Читать книгу Unter dem Kauribaum - Rebecca Maly - Страница 5

Prolog

Оглавление

„Los, aufstehen, ihr faulen Weibsbilder!“ Der Wärter ließ seinen Schlagstock am Zellengitter entlang rattern.

Das laute Klappern weckte auch die letzte Schlafende. Die Frauen fluchten und gähnten, während sie peinlich darauf bedacht waren, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzuraffen.

Auch Meriel überprüfte, ob alles noch da war. Das winzige Medaillon, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte, und das Beutelchen mit Handwerkszeug.

„Aufstellen!“, schrie der Wärter.

Meriel richtete sich auf und zupfte das Stroh aus ihrem Zopf.

Die Frau neben ihr begann zu zittern, sie war älter als ihre eigene Mutter und klapperdürr. Schorfige Stellen an ihrem Hals verrieten, dass die Wanzen es offenbar ganz besonders auf sie abgesehen hatten oder ihre Nachbarin dem Juckreiz nicht widerstand.

„Keine Angst“, flüsterte Meriel ihr zu, dabei fürchtete sie sich selbst, wie wohl auch die anderen achtundzwanzig Frauen, die gemeinsam mit ihr die Gefängniszelle teilten. Seit Tagen schon verkündeten die Wärter, dass sich an ihrer Situation bald etwas ändern würde. Angeblich würden die Mädchen und Frauen die Freiheit schon riechen und ihrem Leben einen Sinn geben können.

Meriel mochte dieser Behauptung kaum Glauben schenken. Hatte sie doch schon seit Wochen nichts anderes gesehen als die dreckigen Gefängniswände der fünf mal sieben Schritt großen Zelle, an denen der Kalkputz nur noch zu erahnen war.

„Sie lassen uns frei!“, rief eine junge Frau, deren Verstand gerade dazu reichte, sich ihren eigenen Namen zu merken. Weil sie einen Kanten Brot gestohlen hatte, hockte sie schon seit zwei Jahren in der Zelle. Zu ihrem Unglück war sie nicht nur dumm, sondern dabei auch recht hübsch, sodass die Wärter sie regelmäßig herausholten, um ihren Spaß mit ihr zu haben. Meriel schmierte sich mit Absicht Dreck ins Gesicht und achtete darauf, dass ihre Gestalt stets so verhüllt war, wie es nur ging, um nicht ihr Schicksal teilen zu müssen.

Nun aber wischte sie sich sauber und rieb sich die Wangen, bis sie rosig waren. Eine Abordnung von vier Gefängniswärtern und zwei Fremden kam den Gang herunter.

„In einer Reihe aufstellen!“, brüllte ein feister Wächter, dem der Schweiß das fädige Haar platt an den Kopf klebte.

Meriel gehorchte, stellte sich dicht in eine Reihe mit den anderen. Dann wurde es still. Vereinzelt schniefte jemand, eine andere weinte.

Der Wächter strich noch einmal mit dem Knüppel über das Zellengitter, dann schloss er auf und ließ die beiden Fremden eintreten. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie trug ein Klemmbrett bei sich, auf dem offenbar eine Liste steckte. Der Herr trug einen Anzug, den Hut hielt er in der Hand. Sein Gesicht war ungewöhnlich dunkel gebräunt für diese Jahreszeit und seine vornehme Erscheinung. Männer wie er verbrachten wenig Zeit unter freiem Himmel, während die einfachen Leute auf den Äckern schufteten. Er strich sich über den Schnäuzer und musterte die Häftlinge wie ein Rinderhändler auf einer Auktion das Vieh.

Gemeinsam mit seiner Begleiterin schritt er die beiden Reihen ab. Sie flüsterten, dann gaben sie ihre Entscheidungen bekannt.

„Die“, sagte der Mann und zeigte auf eine junge Frau von ungefähr achtzehn Jahren. „Und die und die und die. Du da, mach den Mund auf, zeig mir deine Zähne.“

Die Angesprochene öffnete den Mund und entblößte eine Reihe schwärzlicher Stummel. Der Mann schüttelte den Kopf.

Nach und nach wurden die Gefangenen ausgesucht. Sie waren alle jung und kräftig. Die ausgemergelten und älteren Frauen fanden keine Beachtung. Dann war Meriel an der Reihe. Die beiden sahen sie kaum an. Ausgewählt wurde sie trotzdem.

„Mein Herr, was geschieht mit uns?“, fragte sie, und ihre Stimme bebte in einer Mischung aus Angst und Hoffnung.

„Die fürsorgliche Krone schenkt euch ein neues Leben!“, sagte er und wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihr ab.

„Sind Sie hier fertig?“, fragte der feiste Wärter.

„Ja, sehen wir uns die anderen an.“

Es gab weitere Zellen mit weiteren Frauen, Dutzende, vielleicht Hunderte fristeten hier ihr Dasein.

Am nächsten Morgen wurden Meriel und die anderen ausgewählten Frauen früh geweckt. Durch das vergitterte Fenster fiel noch kein Licht herein, als sie zusammengetrieben und durch die Gänge gescheucht wurden. Meriel bekam einen Schlag mit dem Knüppel ab, nur weil sie die Letzte in der Gruppe war.

Schließlich erreichten sie einen kahlen, gefliesten Raum. Auf dem Boden standen mehrere Eimer mit Wasser, daneben lagen Seifenbrocken, und es roch nach Essig, der oft gegen Läuse eingesetzt wurde.

„Los, ausziehen und waschen, und zwar gründlich! Das ist das letzte Mal für die nächsten Wochen!“, brüllte ein Aufseher. Gleich sechs Wärter standen abwartend da. Sie waren gekommen, um die Frauen nackt und hilflos zu sehen und sich daran aufzugeilen.

Meriel hasste jeden Einzelnen von ihnen. Während sie sich aus ihrer dreckstarren Kleidung schälte, versuchte sie sich mit der Frage abzulenken, was es bedeutete, dass sie sich in den nächsten Wochen nicht würde waschen können. Sie hatten auch im Gefängnis selten die Möglichkeit. Meist mussten sie sich gemeinsam mit allen Frauen drei Eimer teilen. Vielleicht wurden sie verlegt in eine noch miesere Anstalt.

Sie rieb sich mit Wasser und Seife ein, schrubbte sich mit einer groben Bürste die Haut, dann tauchte sie den Kopf ein und wusch sich das Haar, erst mit Seife, dann goss sie Essig darüber und rieb ihn ein, dann wieder Seife.

Die Blicke der Wärter brannten unterdessen wie kleine Glutfunken auf ihrer Haut. Obwohl sie endlich wieder sauber war, fühlte sie sich schmutzig. Den anderen Frauen erging es nicht besser.

Als die erste ihre Kleidung nahm und in den Eimer stopfte, um auch die zu waschen, schrie ein Wärter sie an, sofort aufzuhören. Dann warf er einen prall gefüllten Sack in die Mitte. Es waren Kleider aus ungefärbtem, grobem Tuch. Die Frauen stürzten sich darauf. Es wurde gekratzt und geschrien.

Die Männer lachten und genossen das Schauspiel. Meriel beteiligte sich nicht an dem Kampf. Ihr Blick begegnete dem eines hageren, pockennarbigen Wärters. Er fasste sich in den Schritt und bewegte rhythmisch die Hüften. Seine Erektion drückte sich gegen den Stoff. Meriel verschränkte die Arme vor den Brüsten und machte einige Schritt zur Seite, sodass er sie nicht mehr sah, dann wandte sie sich dem Sack mit frischer Kleidung zu. Die Frauen hatten aufgehört zu kämpfen. Es war für jede etwas da. Einen Unterschied gab es nicht. Zu den Kleidern gab es wollene Beinlinge und Decken.

Meriel zog sich an und legte sich die Decke um die Schultern.

„Weiter, marsch, marsch!“

Erneut ging es durch Gefängnisflure, dann in den Innenhof, wo die Sonne grell vom Himmel brannte und ihr in den Augen wehtat. Der Boden war schlammig und nur in der Mitte so weit abgetrocknet, dass die Erde harte, wulstige Krusten warf.

Zwei vergitterte Wagen erwarteten sie. Die Wärter teilten sie in zwei Gruppen auf und drängten je zwölf Frauen in einen Wagen. Meriel wurde von den anderen weitergeschoben und geschubst und fand schließlich einen Platz nah am Gitter, sodass sie hinaussehen konnte.

Ein kühler Wind fegte über den Platz und erinnerte an den vergangenen Winter. Während Meriel in einer dunklen Zelle gehockt hatte, war es Frühling geworden, und am Himmel jubilierten die Drosseln und Stare.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Mutter hatte jetzt bestimmt ihr Kindlein zur Welt gebracht, und sie würde ihren kleinen Bruder oder die Schwester wohl nie sehen. Sie ahnte, dass man sie weit, weit wegbringen würde.

Die Gittertüren fielen zu und wurden verriegelt. Meriel klammerte sich mit beiden Händen an die Stäbe, um etwas Halt zu finden. Sie fühlte sich, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, und nun fiel und fiel sie bis zum Aufprall.

Der Kutscher brachte die beiden braunen Pferde mit einem Peitschenknall in Bewegung. Die Gefängnistore schwangen auf, und der Wagen rumpelte hindurch. Bald schon befanden sie sich auf einer großen Straße, die in das pulsierende Herz von Cardiff führte. In den Hafen.

Kolonnen schwer beladener Fuhrwerke transportierten die Kohle walisischer Bergwerke zu den Schiffen. Mineralisch riechender Staub lag in der Luft, und in Meriels Brust machte sich ein beklemmendes Gefühl breit.

In diese Richtung gab es kein anderes Gefängnis. Sie fuhren nach Süden, und dort gab es nur Wasser. Dort mündete der schlammfarbene Taff in das dunkelgrüne Meer.

Ihre Ahnung wurde zur Gewissheit, als die vergitterten Wagen den Hafen erreichten und sich in dem dichter werdenden Verkehr immer weiter vorarbeiteten.

Meriel stand auf, die Hände noch immer fest um die Gitterstäbe gelegt. Den schneidenden Wind, der durch ihr nasses Haar wehte und eine Gänsehaut auf ihrem Kopf hinterließ, beachtete sie gar nicht. Um sie herum erhob sich ein Wald aus Masten und eingerollten Segeln, aus Reepen, Takelwerk und Seilen. Es roch nach Fisch, Unrat und Kalfater. Hier lagen die großen Überseeschiffe vor Anker.

Matrosen eilten umher, manche schwarz wie Moorboden, andere mit schmalen Augen und fremdländischer Kleidung. Sie rollten Fässer über schmale, schwingende Planken an Bord oder betätigten Kräne und Seilwinden, mit denen Bündel verladen wurden.

„Mein Herr, mein Herr“, rief Meriel dem Kutscher zu. „Bitte erhören Sie mich!“

Der Mann wandte sich mit mürrischem Gesicht zu ihr um. „Was ist denn, Mädchen?“

„Bitte sagen Sie uns, wo wir hingebracht werden.“

Andere Frauen sprangen auf und wiederholten Meriels artig vorgetragene Frage mit wachsender Verzweiflung. „Bitte, bitte, Herr. Wohin?“

Der Kutscher spuckte aus und konzentrierte sich eine Weile auf seine Pferde, die in dem immer dichter werdenden Gedränge zunehmend nervös wurden. Eines stieg sogar, als ein Handkarren voller Hühnerkäfige ganz dicht an ihm vorbeigeschoben wurde.

Schließlich wandte er sich zu ihnen um. „Das hat man euch nicht gesagt?“

„Nein, wir wissen gar nichts.“

„Ich habe doch nur etwas Essen gestohlen, für meine Kinder, meine armen Kinder!“, rief eine.

„Nach Queensland bringen sie euch“, erwiderte der Mann, kratzte sich am Kopf und schob seine Mütze zurecht. „Arbeitslager in Queensland, und dann werdet ihr dort Ehemänner finden.“

„Ehemänner?“, rief eine andere, „aber ich bin verheiratet.“

„Sagen Sie nicht mir das, Lady, ich habe das nicht zu entscheiden.“

„Queensland“, sagte Meriel ratlos. „Davon habe ich noch nie gehört. Wo liegt das?“

„Ganz im Süden, in den Kolonien, Terra Australis, Van Diemen‘s Land, da in der Gegend. In der Südsee.“

Meriel sackte zusammen und rutschte entlang der Gitterstäbe zu Boden. In ihren Ohren war ein helles Fiepen. Sie würden sie wegbringen, ganz weit weg, und sie würde nie wieder heimkehren. Entweder auf der Überfahrt sterben oder in diesem fernen Land, von dem sie nichts wusste, außer dass es eine Wüste war, wo das Empire sich all jener Menschen entledigte, die es für überflüssig hielt: Verbrecher, Bettler und Diebe.

Niemand, der dort hingeschafft wurde, kam je zurück.

In Amerika lockten Freiheit und Gold, in Australien gab es nur den Tod.

Meriel kauerte sich zusammen und weinte so sehr wie noch nie seit ihrer Gefangennahme. Sämtliche Hoffnung auf eine baldige Freilassung war dahin. Auch die anderen Frauen trauerten, eine schrie den Namen ihres Ehemanns, andere klammerten sich nur mit weit aufgerissenen Augen aneinander.

Die Kutsche hielt von einem riesigen Schiff. Es verfügte über drei Masten, die einen Schornstein überragten. Der Bug war von Wetter und Salzwasser gegerbt. Die Ladung gelöscht, ragte es weit aus dem Wasser, und die an den Spundwänden anhaftenden Seepocken und Miesmuscheln waren der Luft ausgesetzt. Matrosen schlugen besonders dicke Verkrustungen ab. Kreischende Möwen machten sich über die Reste her.

Teilnahmslos ließ Meriel über sich ergehen, dass man ihr Eisen an die Füße legte. Eine Frau nach der anderen wurde an Bord getrieben. Das Rasseln ihrer kettenbeschwerten Schritte war weithin zu hören, doch es kümmerte niemanden.

Sie wurden an Deck versammelt. Meriel blickte unter Tränen auf die Reihe weiterer Leidensgenossinnen, die über eine Rampe hinaufstiegen. Eine junge Frau sah sich mit wilden Augen um, dann sprang sie von der Rampe ins Wasser. Das trübe Wasser des Taff verschlang sie sofort. Matrosen liefen herbei, einer stocherte mit einer langen Stange bis zum Grund, doch das Mädchen tauchte nicht mehr auf. Die schweren Ketten hatten es hinabgezogen.

Meriel fühlte keine Trauer, nur leisen Neid. Vielleicht hatte sie die bessere Wahl getroffen.

Jemand stieß sie vor die Schulter, drängte sie, weiterzugehen, hin zu einer dunklen Luke, die wie ein gieriger Rachen vor ihr klaffte. Sie sah ein letztes Mal über den Hafen und die Stadt Cardiff hinweg auf die grünen Hügel in der Ferne, dann schlurfte sie den anderen hinterher in eine ungewisse Zukunft.

***

Unter dem Kauribaum

Подняться наверх