Читать книгу Die Angst der alten Dame - Rebecca Michéle - Страница 8

SECHS

Оглавление

Der junge Mann wirkte gestresst und sagte: »Es tut mir leid, Ms Flemming. Wenn es sich um keinen Notfall handelt, kann ich Sie ohne Termin nicht annehmen.« Er tippte auf der Tastatur des Computers. »Nächste Woche Donnerstag um zehn Uhr ist noch was frei.«

Sandra setzte ihr charmantes Lächeln auf, mit dem sie bei den Gästen immer Erfolg hatte. »Ich brauche nur fünf Minuten.«

Der Mann deutete in den Wartebereich des Ärztezentrums. Nahezu alle Stühle waren von Patienten belegt.

»Sie sehen doch, was heute hier los ist. Lassen Sie sich einen Termin geben.«

»Ich möchte Dr Odgers in einer privaten Angelegenheit sprechen«, erwiderte Sandra, »und bezahle privat.«

Auch dieses Argument überzeugte den Sekretär nicht, im Gegenteil. Mit unwillig gerunzelter Stirn erwiderte er: »Wir sind eine Einrichtung des staatlichen Gesundheitsdienstes. Alle Patienten werden gleichbehandelt. Wenn Sie privatärztliche Hilfe wollen, wenden Sie sich an einen dafür zuständigen Arzt.«

So schwer hatte es sich Sandra nicht vorgestellt. Sie machte einen letzten Versuch, sah dem jungen Mann tief in die Augen und raunte: »Fünf Minuten! Es ist wirklich wichtig.«

Er seufzte und schob Sandra ein Klemmbrett mit einem Formular über den Tresen. »Ach, geht’s mich was an? Sie werden sowieso keine Ruhe geben.« Ob das ständige Klingeln des Telefons oder Sandras intensiver Blick ihn mürbe gemacht hatte, konnte sie nicht einschätzen. »Stellen Sie sich aber auf eine längere Wartezeit ein, und füllen Sie die Formulare vollständig aus.«

»Ist das wirklich notwendig?«, fragte Sandra. »Ich habe nur eine Frage an Dr Odgers.«

Der Mann griff nach dem Telefonhörer und drehte Sandra den Rücken zu. Sie nahm das Klemmbrett, setzte sich auf den letzten freien Stuhl aus hartem, mokkabraunem Plastik und beantwortete wahrheitsgetreu die Fragen. Genau genommen durfte sie in der Surgery von Looe gar nicht angenommen werden, da für Lower Barton das Ärztezentrum in Lostwithiel zuständig war. Glücklicherweise musste Sandra den Dienst nur selten in Anspruch nehmen, da sie kerngesund war.

Der Zeiger der runden Wanduhr bewegte sich im Schneckentempo. Immer wieder sah Sandra auf ihr Smartphone. Auch heute hatte sich Christopher nicht gemeldet. Das ganze Wochenende über war keine Nachricht von ihm gekommen. Mehrmals war Sandra versucht gewesen, ihn anzurufen oder eine Nachricht zu schreiben, hatte es dann doch gelassen. Sie hatte keinen Fehler begangen und keine Ahnung, warum sich Christopher an jenem Abend derart gereizt und abweisend verhalten hatte. Und schließlich hatte auch sie ihren Stolz! Dass Christopher etwas bedrückte, spürte Sandra seit über einer Woche. Wenn er kein Vertrauen hatte, sie in seine Sorgen einzuweihen, würde sie nicht versuchen, in ihn zu dringen. Sandra war enttäuscht, sie hatte geglaubt, in den letzten zwei Jahren habe sich ihre Beziehung so gefestigt, dass sie dauerhaft sein könnte.

»Ms Flemming!« Sandra schreckte auf. Der junge Mann sah sie ungeduldig an. »Sie können jetzt reingehen. Ich habe Sie schon zweimal aufgerufen.«

»Äh, ja, danke …«

»Zimmer drei.«

Sandra ging durch einen schmalen Gang und trat in das Sprechzimmer mit der Nummer 3. Die Fensterfront gab den Blick auf die Mole von East Looe frei. Hinter einem modernen Schreibtisch saß eine ältere, dunkelhaarige Frau. Sandra erkannte sie aufgrund des Fotos auf der Webseite wieder, nur jetzt trug Jane Odgers eine moderne, randlose Brille, die ihr wesentlich besser stand.

»Ms Flemming, was kann ich für Sie tun?« Ihre Stimme klang so rau, als würde die Frau regelmäßig rauchen und mit kräftigem Single Malt nachspülen. »Sie leben bei Lower Barton, das ist nicht unser Zuständigkeitsbereich.«

»Mein Besuch ist privater Natur.«

»Privat?« Die Ärztin runzelte die Stirn und bat Sandra mit einer Handbewegung, sich zu setzen. »Ich habe nicht viel Zeit und wüsste nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind, Ms Flemming.«

»Es geht nicht um mich, Dr Odgers, sondern um eine gemeinsame Bekannte.« Sandra holte tief Luft und stieß hervor: »Creeda Pengelly.«

»Creeda?« Sandra hatte nun die volle Aufmerksamkeit der Ärztin. »Sie kannten Creeda Pengelly?«

Sandra war erleichtert, dass gleich ihr erster Versuch, Creedas Ärztin zu finden, erfolgreich war.

»Creeda und ich sind uns nur einmal begegnet«, erklärte Sandra. »Ihr plötzlicher Tod hat mich aber sehr überrascht.«

Die Ärztin seufzte. »Es war für uns alle ein Schock«, erwiderte sie leise. »Sam, ihr Mann, ist am Boden zerstört.«

Den Eindruck habe ich nicht, dachte Sandra und fuhr fort: »Creeda hat mir erzählt, Sie seien nicht nur ihre behandelnde Ärztin, sondern auch ihre Freundin gewesen.«

»Wir kannten uns seit der Schulzeit.«

»Woran ist Creeda denn gestorben?«

»Abgesehen davon, dass die ärztliche Schweigepflicht auch über den Tod hinaus gilt: Warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie überhaupt?« Aus zusammengekniffenen Augen musterte sie Sandra skeptisch. »Wenn Sie von der Polizei kommen: Creeda starb eines natürlichen Todes, so habe ich es auch auf dem Totenschein vermerkt. Es gibt keinen Hinweis auf ein eventuelles Fremdverschulden. So drücken Sie das doch aus, nicht wahr?«

Jane Odgers lehnte sich zurück, abwehrend verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte Sandra. »Mein Interesse an Creedas Tod ist persönlicher Natur. Creeda sagte mir, sie fühle sich durch ihren Mann bedroht.«

Die Ärztin pfiff durch die Zähne. »Sie also auch! Hören Sie, Ms Flemming, das ist völliger Unsinn! Gut, Sam ist nicht gerade Prince Charming, sondern der praktische, zupackende Typ. Trotzdem muss er Vorzüge haben, sonst hätte Creeda ihn nicht geheiratet.«

»Mr Pengelly soll eine Geliebte haben«, warf Sandra ein.

Bitter antwortete die Ärztin: »In diesem Punkt könnte Creeda durchaus recht gehabt haben, obwohl ich es weder bestätigen noch dementieren kann. Nach allem, was ich weiß, stand es um die Ehe nicht zum Besten. Was mich nicht wundert. In letzter Zeit war Creeda häufig etwas verwirrt. Ich will es nicht paranoid nennen, es fiel ihr aber zunehmend schwerer, Realität und Fantasie auseinanderzuhalten. Unter diesen Umständen habe ich Verständnis, wenn sich ein Mann anderweitig orientiert. Was nicht heißen soll, dass Sams Verhalten meine Zustimmung findet! In Creedas Ehe habe ich mich nicht eingemischt, das war einzig die Sache meiner Freundin. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, Ms Flemming.« Demonstrativ sah die Ärztin auf ihre Armbanduhr. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen, meine Patienten warten.«

Sandra stand auf. »Nur noch eine Frage, Dr Odgers: Creeda hat gesagt, Sie hätten ihre Blutwerte und Proben von Speisen auf giftige Substanzen getestet, jedoch ohne Befund.«

»Das ist richtig«, bestätigte Jane Odgers, »und da Creeda es Ihnen selbst gesagt hat, darf ich wohl darüber sprechen. Ich habe versucht, meine Freundin zu beruhigen. Ihr klar zu machen, dass die starken Schmerzmittel, die sie regelmäßig einnehmen musste, Nebenwirkungen haben. Zudem litt Creeda an einer Herzschwäche. Nicht lebensbedrohlich, aber sie hätte sich mehr schonen sollen. Die Hände in den Schoß zu legen, fiel Creeda schwer. Kein Wunder, dass ihr Herz …« Die Ärztin brach ab und schob ihren Stuhl energisch nach hinten. »Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen, Ms Flemming. Ich habe mehr gesagt, als ich befugt bin, und gehe davon aus, dass jedes Wort unter uns bleibt.«

»Selbstverständlich, Dr Odgers. Danke für Ihre Offenheit, und mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihrer Freundin.«

»Danke.« Jane Odgers Mundwinkel zuckten, und sie zwinkerte mehrmals. Creedas Tod ging ihr wohl sehr nahe.

»Schicken Sie mir bitte die Rechnung zu«, sagte Sandra.

Jane Odgers winkte ab. »Ich verlange doch kein Geld für ein Gespräch über meine Freundin.«

Bevor Sandra zu ihrem Wagen zurückkehrte, den sie auf dem großen Besucherparkplatz Mill Pool am anderen Ufer des Flusses geparkt hatte, ging sie ein Stück nach East Looe hinein. Im Drogeriemarkt Boots kaufte sie ein paar Toilettenartikel und holte sich bei Fleur einen Becher Kaffee mit einer fluffigen Haube Milchschaum. Gedankenverloren schlenderte sie, den Becher in der einen Hand, in der anderen die Tüte mit den Toilettenartikeln, über die Brücke, die den Fluss überspannte und East und West Looe miteinander verband. Die Brücke war Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut worden. Obwohl es weiter flussaufwärts bereits im Mittelalter eine Brücke gegeben hatte, waren die Orte strikt getrennt gewesen. Wer in East Looe lebte, gab sich nicht mit den Bewohnern des anderen Ufers ab und umgekehrt. Früher war es zu regelrechten Dramen gekommen, wenn sich ein junger Bursche in ein Mädchen aus dem Dorf auf der anderen Seite des Flusses verliebt hatte.

»Die beiden durften nicht zusammenkommen«, hatte Ann-Kathrin erklärt. »Es war wie bei Romeo und Julia, wobei bis heute niemand weiß, warum die Dörfer überhaupt miteinander verfeindet waren.«

Just in diesem Moment kam Sandra die Freundin entgegen. Sie schob einen Buggy.

Als sich die beiden Frauen erkannten, riefen sie lachend wie aus einem Mund: »Was machst du denn hier?«

Ann-Kathrin antwortete zuerst: »In East Looe gibt es einen kleinen Laden für Babykleidung mit ganz entzückenden Sachen. Demelza wächst so schnell, ich könnte ihr jede Woche was Neues kaufen.«

Sandra beugte sich zu dem Kleinkind mit den hellbraunen Locken hinunter. Mit strahlenden, sherryfarbenen Augen sah das fünfzehn Monate alte Mädchen sie an und brabbelte vor sich hin. Zuerst war Sandra über den außergewöhnlichen Namen Demelza irritiert gewesen. Ann-Kathrin hatte ihr dann jedoch erklärt, dass die Protagonistin der Romanserie Poldark, geschrieben von Winston Graham, diesen Namen trug. Die Bücher waren bereits zweimal mit großem Erfolg für das britische Fernsehen verfilmt worden. Gerade die jüngste Produktion hatte in Cornwall einen regelrechten Poldark-Tourismus ausgelöst. Die Besucher kamen nicht nur aus Großbritannien, sondern aus ganz Europa, um die Drehorte zu besichtigen. Seit Wochen lag auf Sandras Nachtisch der erste Band der Buchreihe, bisher war sie über den Anfang nicht hinausgekommen. Abgekürzt wurde Ann-Kathrins und Alans Tochter häufig Demi gerufen.

»Sie versucht, Sandra zu sagen«, bemerkte Ann-Kathrin stolz, »und sie erkennt dich schon genau.«

»Das will ich hoffen, schließlich bin ich ihre Patentante.« Ihr Lächeln schwand. »Ich war in der Surgery.«

»Bist du krank?«, fragte Ann-Kathrin erschrocken. »Warum gehst du ausgerechnet nach Looe und nicht nach Lostwithiel?«

Sandra seufzte. »Keine Sorge, mir geht’s prima. Warum ich hier bin, ist eine längere Geschichte.«

»Ich habe Zeit. Das Geschäft hat bis heute Abend geöffnet.«

Sandra zögerte. Sie hatte bereits mehr Zeit in Looe verbracht, als sie eingeplant hatte, und Eliza versprochen, gegen Mittag wieder zurück zu sein. Im Hotel war es aber ruhig. Heute fielen keine Ab- und Anreisen an, und der Speiseplan für die Woche war mit Monsieur besprochen.

»Gehen wir einen Kaffee trinken«, schlug Sandra vor.

»Noch einen?« Skeptisch sah Ann-Kathrin auf den Becher in Sandras Hand.

»Okay, ich bestelle mir einen Früchtetee«, lenkte Sandra ein. »Ich wollte sowieso mit dir sprechen, bei Gelegenheit auch mit Alan. Das heißt, wenn er gerade etwas Zeit erübrigen kann.«

»Kaum, du kennst doch meinen Mann.« Ann-Kathrin schmunzelte. »Alan vertritt eine nicht unbekannte Person bei deren Scheidung, wobei es um viel Geld geht. Er ist in London und weiß nicht, wie lange sich die Sache hinziehen wird.«

»Wen?«, fragte Sandra prompt.

Ann-Kathrin lachte. »Das ist natürlich streng geheim. Nicht einmal mir gegenüber darf Alan den Namen nennen. Ich weiß nur, dass es um eine Abfindung in Millionenhöhe geht.«

Zu Alan Trengoves Klientel zählten viele vermögende Personen sowie Angehörige des englischen Adels. Seine Arbeit führte ihn regelmäßig nach London und häufig auch ins Ausland. Man könnte ihn durchaus als gut situiert bezeichnen, deswegen arbeitete Alan gelegentlich auch pro bono und hatte schon vielen geholfen, die sich keinen so erfolgreichen Anwalt leisten konnten.

»Schade«, murmelte Sandra. »Ich könnte Alans Rat gut gebrauchen.«

»Ist wieder ein Mord passiert?« Ann-Kathrins grüne Augen wurden kugelrund.

»Durchaus möglich, vielleicht ist es auch nur ein Hirngespinst.«

»Gehen wir ins Loowena Café«, schlug Ann-Kathrin vor. »Dort können wir in Ruhe reden.«

Da Creeda tot war, fühlte sich Sandra nicht länger an ihr Versprechen gebunden, ihre Begegnung zu verschweigen. Eine Stunde später war Ann-Kathrin im Bilde.

»Du musst unbedingt für dich behalten, was die Ärztin ausgeplaudert hat«, ermahnte Sandra die Freundin. »Alan ist natürlich eine Ausnahme.«

»Das versteht sich von selbst. Wie ist Christophers Meinung zu der Sache?«

Sandras Miene verdüsterte sich. »Es interessiert ihn nicht. Er scheint sich gerade mit anderen Problemen herumzuschlagen. Vergangenen Freitag hatten wir eine kleine Meinungsverschiedenheit, seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Oh je, erste Wolken am Horizont der großen Liebe?« Mitfühlend und mit einem aufmunternden Lächeln drückte Ann-Kathrin Sandras Hand. »Das wird schon wieder. Alan und ich sind häufig unterschiedlicher Meinung, finden aber immer einen Kompromiss.«

»Christopher war schon verändert, bevor Creeda starb und ich den Verdacht äußerte, es könnte sich um Mord handeln. Ich habe das Gefühl, er weicht mir aus.« Offen sah Sandra ihre Freundin an. »Wenn Christopher die Beziehung beenden will, so soll er es mir ins Gesicht sagen! Ich habe keine Lust, auf die französische Art verabschiedet zu werden.«

»Das würde Christopher niemals machen!«, rief Ann-Kathrin. »Ich kenne ihn nun auch schon ein paar Jahre. Er ist nicht der Typ, der Probleme ignoriert und ihnen aus dem Weg geht.«

»Das dachte ich auch«, fuhr Sandra fort. »Derzeit frage ich mich aber, ob ich den Mann, den ich liebe, wirklich kenne.«

»Ich wünsche euch, dass sich schnell alles einrenkt. Ihr seid ein so schönes Paar. Was jedoch den Tod dieser Frau betrifft: Gleichgültig, ob es ein Herzanfall oder Mord war – du trägst keine Schuld! Das darfst du nicht einmal denken! Was hättest du unternehmen können, sollte Creedas Mann sie wirklich vergiftet haben? Wobei du gerade gesagt hast, dass die Ärztin in dieser Richtung nichts feststellen konnte.«

»Ich danke dir, Ann-Kathrin.« Sandra ließ offen, für welche Worte sie der Freundin dankte.

Die Angst der alten Dame

Подняться наверх