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SIEBEN

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Gegen Mittag des folgenden Tages trat eine Frau in die Hotelhalle. Sie war mittelgroß, hatte das dunkelblonde Haar am Hinterkopf zu einer Banane aufgesteckt und trug einen dunkelblauen Hosenanzug mit einer taillierten, kurzen Jacke, die sich eng an ihre überschlanke Figur schmiegte.

Sandra sah ihr freundlich entgegen und fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Haben Sie zufällig ein freies Zimmer?«

Sandra nickte. »Sie haben nicht reserviert?«

»Nein, ich musste kurzfristig nach England kommen.«

»Für wie lange benötigen Sie ein Zimmer?«

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Das kann ich im Moment nicht sagen. Ein paar Tage auf jeden Fall.«

Sandra schob ihr das Anmeldeformular zu.

»Bitte, füllen Sie das aus. Ich gebe Ihnen den Anna-Boleyn-Room, oder bevorzugen Sie eine Suite?«

»Anna Boleyn?« Zum ersten Mal lächelte die Frau. »Solange ich in dem Zimmer meinen Kopf nicht verliere, soll es mir recht sein.«

»Alle Räume sind nach historischen Persönlichkeiten aus der Tudorzeit benannt«, erklärte Sandra. »Das Haus wurde nämlich im 16. Jahrhundert erbaut.«

»Eine tolle Idee! Mein Name ist übrigens Marion West.«

»Sandra Flemming. Mir gehört das Higher Barton Romantic Hotel. Darf ich fragen, wie Sie auf das Haus aufmerksam geworden sind?«

»Übers Internet«, antwortete Marion West. »Ich mag richtig alte Häuser, keine unpersönlichen Betonbunker, in denen ein Zimmer dem anderen bis aufs Haar gleicht.«

Sandra wollte nicht neugierig sein, musste aber fragen: »Kommen Sie aus den Staaten?«

»Ich wurde in Cornwall geboren, lebe aber schon lange in Amerika«, antwortete sie lächelnd. »Da übernimmt man automatisch den Akzent.«

Sandra sah zu, wie die attraktive Frau das Anmeldeformular ausfüllte. Bei ihrem Geburtsdatum stutzte Sandra. Marion West gab 1981 an, Sandra hätte sie gut zehn Jahre jünger geschätzt. Sie drückte auf die Klingel. Unverzüglich erschien eines der Hausmädchen.

»Ist Ihr Gepäck draußen im Wagen?«, fragte Sandra.

Marion West nickte. »Es ist der dunkelblaue Ford.«

»Holly wird es hinauftragen und Ihnen das Zimmer zeigen. Oder möchten Sie zuerst eine Tasse Tee oder eine andere Erfrischung?«

»Ein Cappuccino wäre prima«, antwortete Marion West. »Wenn möglich mit einer ordentlichen Haube Milchschaum, aber bitte kein Kakaopulver.«

»So mag ich meinen Kaffee auch am liebsten«, erwiderte Sandra. »Nehmen Sie bitte am Kamin Platz, der Kaffee kommt sofort.«

»Danke, Ms Flemming, das ist sehr freundlich.« Marion West strich sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, hinters Ohr. »Freundlichkeit kann ich im Moment gebrauchen. Heute Morgen hatte ich nämlich eine äußerst unschöne Begegnung. Die halbe Nacht war ich von Heathrow nach Cornwall unterwegs, da meine Maschine erst nach Mitternacht gelandet ist. Ich habe mir einen Mietwagen genommen und geriet auf der M4 vor einer Baustelle prompt in einen meilenlangen Stau. Um drei Uhr! Himmel, haben die Leute nichts anderes zu tun, als mitten in der Nacht die Autobahnen zu verstopfen? An das Fahren auf der linken Seite muss ich mich auch erst wieder gewöhnen. Mein letzter Besuch in England liegt schon länger zurück. Völlig erledigt kam ich also heute Morgen endlich in Cornwall an und werde behandelt wie eine Schwerverbrecherin.« Sie seufzte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich trinke jetzt den Kaffee, dann werde ich mich aufs Ohr hauen und den Rest des Tages schlafen.«

»Im Gegensatz zu den meisten Menschen kann auch ich nach einem guten Kaffee wunderbar schlafen«, sagte Sandra. »Möchten Sie zu einer bestimmten Uhrzeit geweckt werden?«

»Rechtzeitig zum Dinner«, antwortete Marion West. »In diesem Haus kann man doch zu Abend essen, nicht wahr? Nur ungern würde ich mich noch auf die Suche nach einem Restaurant machen müssen.«

»Selbstverständlich, Ms West.«

»Auch vegetarisch?«

»Auch das«, bestätigte Sandra. »Unser Koch erfüllt fast alle Wünsche, Ms West.«

»Ach, bitte, nennen Sie mich Marion. In den Staaten geht es zwanglos zu. Selbst meine Angestellten nennen mich beim Vornamen.«

»Gern, Marion, und ich bin Sandra.«

Sandra bat den Kellner Lucas um den Cappuccino, der gleich darauf serviert wurde. Gern hätte sie sich mit Marion weiter unterhalten, merkte aber, dass die Frau müde und erschöpft war. Ihre Bemerkung, sie habe heute eine unfreundliche Begegnung erlebt, interessierte Sandra. Gäste auszufragen, war jedoch ein absolutes No-Go. Sollte jemand von sich aus über Vorfälle oder Probleme sprechen, war das Personal natürlich ganz Ohr. Es verstand sich von selbst, dass alles, was Sandra und ihre Mitarbeiter von den Gästen erfuhren, die Mauern von Higher Barton nicht verließ.

Die Gelegenheit, ausführlicher mit der sympathischen Marion West zu plaudern, ergab sich nach dem Dinner. Zu diesem war sie sichtlich erholt in einem schicken Kostüm aus kupferrotem Leinen mit einer beigen Bluse erschienen. Sie hatte sich die Haare gewaschen, die offen und gewellt auf den Rücken fielen. Da Sandra auch an diesem Abend von Christopher keine Nachricht erhalten hatte, ob er zu ihr kommen würde – und sie ihrerseits auf keinen Fall nachfragte! –, nutzte Sandra die Zeit, im Restaurant von Tisch zu Tisch zu gehen. Sie fragte die Gäste, ob alles zu ihrer Zufriedenheit war, und bot ihnen an, nach dem Essen noch einen Drink an der Bar zu nehmen.

»Darf ich Sie zu einem Cocktail einladen?«, fragte Marion West. »Nachdem ich den halben Tag verschlafen habe, bin ich jetzt putzmunter. Allein zu trinken, macht jedoch keinen Spaß.«

Sandra stimmte gern zu, ließ sich von Marion aber nicht einladen. Sie setzten sich auf zwei Barhocker, und Marion hängte ihre kleine, rote Handtasche an den Haken unter dem Tresen. Auf der Klappe erkannte Sandra das unauffällige Label eines teuren Designers. Wie Marions Kostüm war auch die Handtasche von unauffälliger Eleganz. Das Higher Barton Romantic Hotel gehörte zwar der gehobenen Preisklasse an, war aber keineswegs mit den Luxushotels an den Küsten zu vergleichen.

»Was gibt’s Neues in unserem beschaulichen Cornwall?«, fragte Marion, nachdem sie einen Schluck von ihrem Gin Tonic genommen hatte. »Hat es sich in den letzten Jahren verändert?«

»Nur unwesentlich«, antwortete Sandra und nippte an ihrem trockenen Weißwein. »Wobei ich selbst aus Schottland komme und erst seit fünf Jahren in Cornwall bin.«

»Daher Ihr Akzent.« Marion zwinkerte ihr zu. »Heute Vormittag habe ich ihn nicht genau einordnen können, aber manchmal höre ich das rollende R in Ihrer Aussprache.«

Sandra lachte laut auf. »Ebenso, wie ich Ihnen angehört habe, dass Sie in den Staaten leben.«

»Wobei ich viel in der Welt unterwegs bin. Tokio, Sydney, Mailand, Rom, Paris.« Marion sah Sandras erstaunten Blick und erklärte: »Mir gehört eine kleine, aber feine Modefirma in New York. Einst war es die Firma meines Schwiegervaters. Mein Mann Jake zeigte nie Interesse an Mode, ich hingegen habe Modedesign studiert und nach unserer Heirat die Zügel in die Hand genommen. Inzwischen ist West-MoDa – das ist die Abkürzung für Mode für die Dame – auf allen fünf Kontinenten vertreten.« Marion sah Sandra erschrocken an und fragte: »Ich hoffe, ich rede nicht zu viel? Jake hat immer gesagt, ich würde mein Gegenüber zutexten und schrecklich langweilen.«

»Mich interessiert es sehr«, versicherte Sandra, was der Wahrheit entsprach. Selten hatte sie jemanden so schnell sympathisch gefunden, außerdem lenkte sie das Gespräch von Christophers Schweigen ab. »Ihr Mann hat Sie nicht nach England begleitet?«

Marion winkte ab. »Wir sind längst geschieden. Jake wollte Kinder, ein kleines Haus auf dem Land mit einer Veranda und einem Schaukelstuhl, um den Sonnenuntergang zu genießen. Für einen Mann klingt das ziemlich kitschig, nicht wahr? Ich mag zwar Kinder, aber nur Hausfrau und Mutter sein, ist nichts für mich. Jake und ich haben uns gütlich getrennt. Nach der Scheidung hat er bald wieder geheiratet, schnell zwei kleine Wests ins Leben gesetzt und lebt jetzt glücklich und zufrieden in einem kleinen Ort in Maine.«

»Die Firma haben Sie übernommen?«

Marion nickte. »Das war meine Abfindung für eine schnelle, unkomplizierte Scheidung. Immerhin habe ich die Firma zu dem gemacht, was sie heute ist.«

»Sind Sie nach England gekommen, um Verwandte zu besuchen?«, fragte Sandra und hoffte, nicht aufdringlich zu wirken.

Marions Miene verdüsterte sich. Sie trank ihr Glas bis zur Neige und gab David, dem Barkeeper, mit einer Geste zu verstehen, er möge ihr einen neuen Gin Tonic mixen.

»Ja, es handelt sich um eine verwandtschaftliche Angelegenheit, leider keine angenehme. Genau genommen ist es so, dass meine letzte Verwandte gestorben ist. Da sie mich in ihrem Testament bedacht hat, musste ich herkommen. Als ich die Nachricht erhielt, war ich sehr überrascht, gleichzeitig auch beschämt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich meine Tante seit Jahren nicht mehr besucht und sie nur selten angerufen habe. Sie war die jüngere Schwester meines Vaters. Er konnte dem Landleben nichts abgewinnen, wurde Architekt, überließ den Besitz seiner Schwester, und wir lebten in London, bis ich zum Studium in die Staaten ging. Da meiner Tante die Farm alles bedeutet hat, haben sich die Geschwister unbürokratisch geeinigt, und jeder war glücklich und zufrieden.«

»Ihre Eltern sind tot?«, fragte Sandra mitfühlend, da Marion gesagt hatte, die Tante sei ihre letzte Verwandte gewesen.

»Es war ein Autounfall.« Ein Schatten fiel über Marions Gesicht. »Sie besuchten mich in New York und wollten dann an die Westküste. Im Yellowstone-Nationalpark ist es passiert. Das ist jetzt sieben Jahre her.«

»Das tut mir sehr leid.« Sandra berührte kurz Marions Arm.

»Bei der Beerdigung habe ich meine Tante das letzte Mal gesehen«, fuhr Marion fort. »Ich ließ meine Eltern nach England überführen und sie hier bestatten. Tantchen hat nie verstanden, warum ich freiwillig in einer riesigen Stadt wie dem Big Apple lebe. Für sie war schon London ein Moloch, den sie nur aufsuchte, wenn es unabdingbar war. Umso überraschter bin ich, dass sie ausgerechnet mich als alleinige Erbin bestimmt hat.«

»Ihre Tante hatte keine Kinder?«, fragte Sandra. »Sie lebte allein?«

Marion schüttelte den Kopf. »Keine Kinder, obwohl sie sich immer welche gewünscht hat, sie war aber verheiratet. Das ist es ja, warum ich heute Morgen derart aufgebracht war. Vom Flughafen bin ich direkt zur Farm gefahren, wo mich mein Onkel nicht ins Haus gelassen hat und drohte, die Polizei zu rufen, wenn ich nicht unverzüglich verschwinde. Er war fuchsteufelswild, was ich unter den gegebenen Umständen verstehe. Er ging davon aus, dass ihm alles zufällt, und jetzt geht er leer aus. Mit krebsrotem Gesicht schrie er, er habe einen Anwalt eingeschaltet, der das Testament anfechten und ihm zu seinem Recht verhelfen wird.«

»In der Tat ist es überraschend, dass Ihre Tante Sie, eine weit entfernt lebende Nichte, und nicht ihren Ehemann bedacht hat«, bemerkte Sandra nachdenklich. »Können Sie sich vorstellen, warum sie es getan hat?«

Marion schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich kann nur vermuten, dass es um die Ehe nicht gut bestellt war. Meine Tante war eine Frau, die genau wusste, was sie wollte, mehr noch, was sie nicht wollte. Und Onkel Sam …« Marion zuckte mit den Schultern. »So richtig sympathisch war er mir nie. Brummig, introvertiert, etwas derb. Da meine Tante ihn zumindest bei ihrer Hochzeit geliebt hat, mischte ich mich in die Beziehung nicht ein. Mir gegenüber hat sie nie ein schlechtes Wort über Onkel Sam geäußert. Nun ja, ich sagte schon, dass wir in den letzten Jahren nur wenig Kontakt hatten.«

»Onkel Sam?« Sandras Nackenhaare stellten sich auf. Sie sagte sich, dass Sam ein weitverbreiteter Name war, und fragte: »Wie hieß Ihre Tante?«

»Creeda«, antwortete Marion. »Creeda Pengelly. Hatte ich ihren Namen bisher nicht erwähnt?«

Die Angst der alten Dame

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