genau auf eine Prellung.

Der Schmerz nahm Trevor einen Moment lang den Atem. Er presste die Zähne aufeinander, wollte sich nichts anmerken lassen. Morgan zwinkerte ihm zu, natürlich hatte er ihn durchschaut. Dann zog er ihn an sich und drückte ihn. Überrascht stellte Trevor fest, dass sein Bruder ihn nicht mehr um einen, sondern nur noch um einen halben Kopf überragte. Dennoch war Morgan ungleich stärker als er. An der Universität war er einem Ringerclub beigetreten, und scheinbar hatte er seine Begeisterung für die sportliche Ertüchtigung auch nach zwei Jahren noch nicht verloren.

Trevor überlegte gerade, ob er ihn darum bitten konnte, ihm einige Tricks und Kniffe beizubringen, als seine Mutter zu ihnen trat. Sie war eine üppige Frau, deren Wangen stets rosig schimmerten. Ihre langsam, aber stetig wachsende Leibesfülle ließ sie jünger aussehen. Während andere Damen ihres Alters über eingefallene Wangen und Falten klagten, zog sie umso mehr die Blicke der Männer auf sich. Nun schimmerten Tränen in ihren Augen.

„Mein armer, armer Junge! Was haben die dir nur angetan?“ Vorsichtig strich sie ihm über die Wange.

„Es ist nichts“, wiegelte er schnell ab.

Jetzt war auch der Vater da, und in Trevor spannte sich alles an. Der Hausherr war ein kühler Mann, der seinen Gefühlen nur selten freien Lauf ließ.

„Lass ihn, Bridget, er ist kein kleiner Bengel mehr. Es ist nicht gut für ihn, wenn du ihn verhätschelst. Mich interessiert nur eines: Hast du gewonnen?“

Trevor wusste, dass er besser sagte, was der Vater hören wollte. Aber er war ein schlechter Lügner, also schüttelte er den Kopf.

Der Vater schlug ihm ohne Vorwarnung ins Gesicht. Mutter zuckte zusammen, doch Trevor rührte sich nicht. Er hatte nichts anderes erwartet.

„Das passiert nicht noch einmal“, fuhr er ihn an. „Ich habe keine Memmen gezeugt, sondern Männer. Und nun essen wir.“

Trevors Wange brannte wie Feuer, als er sich schweigend neben Morgan an die festlich gedeckte Tafel setzte.

***

Unter dem Kauribaum

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