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EINS

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Südengland, Sommer 2020

Süß rann der schwere Rotwein durch ihre Kehle. Sie leerte die Flasche bis zur Neige und ließ sie dann achtlos zu Boden fallen. Aus ihrer Jackentasche zog sie eine kleinere Flasche, schraubte mit zitternden Fingern den Deckel ab, setzte sie an die Lippen und nahm einen langen Schluck. Der Gin entfaltete schnell seine Wirkung. Sie fühlte sich leicht und beschwingt, als könne sie abheben und in den mondhellen Nachthimmel aufsteigen. Sie stand am Rand der Klippen, und der Boden unter ihren Füßen schwankte wie ein Fischerboot im Sturm. Sechzig Meter unter ihr schlug die Brandung krachend gegen die Felsen. Weit draußen auf dem Meer sah sie ein paar Lichter tanzen, vermutlich ein Frachter auf seinem Weg zu einem der Häfen an der Küste.

Sie lachte glucksend und nahm den nächsten Schluck. Wenn der Gin leer war, hatte sie für heute nichts mehr. Sie wusste, dass sie zu viel Alkohol trank, und um nicht aufzufallen, kaufte sie ihren täglichen Bedarf in verschiedenen Geschäften, jeweils nur zwei Flaschen Wein, Gin oder Brandy. Sie lebte in einer ländlichen Gegend, in der man sich zumindest vom Sehen her kannte, und wollte kein Gerede aufkommen lassen.

Vor zwei Jahren hatte der Arzt, den sie wegen stechender Schmerzen im Oberbauch konsultiert hatte, gesagt, ihre Leber sei angegriffen und sie müsse sofort mit dem Trinken aufhören.

»Ich trinke lediglich ab und zu ein Glas Wein«, hatte sie sich empört. »Das machen doch alle!«

Über den Rand seiner Brille hatte der Arzt sie skeptisch gemustert und gemeint, sie müsse ja wissen, was sie ihrer Gesundheit zumuten könne. Das Rezept über ein paar Tabletten hatte sie eingesteckt, nicht jedoch den Flyer mit den Informationen einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. Den Arzt hatte sie nie wieder aufgesucht, und die Schmerzen waren nach der Einnahme des Medikaments auch schnell verschwunden.

Sie hörte ein Geräusch hinter sich, als wäre jemand auf einen morschen Ast getreten, und wandte den Kopf.

»Wer ist da?«, lallte sie, doch außer dem Rauschen der Brandung war nichts mehr zu hören. »Ist hier jemand? Dann zeigen Sie sich!«

Ich habe mich wohl geirrt, dachte sie. Sicher war es ein Tier, vielleicht ein Kater auf der Suche nach einer willigen Gefährtin in dieser sternklaren Vollmondnacht. Sie blickte wieder über das Meer.

Wenn Sie nicht sofort mit dem Trinken aufhören, begehen Sie Selbstmord auf Raten

Die Worte des Arztes klangen in ihren Ohren wie eine Prophezeiung.

Selbstmord …

Sie bräuchte nur einen Schritt nach vorne zu machen, und alles wäre vorbei. Nicht länger nachdenken, keine quälenden Tage mehr und schlaflosen Nächte, in denen ihr nur der Alkohol half, zu vergessen.

Sie taumelte, fand wieder Halt und trat ein Stück vom Klippenrand zurück. Trotz allem hing sie an ihrem Leben, mochte es auch armselig und perspektivlos sein. Außerdem hatte sie Angst vor dem Schmerz. Was, wenn sie nicht gleich starb, sondern mit gebrochenem Rückgrat zwischen den Felsen lag und für immer gelähmt wäre oder in der Flut ertrinken würde? Sie war zu feige, ihr Leben auf diese Art zu beenden.

Feige ist nicht der, der am Leben bleibt, sondern der, der sich der Herausforderung nicht stellt …

Wieder setzte sie die Flasche an die Lippen und meinte erneut, in der Dunkelheit hinter sich ein Geräusch zu vernehmen. Sie drehte sich nicht um, straffte entschlossen die Schultern, schloss die Augen und trank, bis der letzte Tropfen Gin durch ihre Kehle gelaufen war.

Am nächsten Morgen wurde ihre Leiche am Fuß der Klippen von zwei Brüdern gefunden, die an diesen Küstenabschnitt zum Fischen gekommen waren. Noch am selben Abend vermerkte ein Beamter in der schmalen Akte abschließend »Tod durch Unfall«. In ihrem Blut waren 2,2 Promille festgestellt worden, und oben auf den Klippen hatte man die leeren Flaschen gefunden.

Die Angst der alten Dame

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